Die gesellschaftspolitische Debatte über Flucht und Migration ist von einem Versicherheitlichungsdiskurs geprägt, der Zuwanderung als Sicherheitsrisiko konstruiert, restriktive Maßnahmen zum Schutz der nationalen Sicherheit begünstigt und dabei häufig neue Unsicherheiten für Geflüchtete erzeugt. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Beitrag die These vertreten, dass Sicherheit nicht als vermeintlich objektives und rein faktisches Konzept verstanden werden sollte, sondern vielmehr in ihrer Alltäglichkeit, Subjektivität und Multidimensionalität zu begreifen ist. Die empirische Argumentationsgrundlage bilden Sicherheitsdeutungen und -praktiken von Geflüchteten sowie von Polizist:innen.
Im Zusammenhang mit Migration und Flucht lässt sich seit längerem in Deutschland und Europa eine autoritäre Wende beobachten, deren Hauptargumentation darin besteht, Zuwanderung zu einem grundlegenden Sicherheitsproblem zu erklären, wodurch soziale Probleme (wie etwa Wohnungsnot, wachsende soziale Ungleichheit oder patriarchale Gewalt) von einer sicherheitsorientierten Argumentation überlagert werden. Folglich werden Zuwanderung im Allgemeinen und migrantisierte Personen im Speziellen kriminalisiert und als gefährlich konstruiert. Die Bundesregierung genauso wie Regierende anderer europäischer Staaten samt der Exekutive greifen zu sogenannten Sicherheitsmaßnahmen, die dem Schutz der Staatsbürger:innen dienen sollen, jedoch neue Unsicherheiten für Migrant:innen innerhalb und außerhalb der Staaten schaffen. Darunter fallen restriktive Asylgesetze (wie die Kürzung von Sozialleistungen für ausreisepflichtige Asylsuchende) sowie die Ausweitung und Intensivierung der Grenzsicherungen (wie es sich etwa seit September 2024 an den deutschen Staatsgrenzen zuträgt). Dabei ignorieren realpolitische Pläne den mehrfach erbrachten Nachweis, dass Migration nicht steuerbar ist.
Im Diskurs herausgestellte Ängste der Staatsbürger:innen bilden häufig die Legitimationsgrundlage für sicherheitspolitische Interventionen. Aber auch die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird von Polizist:innen sowie Politiker:innen angeführt, um die Sicherheitslage zu bewerten und sicherheitspolitische Interventionen zu rechtfertigen. Die Polizei erzeugt die Daten der PKS durch ihre eigene Ermittlungs- und Dokumentationspraxis. Die Statistik bildet daher nicht die ‚faktische Wirklichkeit‘ ab, sondern ist das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses – wird in öffentlichen Debatten jedoch oft als objektiv ausgegeben.
Sicherheit als subjektives, diskursives und veränderbares Phänomen
Würde Sicherheit in den gegenwärtigen sicherheitspolitischen Debatten rund um Migration in seiner Alltäglichkeit und Perspektivenabhängigkeit berücksichtigt werden, würde die Debatte weitaus komplexer ausfallen. Denn Sicherheit bedeutet für alle etwas anderes – je nach Position, Erfahrung oder Lebenslage –, wie die Critical Security Studies sowie die Kritische Kriminologie zeigen, an die dieser Beitrag anschließt. Des Weiteren betrachten beide Forschungsausrichtungen Sicherheit und Unsicherheit als diskursive Phänomene, die immer in Verbindung mit gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen stehen und aufgrund dessen umstritten sind.
Ziel dieses Beitrages ist es, dem im sicherheitspolitischen Diskurs rund um Fluchtmigration vorherrschenden, auf vermeintliche Objektivität abstellenden Sicherheitsbegriff einen alternativen Ansatz gegenüberzustellen. Sicherheit wird dabei als multidimensionales Konzept verstanden, wobei das Verhältnis zwischen tatsächlicher (nie vollständig erfassbarer), verobjektivierter und subjektiv empfundener Sicherheit ins Zentrum gerückt wird. Anhand einer Untersuchung von Sicherheitsdeutungen und -praktiken von Geflüchteten sowie Polizist:innen wird diese Argumentation empirisch gestützt. Die Datengrundlage basiert auf Beobachtungen in Geflüchtetenunterkünften und bei Polizeieinsätzen, auf Interviews mit Geflüchteten und Polizist:innen sowie auf der Analyse polizeilicher Dokumente (Polizeimeldungen, Polizeilicher Kriminalstatistiken sowie Social Media Beiträgen zweier Polizeidirektionen aus dem Zeitraum 2014 bis 2019).
Die Forschung zielt darauf ab, die Wahrnehmungen der Akteur:innen vor dem Hintergrund von (gesellschaftlichen) Versicherheitlichungstendenzen einzuordnen.
Konstruierte Objektivität: Oszillieren in polizeilichen Sicherheitsdeutungen
Aus der empirischen Untersuchung geht hervor, dass Polizist:innen ständig zwischen (vermeintlich) objektiven und subjektiven Analysen von Sicherheitssituationen changieren: Wenn sie etwa die Sorgen und Ängste der Bürger:innen ‚ernst nehmen‘ oder ihre individuellen Einschätzungen der Sicherheitslage teilen, greifen sie auf ein subjektives Sicherheitsverständnis zurück – und handeln entsprechend, etwa durch erhöhte Präsenz oder Kontrollmaßnahmen in bestimmten Stadtteilen. Bestimmen sie aber in öffentlichen Stellungnahmen als Expert:innen die Sicherheitslage anhand der PKS, ist eine (vermeintlich) objektive Einschätzung von Sicherheit leitend. Bei der PKS handelt es sich um einen Tätigkeitsnachweis der Polizei. Das bedeutet: Sie zeigt, welche Straftaten der Polizei bekannt wurden und wie sie darauf reagiert hat – nicht aber das tatsächliche Ausmaß von Kriminalität in der Gesellschaft. So schildert beispielsweise ein im Rahmen des Forschungsprojektes interviewter Polizist, dass er „objektiv […] Osnabrück schon als sichere Stadt bezeichnen“ würde und macht dies an „den Fallzahlen“ fest. „Aber subjektiv ist das natürlich von Stadtteil zu Stadtteil total unterschiedlich, was man für einen Eindruck hat“, fährt er fort (Werner Clemens, Name anonymisiert, September 2021).
Die Polizei stellt auf die (vermeintlich) objektive Sicherheit ab, um ihre Kontrollen und ihr weiteres Handeln zu rechtfertigen, konstruiert diese ‚Objektivität‘ aber mit, indem sie die Datengrundlage für die PKS selbst hervorbringt. Folglich beeinflussen subjektive Sicherheitsdeutungen von Polizist:innen polizeiliches Handeln, das in der PKS sodann statistisch verobjektiviert wird – wodurch diese Deutungen gesellschaftlich rückgespiegelt und reproduziert werden. Erst durch eine Fokussierung auf die Alltäglichkeit von Sicherheitsdeutungen und -praktiken kann dieser Kreislauf der Verobjektivierung von Sicherheit durch polizeiliche Arbeit aufgezeigt werden.
Ansätze für ein differenzierteres Sicherheitsverständnis im öffentlichen Diskurs
Im Alltag begegnen sich Polizist:innen und Geflüchtete, deren Aufeinandertreffen unterschiedlich ausfallen und erlebt werden kann. Die Auswertung der im Rahmen des Forschungsprojektes geführten Interviews mit Geflüchteten und Polizist:innen offenbart, dass die Begegnungen miteinander und Wahrnehmungen voneinander sowie das Vertrauen und Misstrauen zueinander prägend für die jeweiligen Sicherheitsdeutungen sind. Aus den Forschungsergebnissen geht hervor: Mehrsprachigkeit und nicht-problemorientierte Begegnungen ermöglichen ein ungezwungenes Kennenlernen, das Polizist:innen und Geflüchteten hilft, einander nicht als Sicherheitsproblem zu sehen – und insbesondere bei Polizist:innen Empathie gegenüber Geflüchteten entwickeln lässt. Dies zeigt sich etwa, wenn Polizist:innen in Integrationskursen die Rolle der Polizei vorstellen und dabei in einen unverbindlichen Austausch mit Geflüchteten treten. Durch Begegnungen können Geflüchtete ferner ein Verständnis über das Funktionieren der Polizei bekommen und damit auch ein gewisses Vertrauen zu dieser entwickeln. In Interviews zeigen sich auch viele misstrauische Beziehungsmuster: Polizist:innen und Geflüchtete berichten davon, dass das Gegenüber teils als bedrohlich wahrgenommen, gemieden oder häufiger kontrolliert wird. Unsicherheitsgefühle gegenüber der Polizei beruhen bei vielen Geflüchteten oft auf realen Erfahrungen – etwa übermäßiger Kontrolle. In manchen Fällen können diese Ängste auch auf negative Erlebnisse mit Sicherheitsorganen im Herkunftsland zurückgehen. Begegnungen bieten somit eine Möglichkeit, Vorurteile abzubauen und beeinflussen zugleich die subjektive Wahrnehmung von Sicherheit.
Darüber hinaus wird aus den erbrachten Erhebungen deutlich, dass Polizist:innen Geflüchtete nicht per se als Bedrohung wahrnehmen. So sahen sich einzelne Polizist:innen und Polizeidirektionen in den Jahren 2014ff. dazu aufgerufen, den Bedrohungsdiskurs zu entdramatisieren und darzulegen, dass Geflüchtete nicht krimineller als andere sind. Indem sie ihre Deutungshoheit nutzten, konnten Polizist:innen dem aufgeheizten öffentlichen Diskurs über Zuwanderung entgegenwirken und belegen, dass die kriminalisierende Darstellung Geflüchteter weder durch ihre Statistiken noch subjektive Erfahrungen gestützt wurde In einem Zeitungsinterview konstatierte der Leiter der Kriminalpolizei Braunschweig Ulf Küch 2016 etwa: „Bei den Flüchtlingen, die nach Deutschland eingereist sind, ist der Anteil von Kriminellen prozentual nicht höher als der Anteil von Kriminellen in der deutschen Bevölkerung“. Die Polizei kann auf diese Weise politische Diskurse durch realitätsnahe Einschätzungen positiv mitgestalten.
Sicherheitsdeutungen durch Begegnungen und kollektive Praktiken stärken
Einerseits zeigen die Forschungsergebnisse, dass positive Begegnungen zwischen Polizist:innen und Geflüchteten eine Möglichkeit darstellen, um das direkte Verhältnis zueinander zu gestalten, sozialen Zusammenhalt zu schaffen und Einfluss auf jeweilige Sicherheitsdeutungen nehmen. Zudem können diese Begegnungen indirekt dazu dienen, Unsicherheiten in der Gesamtbevölkerung abzubauen und verzerrten Wahrnehmungen ‚der Anderen‘ im Diskurs entgegenzuwirken.
Andererseits können die im Rahmen des Forschungsprojektes untersuchten Sicherheitspraktiken von Geflüchteten, die auf Erfahrungen während der Flucht beruhen und auf die Stärkung subjektiver Sicherheit abzielen, auch für die Mehrheitsgesellschaft wegweisend sein – etwa um Brüche und Instabilitäten im System sichtbar zu machen oder um Strategien im Umgang mit Unsicherheit zu entwickeln. Dazu gehören Praktiken wie füreinander Sorge zu tragen oder Selbstwirksamkeit zu stärken – trotz aller Ungewissheiten. Die empirischen Erkenntnisse verdeutlichen, dass Geflüchtete ihre Vorstellungen von Sicherheit vor dem Hintergrund transnationaler Erfahrungen, Beziehungen und Lebensrealitäten entwickeln. Zudem weist die Analyse darauf hin, dass sie sich in einer ständigen Gleichzeitigkeit von Unsicherheitssituationen begreifen: Während Geflüchtete einerseits um ihren Aufenthaltsstatus in Deutschland bangen, sind sie andererseits in Sorge um die Sicherheit ihrer Angehörigen im Herkunfts- oder in einem Transitstaat. Amir Jamaahs Schilderungen unterstreichen dies exemplarisch: „I’m thinking about my country. And when I think about there, I was living there, and I know what feeling you have when you’re living in Afghanistan under Taliban’s control. And here, I have the same problem. What will happen to my friends? What will happen to my family? This safe place is not really important for me” (Amir Jamaah, Name anonymisiert, November 2021).
Auch in Deutschland sind Geflüchtete mit Unsicherheiten konfrontiert: Ihr Aufenthalt in Deutschland ist für viele durch lange Wartezeiten und Ungewissheiten geprägt, wodurch psychischer Stress und Sorgen, insbesondere vor potenziellen Abschiebungen, ausgelöst werden. Einige berichten, dass sie die Limbo-Situation des Asylverfahrens nur durch Zusammenhalt überstehen – etwa in diasporischen Communities, mit Vertrauenspersonen oder im familiären Kreis. Folglich schaffen sich Geflüchtete, die von der Schutzfunktion des Staates ausgeschlossen werden oder sich exkludiert sehen, durch andere Körper wie transnationale Netzwerke oder migrantische Gemeinschaften Sicherheit.
Aus den Aussagen und Praktiken der Geflüchteten wird deutlich, dass Sicherheit auch durch das füreinander Sorgen und eine Etablierung transnationaler Netzwerke hervorgebracht werden kann.
Die Multidimensionalität von Sicherheit in ihrer Alltäglichkeit verstehen
Die vorgestellte empirische Untersuchung von Sicherheitsdeutungen und -praktiken von Geflüchteten und Polizist:innen beleuchtet die problematische Konstruktion eines auf vermeintliche Objektivität abstellenden Sicherheitsbegriffs, bietet Perspektiven für eine differenzierte Einschätzung von Sicherheitslagen und skizziert Möglichkeiten, wie Sicherheitswahrnehmungen trotz tatsächlicher und verobjektivierter Unsicherheiten gestärkt werden können.
Dadurch wird deutlich, dass die reine Fokussierung auf staatliche Sicherheitsstrukturen – wie sie sich in der gegenwärtigen Debatte um Flucht und Migration zuträgt – zu einer Engführung des Sicherheitskonzeptes führt, exkludierend wirkt und gesellschaftliche Passivität begünstigt. Viele der sicherheitspolitischen Versprechen basieren auf vermeintlich objektiven Sicherheitseinschätzungen und blenden deren soziale Konstruktion aus. Dabei sind neben Polizist:innen auch Politiker:innen an der Konstruktion von Sicherheit beteiligt und tragen zur Entstehung neuer Unsicherheiten bei – insbesondere für marginalisierte Gruppen wie Geflüchtete.
Ein alternatives Sicherheitsverständnis – inspiriert von den Praktiken Geflüchteter – begreift Sicherheit als etwas Konstruiertes und aktiv Gestaltbares. Es setzt nicht allein auf staatliche Akteur:innen, sondern auf kollektive Verantwortung, das Füreinander Sorgen und den Selbst- und Fremdschutz. Gerade Menschen, die wenig staatlichen Schutz erfahren, entwickeln solche Praktiken. Ziel ist nicht der vollständige Rückzug staatlicher Sicherheitsstrukturen, sondern die Ergänzung durch gemeinschaftliche Ansätze, bei denen Sicherheit im Alltag gemeinsam ausgehandelt und gestaltet wird – durch Solidarität, Verantwortung und gegenseitige Unterstützung.