„Man muss Türen öffnen“ – oder zehn Punkte, um Flüchtlinge von europäischen Grenzen fernzuhalten

Zwei Dynamiken, ein Ziel: Mit ihrem Zehn-Punkte-Plan trägt die EU nicht zur Rettung von Menschenleben bei, sondern zum Ausbau und zur Militarisierung der europäischen Grenzsicherung und zur Ablenkung von ihrer Nicht-Rettungs-Politik. Doch Flüchtlinge werden sich weiterhin auf den Weg machen, mehr und nicht weniger – egal, wie hoch der Etat von Triton und anderen EU-Grenzschutzoperationen ist, egal, wie viele Boote an der libyschen Küste beschlagnahmt oder zerstört werden.

 

Wenige Tage nach dem EU-Sondergipfel zur Situation der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer in die EU einzureisen versuchen, erklärt EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker laut Medienberichten, es sei notwendig, mehr Möglichkeiten zu legalen Einwanderung zu schaffen: Europa müsse „Türen öffnen“ und „als reichster Kontinent dazu beitragen, dass Menschen, die von der Not getrieben [sind], sich nicht in Boote setzen und vor unseren Küsten ertrinken“. Ganz anders lesen sich die Beschlüsse, die auf dem Gipfel gefasst wurden.

Zynisch betrachtet bot der Tod von über tausend Menschen auf dem Mittelmeer allein in den letzten Wochen der EU eine einmalige Chance: Im Zuge der allgemeinen Aufregung und des Entsetzens ist es auf dem EU-Sondergipfel zur Lage der Flüchtlinge am und im Mittelmeer gelungen, Maßnahmen zu beschließen, die in einem anderen Moment sicher nicht so schnell und einfach durchzusetzen gewesen wären.

So wurden zum einen Maßnahmen beschlossen, die vorrangig der Grenzsicherung, der weiteren Abschottung und der Kontrolle von Flüchtlingen und Migranten dienen. Zum anderen wurde die öffentliche Aufmerksamkeit gezielt auf „Schlepper“ gelenkt und dabei immer wieder der Unterschied zwischen Menschenhandel und der Hilfe zur unautorisierten Einwanderung verwischt, wie dieses Zitat von Angela Merkel eindrücklich zeigt: „Es geht darum, den Menschenhandel von Schleppern, brutalen Schleppern, zu unterbinden.“ Hier lassen sich also zwei Strategien erkennen, die nicht auf die Rettung von Menschenleben abzielen, sondern auf die Aufrüstung der Festung Europa und ihre Verschleierung.

 

Triton und Poseidon: Schutzgötter der EU-Außengrenzen

Neben anderen verschärften Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen wurde als zentrales Element des EU-Sondergipfels beschlossen, den Etat der Grenzschutzmissionen „Triton“ und „Poseidon“ der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zu erhöhen. Anders als die von der italienischen Marine durchgeführte Mission „Mare Nostrum“ sind „Triton“ und „Poseidon“ jedoch keine Operationen zur Seenotrettung, sondern zum Sichern der EU-Außengrenzen. Ihren Etat zu erhöhen bedeutet nicht, dass mehr europäische Schiffe gezielt nach Schiffbrüchigen suchen, sondern dass die Route über das Mittelmeer besser überwacht, für Flüchtlingsboote riskanter und damit auch teurer wird.

Mittel- und langfristig werden eher mehr Menschen auf dem Meer ihr Leben lassen und werden diejenigen, die an der Dienstleistung Fluchthilfe verdienen, höhere Profite machen. Denn mehr Patrouillenboote und mehr Kontrolle vor Europas Küsten bedeuten nicht automatisch mehr sogenannte Search and Rescue-Einsätze (SAR) zur Rettung von Menschen in Seenot. Vielmehr betonte der Chef von Frontex, Gil Fernández, gleich zu Beginn der Mission, der grundlegende Unterschied zwischen „Triton“ und „Mare Nostrum“ sei der Fokus auf Grenzkontrolle, wenn dieser auch Rettungsaktionen nicht ausschließe. Die Patrouillenboote seien jedoch nicht in der Lage, Hunderte Migranten aufzunehmen. Auch erstreckt sich der Einsatzbereich der Triton-Patrouillen auf italienische Gewässer sowie auf einen Teil der italienischen und maltesischen SAR-Gebiete, nicht jedoch auf Gebiete näher an der libyschen Küste.

Anders ausgedrückt: Patrouillenboote, die im Rahmen von „Triton“ unterwegs sind, haben wie alle Schiffe nach internationalem Seerecht die Pflicht, in Seenot Geratene zu retten. Ausgerüstet für gezielte Rettungseinsätze sind sie jedoch nicht und ihr Einsatzbereich richtet sich nicht danach, wo die meisten Unfälle passieren, sondern wo sie am effektivsten europäische Grenzen schützen können. Besonders deutlich wird die eigentliche Funktion „Tritons“, wenn man bedenkt, dass selbst die 2014 überarbeiteten Richtlinien für Frontex-Patrouillen in der Kritik stehen, weil sie das Nichtzurückweisungsgebot von Schutzbedürftigen zu unterlaufen bzw. rechtliche Grauzonen zu schaffen drohen.

 

Mit dem Militär gegen Schleuser?

Neben der beschriebenen verstärkten Abschreckung und Kontrolle ist das zweite zentrale Element des Zehn-Punkte-Plans die Fokussierung auf sogenannte Schlepper oder Schleuser. Von Anfang an waren die offiziellen Reaktionen der EU sowie der Mitgliedsstaaten geprägt von der Verurteilung der Schleusung von Migranten sowie von Willenserklärungen, Schleusern das Handwerk zu legen. Dabei wird rhetorisch „kriminelles Schleusertum“ zum Kern des Problems gemacht – nicht nur im obigen Zitat von Angela Merkel, sondern auch von vielen anderen, vom Bundesinnenminister über den Bundesaußenminister und den französischen Staatspräsident François Hollande bis zum britischen Premier David Cameron. Nicht die Fluchtursachen und die geschlossenen Grenzen sind nach dieser Logik das Hauptproblem, sondern diejenigen, die, oftmals gegen sehr viel Geld und aus rein kommerziellen Interessen, anderen helfen, diese Grenzen zu überwinden.

Hinzu kommt, dass – wie bei Angela Merkel – begrifflich häufig „Menschenhandel“ mit „Menschenschmuggel“ und „Schleusung“ vermischt wird. Dabei bezeichnet Menschenhandel Situationen, in denen Menschen sexuell ausgebeutet werden oder „zur Sklaverei, Leibeigenschaft, Schuldknechtschaft oder Beschäftigung in misslichen Arbeitsbedingungen“ gezwungen werden (§ 232StGB und § 233StGB).  Menschenschmuggel hingegen beschreibt, was in Deutschland bis zum Fall der Mauer oft „Fluchthilfe“ hieß: Eine Dienstleistung – ob ohne Gegenleistung oder gegen Naturalien, Geld oder anderes – die es Menschen erlaubt, ohne vorherige Autorisierung in ein Land einzureisen, dessen Staatsbürger sie nicht sind.

Hält man Menschenhandel und Menschenschmuggel bewusst oder unbewusst nicht auseinander, delegitimiert man nicht nur die Dienstleistung, die für Menschen auf der Flucht oft eine letzte Chance ist. Man spricht diesen Menschen auch ab, eigenständig denkende und handelnde Akteure zu sein, die sich bewusst in die Hände von Schleusern begeben, um die anders nicht zu überwindenden Grenzen der EU zu überqueren – und mag die angebotene Dienstleistung noch so schäbig und noch so riskant sein.

Ganz der offiziellen Rhetorik entsprechend sieht der Zehn-Punkte-Plan vor, die Boote von Schleusern zu beschlagnahmen und zu zerstören. Dabei will sich die EU an ihrer Operation „ Atalanta“ orientieren, mit der Handelsschiffe vor der Küste Somalias vor Piraterie geschützt werden sollen. „Atalanta“ ist jedoch eine klar militärische Mission: Im Auftrag der EU kreuzen Kriegsschiffe der Mitgliedsstaaten im Golf von Aden und in somalischen Küstengewässern; und auch aus der Luft werden mutmaßliche Piraten bekämpft. Nicht nur, dass Hilfe zur unautorisierten Einreise in die EU damit mit bewaffneten Überfällen auf Handelsschiffe auf eine Stufe gestellt wird. Statt darüber zu diskutieren, dass es die beinahe hermetisch abgeriegelten EU-Außengrenzen sind, die Schutzsuchende zu so verzweifelten Maßnahmen greifen lässt wie der Überfahrt über das Mittelmeer in ungeeigneten Booten, soll der Weg nach Europa mit militärischen Mitteln weiter erschwert werden.

Mit dieser Eskalation der Mittel sinkt die Gefahr für die Flüchtlinge jedoch nicht, sie steigt. Denn Boote werden sich finden, auch wenn die EU das Equipment kommerzieller Schleuser ins Visier nimmt und zerstört. Nur wird der Aufwand für die Schleuser noch größer, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass vor allem größere Organisationen die Dienstleistung Fluchthilfe anbieten können. Zwar gibt es keine verlässlichen Daten zu den Anbietern dieser Dienstleistung, doch liegt es nahe anzunehmen, dass privat organisierte humanitäre, familiäre oder auch kommerzielle Fluchthilfe sehr viel weniger über die finanziellen und technischen Mittel, das Knowhow und die Vernetzung verfügen, die bei steigendem polizeilichem und militärischem Druck nötig sind, als große, auch kriminelle Schleuserorganisationen. Deren Profite steigen mit der Alternativlosigkeit ihres Angebots – und die nun beschlossenen Maßnahmen der EU tragen dazu bei.

Schlimmer noch: Sollte tatsächlich ein Großteil des Fluchtgeschäfts in den Händen mafiöser Organisationen sein und sollten die Berichte und Vermutungen stimmen, dass sich in Libyen – derzeit wichtigstes, weil am wenigsten geschlossenes Transitland für Mittelmeer-Flüchtlinge – Schleuserstrukturen mit Menschenhändlern und libyschen Milizen vermischen, dann treibt die EU genau die Vermischung von Menschenschmuggel und Menschenhandel voran, die sie einerseits begrifflich bereits voraussetzt und andererseits zu bekämpfen vorgibt.

Mare nostrum“ als klarer Rettungsoperation wurde unterstellt, Anreize für kommerzielle Schlepper zu schaffen – doch sind es gerade Aufrüstungs- und Kontrollprogramme wie der jetzt beschlossene Zehn-Punkte-Plan, die die organisierten, kommerziellen Schleuser zur letzten Chance der Flüchtlinge und ihr Geschäft umso profitabler machen.

Kurz: Mit ihrem Plan wird die EU nicht für mehr Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit auf dem Meer sorgen. Und mit ihrer Konzentration auf Schleuser wird sie die Situation ver- und nicht entschärfen.

Um es mit den Worten von Ousmane Diarra von der malischen Flüchtlingsorganisation Association Malienne des Expulsés (AME) zu sagen:

„Es werden immer mehr Flüchtlinge kommen, denn die geopolitische Situation in den Herkunftsländern zwingt die Menschen zur Flucht. Der 10-Punkte-Plan der EU wird daran nichts ändern. Zweifellos werden diese Maßnahmen zum großen Teil die Situation für die Flüchtlinge verschlimmern“.

 

 

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