Vor zehn Jahren galt die ungarische Asylpolitik als Ausnahme von den europäischen Standards. Ungarn nutzte Ausnahmeregelungen und Notfallmaßnahmen, um Migrant:innen von seinem Territorium fernzuhalten und auf Nachbarstaaten umzuleiten. Heute hat sich der europäische Mainstream der ungarischen Politik angenähert. Eine Reihe von Krisen sowie die russische Invasion der Ukraine haben dazu geführt, dass sicherheitspolitische Überlegungen die Asylpolitik dominieren. Mehrere Mitgliedstaaten setzen verstärkt auf Notfallmaßnahmen – auch das überarbeitete EU-Asylrecht räumt ihnen eine größere Bedeutung ein.
Ein einprägsames Bild aus dem Sommer 2015: Am 4. September machten sich rund 2.000 Flüchtlinge auf der ungarischen Autobahn M1 auf den Weg nach Österreich, zumeist mit dem Ziel, Deutschland zu erreichen und dort ein neues Leben zu beginnen. In jenem „langen Sommer“ war Ungarn eines der wichtigsten Transitländer Europas. Die EU-Kommission plante zunächst, Ungarn in ihr „Notfall-Umsiedlungsprogramm“ für Flüchtlinge innerhalb der EU aufzunehmen. Damit wäre Ungarn neben Italien und Griechenland eines von nur drei Ländern gewesen, aus denen Flüchtlinge geordnet in andere EU-Staaten umgesiedelt worden wären. Der ungarische Premierminister Viktor Orbán lehnte jedoch einen gesamteuropäischen Ansatz ab und setzte stattdessen auf nationale Abschreckungs- und Notfallmaßnahmen. Ein 175 Kilometer langer Grenzzaun aus Stacheldraht und anderen Barrieren wurde im Sommer und Herbst 2015 errichtet, und an der ungarisch-serbischen Grenze entstanden spezielle „Transitzonen“, in denen Migrant:innen auf unbestimmte Zeit interniert wurden.
Konflikt mit der EU
Zwischen der Europäischen Kommission und einzelnen Mitgliedstaaten, auf der einen Seite, und der ungarischen Regierung auf der anderen entbrannte ein intensiver politischer und juristischer Konflikt. Die Kommission leitete zahlreiche Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) ein, um das Land zur Einhaltung der EU-Asylregeln zu zwingen. Die Vorwürfe der Kommission betrafen Punkte wie die übermäßig lange Haftdauer in den ungarischen „Transitzonen“ und die Schwierigkeit für Neuankommende, Zugang zu einem Asylverfahren zu erhalten. Die EU-Institution stellte auch die rechtliche Vereinbarkeit eines ungarischen Gesetzes in Frage, das die (zivilgesellschaftliche) Unterstützung von Asylsuchenden unter Strafe stellte. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament versuchte sie, politischen Druck aufzubauen, um Ungarn zu einer Kurskorrektur zu bewegen und das europäische Asylsystem zu stärken. Als Ungarn um finanzielle Unterstützung für den Grenzzaun und die Transitzentren bat, lehnte der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dies im Jahr 2017 mit dem Argument ab, dass Solidarität keine Einbahnstraße sei und Ungarn die EU-Regeln einzuhalten habe.
Juristisch unterlag Ungarn in vielen Verfahren. Im Juni 2024 wurde das Land zu einer Strafe von 200 Millionen Euro verurteilt, weil es gegen EU-Asylrecht verstoßen habe. Laut Europäischem Gerichtshof hat Ungarn „bewusst“ das EU-Asylrecht nicht angewandt und frühere Urteile ignoriert, was einen „beispiellosen und äußerst schwerwiegenden Verstoß gegen das EU-Recht“ darstellt. Politisch hielt die ungarische Regierung jedoch an ihrer restriktiven Asylpolitik fest: 2024 wurden laut Eurostat in Ungarn nur 25 Asylanträge registriert. Die Asylpolitik ist nicht der einzige Bereich, in dem Ungarn einen politischen Konflikt mit EU-Akteur:innen führt. Das Europäische Parlament, zum Beispiel, sieht weiterhin eine „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn“. Der Grund sei die Verletzung zentraler rechtsstaatlicher Prinzipien in diesem Land.
Neue Krisen, neue Ausnahmen
Ungarn ist längst nicht mehr das einzige EU-Land, das auf nationale Alleingänge statt auf eine gemeinsame europäische Politik setzt. Nach einem Messerangriff in Aschaffenburg im Januar 2025 forderte CDU-Chef Friedrich Merz eine restriktivere deutsche Asylpolitik, inklusive permanenter Grenzkontrollen zu allen Nachbarländern und Zurückweisung potenzieller Asylsuchender bereits bei der Einreise. Zivilgesellschaftliche Organisationen bezeichneten diesen Vorschlag als „brandgefährlich“ und warfen der CDU vor, faktisch zum Bruch des europäischen Rechts aufzurufen. Kritik wurde auch von Expert:innen wie dem Sachverständigenrat für Integration und Migration ausgeübt. Ein Alleingang Deutschlands gefährde die EU-Asylpolitik und den Zusammenhalt der EU.
Die wohl entscheidendste Krise, die zur Normalisierung nationaler Notfallmaßnahmen innerhalb der EU beitragen hat, ist jedoch die „Krise“ an der Grenze zwischen der EU und Belarus. Seit dem Sommer 2021 lädt der belarussische Diktator Lukaschenko gezielt Migrant:innen nach Belarus ein und erleichtert mit Hilfe belarussischer Sicherheitskräfte das Überschreiten der Grenze zur EU. Lukaschenko antwortete so auf die Sanktionen, die die EU nach der Fälschung der belarussischen Wahlen im Jahr 2020 verhängt hatte.
Die EU verstand diese Aktion als den Versuch Belarus, politischen Druck auf die EU anhand der Migrationsfrage aufzubauen. Polen und die baltischen Staaten reagierten mit drastischen Notfallmaßnahmen wie Grenzschließungen, der Aussetzung des Asylrechts und systematischen Zurückweisungen. Die Europäische Kommission zeigte sich verständnisvoll und verzichtete auf rechtliche Schritte gegen diese Praktiken. Dieser Ansatz der Kommission stand im Gegensatz zu der Ansicht vieler zivilgesellschaftlicher Akteur:innen, die die Maßnahmen Polens als eine Verletzung von europäischem und internationalem Recht und als eine Legalisierung von Push-Backs ansehen.
Innerhalb der EU wurden die schon angelaufenen Verhandlungen zu einer Reform des EU-Asylwesens zusehends von Sicherheitsfragen und der Sorge um eine mögliche „Instrumentalisierung“ der Migrationsfragen dominiert. Auch sollten die nationalen Notfallmaßnahmen osteuropäischer Staaten in Einklang mit europäischem Recht gebracht werden.
Die neue EU-Asylpolitik
Die Debatte über den Umgang mit „Notfällen“ gehörte zu den umstrittensten Aspekten der Verhandlungen zum europäischen Asyl- und Migrationspakt. Kein Wunder – es ging um nichts Geringeres als die Frage, ob bestehendes EU-Recht in Krisenzeiten und Ausnahmesituationen nicht eingehalten werden muss. Die Politik von Belarus – und wenig später die russische Invasion der Ukraine – führten zu einem tiefgreifenden Wandel in der Wahrnehmung der EU hinsichtlich ihres geopolitischen Umfelds.
Ein sicherheits- und kontrollorientiertes Verständnis von Asyl gewann zunehmend an Bedeutung. Interviews mit VerhandlerInnen zeigen, dass die Kommission „unter massivem Druck stand, Ausnahmen vom Grundsatz der Nichtzurückweisung gesetzlich zu verankern“. Diese Ausnahmen und andere umstrittene Praktiken an den EU-Außengrenzen wären wahrscheinlich ein geringeres rechtliches Problem, falls Notfallmaßnahmen eine gewichtigere Rolle im EU-Recht einnehmen.
Die Verordnung zur Bewältigung von „Krisensituationen und Situationen höherer Gewalt im Bereich Migration und Asyl“ wurde im Mai 2024 verabschiedet und legt nun fest, wie Mitgliedstaaten auf Notlagen reagieren können. Solche Notlagen können ein Massenzustrom von Migrant:innen, Instrumentalisierungssituationen oder „ungewöhnliche und vorhersehbare Ereignisse“ sein. Nach Genehmigung durch die EU können betroffene Staaten Ausnahmen von den einschlägigen Vorschriften über das Asylverfahren anwenden und Solidaritätsmaßnahmen von den anderen EU-Mitgliedstaaten einfordern.
Die Regeln der Verordnung zu Krisensituationen und höherer Gewalt sind äußerst umstritten. Gleiches gilt für weitere Aspekte des Pakts, darunter erweiterte Möglichkeiten zur Inhaftierung von Asylsuchenden sowie die zunehmende Verlagerung von Asylverfahren und Gewährung von Schutz in Drittstaaten. Kurz bevor das Europäische Parlament über das Gesetzespaket abstimmte, forderte eine Gruppe von 161 zivilgesellschaftlichen Organisationen die Abgeordneten auf, gegen den Pakt zu stimmen. Er hätte „verheerende Auswirkungen auf das Recht auf internationalen Schutz“ in der EU. Das Parlament folgte dieser Aufforderung jedoch nicht und verabschiedete den Pakt gemeinsam mit dem Rat der EU im Mai 2024. Er wird in der Mitte des Jahres 2026 in Kraft treten.
Die Zukunft der EU-Asylpolitik
Sicherheitserwägungen haben die EU-Asylpolitik grundlegend verändert. Nationale Notfallmaßnahmen werden beibehalten und zusehends verstetigt. Das neue EU-Asyl- und Migrationspakt tritt nicht gegen diese Entwicklung an, sondern erleichtert sie potenziell sogar.
Die neuen Handlungsspielräume, die sich die Mitgliedstaaten herausnehmen, zeigen sich bereits: Im Februar 2025 verabschiedete das polnische Parlament einen Gesetzesentwurf, um das Asylrecht außer Kraft setzen zu können, falls Migration als politisches Druckmittel gegen das Land eingesetzt wird. Angesichts der aggressiven Außenpolitik Russlands und Belarus ist davon auszugehen, dass Polen diese Regelungen langfristig plant und das Asylrecht an seiner Außengrenze zu diesen Ländern faktisch außer Kraft setzt. Weitere Beispiele sind nationale Notfallmaßnahmen der baltischen Staaten oder ein finnisches Gesetz zum Kampf gegen die Instrumentalisierung von Migration. Auch hat sich die neue österreichische Koalition aus Volkspartei, Sozialdemokraten und Neos auf eine restriktive nationale Asylpolitik, die alle Möglichkeiten des EU-Rechts ausnützt, verständigt. Das Regierungsübereinkommen vom Februar 2025 will die „Umsetzung und Weiterentwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems mit dem Ziel, die Asylanträge im Inland auf null zu reduzieren und bei einem Anstieg der Asylanträge die Notfallklausel auszulösen.“ Wie dieses Ziel mit dem Recht auf einen Asylantrag in Einklang zu bringen ist und welche Art von „Anstieg“ der Asylantragszahlen als Notfall gilt, ist nicht näher definiert.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Was einst im Sommer 2015 als Ausnahme galt, wird mehr und mehr zur Regel. Die ungarische Politik, die 2015 als asylpolitisches Extrem angesehen wurde, ist im Jahr 2025 nicht mehr weit vom europäischen Standard entfernt.