Lernen aus der Geschichte? Überlegungen zum Thüringer „Dammbruch“

Die Vertreter der Bundespolitik waren sich einig: die Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten Thüringens mit Stimmen der AfD sei ein „Dammbruch“. Doch die Wassermetapher ist irreführend: der Aufstieg der AfD zur Macht ist keineswegs unausweichlich. Die standhafte Mitte der bürgerlichen Parteien ist gefordert, genau dies zu verhindern. Die Geschichte der Weimarer Republik kann dabei Orientierung bieten.

 

Als Thomas Kemmerich am 5. Februar 2020 mit den Stimmen von CDU und AfD zum thüringischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, drängten sich die historischen Analogien auf: ausgerechnet in Thüringen, wo fast genau neunzig Jahre zuvor die NSDAP zum ersten Mal Teil einer Landesregierung geworden war, paktierte nun das bürgerliche Lager mit der AfD zwecks Regierungsbildung, wenn auch angeblich ohne direkte Absprache. Von einem „Dammbruch“ war die Rede – eine Figur, die in einer eigenartigen Parallele zu den oft in Flucht- und Migrationsfragen bemühten Wassermetaphern auch hier maximale Bedrohlichkeit zum Ausdruck bringen soll.

Im vorliegenden Kontext mag der Gebrauch dieser Metapher aus Sicht einer kritischen Öffentlichkeit ausnahmsweise gut gemeint sein – irreführend ist sie trotzdem. Neben Bedrohlichkeit impliziert sie nämlich auch die Unausweichlichkeit der weiteren Entwicklungen: wenn ein Damm bricht, dann fließt das Wasser und lässt sich nicht aufhalten. In der historischen Analogie führt dann ein direkter Weg von diesem ersten Sündenfall zur „Machtergreifung“.

Diese tendenziell fatalistische Sichtweise verkennt, dass schon vor neunzig Jahren kein geradliniger Pfad zur Machtergreifung der Nazis führte. Vielmehr handelte es sich um eine Reihe politischer Entscheidungen, bei denen nicht zuletzt die Parteien der Mitte und der nicht-faschistischen Rechten eine unrühmliche Rolle spielten, indem sie die NSDAP Stück für Stück „salonfähig“ machten. Der Name Franz von Papen wurde in diesem Zusammenhang auch in der gegenwärtigen Diskussion aufgerufen: ein Politiker ursprünglich der Zentrumspartei, der ab 1932 als Reichskanzler durch seine Politik der „Einbindung“ der Nationalsozialisten den Weg zu deren „Machtergreifung“ ebnete.

Gewiss, man muss mit historischen Analogien vorsichtig sein: Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie bietet „Orientierungswissen“, wie es der Historiker Hans-Ulrich Wehler nannte. Und die Weimarer Erfahrung bietet uns – bei allen offenkundigen Unterschieden zur heutigen Situation – in der Tat eine solche Orientierung. Denn anders, als es das oft bemühte Narrativ von der „zwischen den Extremen zerriebenen“ Weimarer Republik nahelegt, war es die viel zitierte bürgerliche Mitte, in der das Überleben der Demokratie entschieden wurde.

Hierfür sinnbildlich steht das Verhalten der Parteien am Ende der Weimarer Republik, bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz im März 1933. Zu diesem Zeitpunkt waren die Nazis schon an der Macht und regierten bereits mit Terror. Die KPD war bereits illegalisiert. Die rechtliche Grundlage der totalen NS-Herrschaft hing aber von der Zustimmung der bürgerlichen Parteien ab, um die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit zu bekommen. In der katholischen Zentrumspartei und der liberalen Deutschen Staatspartei gab es jeweils Befürworter und Gegner des Ermächtigungsgesetzes. Unter dem Druck der drohenden NS-Gewalt, aber auch aus Überzeugung, setzten sich die Befürworter schließlich durch. Dem Ermächtigungsgesetz stimmten die Abgeordneten aller an der Abstimmung beteiligten bürgerlichen Parteien, einschließlich des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuß, ausnahmslos zu, sodass der geschlossene Widerstand der SPD auch nichts mehr ausrichten konnte. Der liberale Abgeordnete Reinhold Maier – Anfang der 1950er Jahre FDP-Ministerpräsident von Baden-Württemberg – rechtfertigte diesen Schritt in seiner Rede: „Im Interesse von Volk und Vaterland und in der Erwartung einer gesetzmäßigen Entwicklung werden wir unsere ernsten Bedenken zurückstellen und dem Ermächtigungsgesetz zustimmen.“ Die demokratischen Parteien, mit Ausnahme der SPD, gaben die Weimarer Demokratie am Ende sehenden Auges auf.

So weit sind wir noch lange nicht. Aber auch heute findet in der bürgerlichen Mitte ein Richtungsstreit statt. Die Thüringer CDU und FDP stehen für den Teil ihrer jeweiligen Partei, der nach rechts offen ist und prinzipiell gegen eine perspektivische Zusammenarbeit mit der AfD offenbar nichts einzuwenden hat, wie sie mit ihrer Annahme der Wahl signalisierten. Dem gegenüber stehen die aktuell dominanten Teile der Parteien, die sich klar nach rechts abgrenzen. Annegret Kramp-Karrenbauer, Paul Ziemiak, Markus Söder und schließlich auch Kanzlerin Angela Merkel fanden klare Worte gegen ihre Thüringer Parteifreunde. In der FDP war das Bild bereits weniger eindeutig.

In diesem Kontext einer inneren Auseinandersetzung des bürgerlichen Lagers sind die Ereignisse in Thüringen zu sehen. Die Wahl Kemmerichs mit den Stimmen der AfD ist kein Dammbruch, sondern ein Testballon des nach rechts offenen Teils der bürgerlichen Parteien. Trotz des Scheiterns des Projekts „FDP-Regierung von Höckes Gnaden“ – Kemmerich kündigte bereits am Tag nach der Wahl seinen Rücktritt an – wird der Tabubruch nicht ohne Folgen bleiben. Wie jeder Tabubruch verschiebt er die Grenzen des Sag-, Denk- und Machbaren immer ein bisschen.

Aber genau hier gilt es, sich von der „Dammbruch“-Rhetorik nicht in die Irre führen zu lassen. Die Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten war noch nicht die Abstimmung über ein „Ermächtigungsgesetz 2.0“. Die Auseinandersetzung um den Umgang mit der AfD in der Nähe der Macht hat gerade erst begonnen. Noch ist es keine „Flut“, die den demokratischen Konsens hinwegfegt. Es sind, um bei den Wassermetaphern zu bleiben, Tropfen, zum Teil sehr große Tropfen, die den Stein höhlen. Die standhafte Mitte der bürgerlichen Parteien muss sich dem entgegenstellen und hat dies in der gegenwärtigen Situation auch getan. Sie hat das warnende Weimarer Beispiel einer Demokratie, die von den demokratischen Parteien verraten wird, erst in kleinen Schritten, dann in der totalen Selbstaufgabe des Ermächtigungsgesetzes. Soweit muss es nicht wieder kommen.

Bei aller Aufregung über die Legitimierung der AfD durch eine faktische Kooperation wie in Thüringen sollte man jedoch eines nicht vergessen: der Einfluss dieser Partei zeigt sich nicht nur, wenn sie einen Ministerpräsidenten wählt. Er tritt noch viel wirkungsvoller zu Tage, wenn sich die übrigen Parteien Teile der rechten Agenda implizit zu eigen machen. Flucht- und Migrationspolitik ist dabei ein Feld, in dem dies erfahrungsgemäß schnell passiert. Das haben wir schon in den 1990er Jahren erlebt, als die bundespolitische Antwort auf rechtsradikale Gewalt die faktische Abschaffung des Asylrechts war. Und auch jetzt ist der AfD-Diskurs bereits in die Migrationsdebatten eingesickert. Die extreme Rechte dadurch in Schach zu halten, dass man ihre Forderungen übernimmt, darf keine Strategie der bürgerlichen Mitte sein.

 

*Korrektur, 07.02.2020

 

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