Recht reicht nicht

Von der Unterscheidung zwischen ‚verdienenden‘ und ‚nicht-verdienenden‘ Migrant*innen

Das Argument für die rechtlich-legitimierte Einreise von Ortskräften öffnet die Falle, zwischen verdienenden und nicht-verdienenden Migrant*innen zu unterscheiden. Insbesondere riskiert es, die Bevorteilung und Privilegierung jener Menschen zu re-inskribieren, die näher an den militärischen, intervenierenden Besatzungskräften und an ‚whiteness‘ situiert sind. Es gilt somit zu reflektieren, inwiefern eine Argumentation, die sich auf Ortskräfte konzentriert, Logiken des Grenzregimes reproduziert. 

 

Vor kurzem erschien ein Beitrag von Mojib Rahman Atal, Stefan Salomon und mir auf dem Verfassungsblog und dem FluchtforschungsBlog, der rechtlich argumentiert und legitimiert, warum letztlich alle schutzbedürftigen Afghan*innen die Möglichkeit erhalten sollten, auf regulärem und sicherem Weg nach Deutschland zu fliehen. Auf Grundlage jener Analyse entwickle ich in diesem Beitrag Perspektiven weiter und diskutiere die Risiken einer rechtsimmanenten Argumentation für die Einreise schutzbedürftiger Afghan*innen nach Deutschland.

In diesem Beitrag wird dargestellt, inwiefern eine rechtliche Argumentation für reguläre Einreisemöglichkeiten riskiert, exklusive Logiken und Zwänge des europäischen Migrations- und Grenzregimes zu reproduzieren. Durch die Reproduktion dieser Logiken setzt die argumentative Mobilisierung und Zitierung von Rechten Grenzen in der Umsetzung von Bewegungsfreiheit für alle schutzbedürftigen Afghan*innen. Ziel der Analyse ist, die kolonialistisch-rassistischen Charakteristika des Rechtes anzuerkennen, sowie auf über die Horizonte des Rechtes weit hinausreichende Forderungen von Seiten der afghanischen Zivilbevölkerung hinzuweisen.

 

Die Hierarchisierung von Menschenleben

In dem obengenannten Beitrag wurde das Recht taktisch mobilisiert, um in die deutsch-sprachige öffentliche Debatte zu intervenieren. Exemplarisch wurde ein rechtliches Argument für die Einreise von afghanischen Ortskräften dargelegt. Obwohl darauf bestanden wurde, dass reguläre Einreisemöglichkeiten für letztlich alle schutzbedürftigen Afghan*innen geschaffen werden müssen, hat die Argumentation zu einem gewissen Anteil den deutschen liberalen Diskurs repliziert und gespiegelt. Dieser beschränkt sich derzeit vor allem auf die Evakuierung von Ortskräften und ihren Familienmitgliedern. Es ist jedoch hochproblematisch, das Recht auf Einreise auf Ortskräfte zu reduzieren oder nur sie in der Argumentation zu berücksichtigen.

Das Argument für die rechtlich-legitimierte Einreise von Ortskräften öffnet die Falle, zwischen verdienenden und nicht-verdienenden Migrant*innen zu unterscheiden. Insbesondere riskiert es, die Bevorteilung und Privilegierung jener Menschen zu re-inskribieren, die näher an den militärischen, intervenierenden Besatzungskräften und an ‚whiteness‘ situiert sind. Sie gelten als ‚loyale‘ Menschen. Sie haben sich während der Besatzungszeit gegenüber der Bundeswehr und den ‚Entwicklungsorganisationen‘ klar kooperationsfähig gezeigt. Natürlich ist es das Mindeste, diesen Menschen die Einreise nach Deutschland zu bewilligen und mit allen Mitteln faktisch zu ermöglichen. Natürlich ist jede einzelne Person, die sich vor den Taliban retten kann, eine gute Nachricht.

Aber nicht nur diese Personen ‚verdienen‘ es, regulär und sicher nach Deutschland zu fliegen. Nicht nur ihre Leben gilt es zu beachten. Auch ethnischen und von den Taliban verfolgten Minderheiten, Menschen ohne stabile Unterkunft, mehrfach binnenvertriebenen Menschen, Menschen ohne Bildung, verwaisten Kindern, Frauen, alten und kranken Menschen, und abgeschobenen Menschen gilt es, die Einreise zu ermöglichen. Menschen mit Behinderungen, die nach 40 Jahren Krieg 80 % der erwachsenen Bevölkerung Afghanistans ausmachen, müssen die Möglichkeit bekommen, das Land zu verlassen. Politische Entscheidungsträger*innen und Kommentator*innen tendieren dazu, diese Personengruppen ohne mit der Wimper zu zucken aus den Berücksichtigungen auszuschließen. Allen schutzbedürftigen Menschen, also auch jenen, die für die Bürger*innen Deutschlands und anderer Staaten, die an dem NATO-Einsatz beteiligt waren, nicht direkt lesbar sind, muss die sichere Ausreise jedoch ermöglicht werden. Dieser Anspruch gilt unabhängig von einer vorherigen Kooperation mit der Bundeswehr oder den ‚Entwicklungsorganisationen‘.

Es gilt zu reflektieren, inwiefern eine Argumentation, die sich auf Ortskräfte konzentriert, Logiken des Grenzregimes reproduziert. Das Grenzregime differenziert und hierarchisiert Menschenleben danach, wer als wertvoll genug gilt, gerettet zu werden und wen niemand in seinen großen militärisch-strategischen Kalkülen respektieren zu müssen glaubt. Mit ihrem Fokus auf Ortskräfte rücken Politiker*innen und Kommentator*innen einige wenige Menschen ins Scheinwerferlicht als jene, die es verdienen, sich in der Welt zu Hause zu fühlen und in Frieden zu befinden. Auch bei ihnen stellt sich die Einsicht für die deutschen Entscheidungsträger*innen und Kommentator*innen letztlich jedoch schwer und nach mehreren Überlegungen ein: immerhin werden sie bewusst ‚Ortskräfte‘ genannt, semantisch wird also klar, dass sie in der Wahrnehmung nach Afghanistan gehören. Es folgt ein großes Abwägen von Pros und Kontras unter Berücksichtigung rechtlicher Prinzipien wie Verhältnismäßigkeit. Die Ausbeutbarkeit von Menschen aufgrund ihrer Bildung und der bereits erfolgte Beweis ihrer Loyalität und ihres Kooperationswillens ermöglichen den liberalen Teilen der Gesellschaft, sich kolonialistisch-paternalistische ‚Fürsorgepflichten‘ für sie auszudenken. Die anderen schaffen es nicht einmal in die Imagination der Mehrheitsgesellschaft als Menschen, welchen es gleichermaßen ermöglicht werden sollte, das Land zu verlassen.

 

Die Risiken einer rechtsimmanenten Kritik

Der ursprüngliche Beitrag hat bewusst unterstrichen, dass das Argument für die Einreise von Ortskräften auszuweiten ist. Gleichzeitig zeigt der Beitrag, wie das Recht und eine rechtsimmanente Kritik in die Versuchung führen, exkludierende Logiken zu reproduzieren und Hindernisse in den Weg stellt, sich diesen Logiken zu entziehen. Schließlich ist es dem Recht eigen, mit Vorbehalten, die als Pragmatismus dargestellt werden, zwischen jenen zu unterscheiden, die ‚gerettet‘ werden können und jenen, die ausgeschlossen und angeblich ‚geopfert‘ werden müssten. Koloniale Mechanismen des Ein-, und Ausschlusses rassifizierter Menschen materialisieren sich auch in Bezug zu Menschenrechten in Europa.

Über die Gewalt des Unterscheidens zwischen jenen, die es verdienen, einzureisen und jenen, die nicht berücksichtigt werden, sind rechtliche Argumente für die reguläre Einreise von Afghan*innen darüber hinaus zu ergänzen und zu hinterfragen, da sie die tatsächlich-realen Bedingungen vor Ort nicht ausreichend anerkennen. Fragen, die gerade auch dringend gestellt werden müssen, sind: Wie sollen Menschen aus Regionen außerhalb von Kabul den Flughafen erreichen? Wie sollen Menschen innerhalb von Kabul den Flughafen erreichen? Laut den Taliban wird Afghan*innen ab dem 31. August verwehrt, das Land zu verlassen. Hinzu kommt, dass muslimisch-gelesene Menschen in den letzten Wochen bereits damit umgehen mussten, von der US-Armee Schweinefleisch am Kabuler Flughafen als Nahrung vor die Füße geworfen zu bekommen und sogar erschossen zu werden.

Solche Szenen sind ein Vorgeschmack darauf, welche Einstellungen und welche Behandlungen Menschen erwartet, die in den globalen Norden fliehen. Die Frage, die gestellt werden müsste, ist also: Wie kann es Menschen im globalen Norden gelingen, ihren Rassismus abzulegen und nicht täglich und strukturell rassifizierte Menschen Prekarisierung, Gewalt und Stigmatisierung auszusetzen?

Ein Recht auf Einreise genügt Afghan*innen nicht, wenn der Rassismus in Nationalstaaten des globalen Nordens weiter das Leben, die Körper, und die Psyche der Menschen begleitet, die es aus dem Land rausschaffen. Griechenland baut in Antizipation afghanischer Geflüchteter eine Mauer an der Grenze zur Türkei aus und kündigt an, schutzsuchende Afghan*innen an der Grenze zurückzuweisen. Das Recht auf Asyl soll wie schon 2020 ausgesetzt werden. Die Türkei wiederum baut eine Mauer zum Iran auf. Es gibt einen kurzen Skandal, für die Betroffenen ändert sich jedoch nichts. Die Gewalt und Barbarei, die im öffentlichen Diskurs geographisch auf Afghanistan beschränkt bleiben, setzen sich somit auf anderen Ebenen fort, sobald es Menschen gelingt, das Land zu verlassen und nach Europa zu fliehen. Die Barbarei begegnet Geflüchteten innerhalb Europas auf struktureller und alltäglicher Ebene wieder. Sie kristallisiert und konzentriert sich in Detention Camps, Duldung-Status, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, Dublin-Verfahren, Verweigerungen von Arbeitsrechten, Abschiebebescheiden, und einer Kultur des Misstrauens während der Asylverfahren.

 

Reparationen und Verantwortungsübernahme

Afghan*innen benötigen weder Hilfe noch Fürsorglichkeit oder Mitleid von den Staaten im globalen Norden. Die NATO-Kräfte sind Afghan*innen Rechenschaft schuldig. Dafür, dass sie Afghanistan den Taliban überlassen haben und dessen Bevölkerung und die Diaspora re-traumatisieren mit den Szenen, die sich in dem Land abspielen. Was Afghan*innen benötigen sind die Untersuchung von und Verantwortungsübernahme für alle Kriegsverbrechen in Afghanistan von Seiten der militärischen Besatzungskräfte.

Zudem stehen Reparationen und Verantwortungsübernahme für jede einzelne Abschiebung aus, die in den letzten vierzig Jahren ausgeführt wurde. Afghan*innen haben es geschafft, entgegen allen Mechanismen der Irregularisierung und Illegalisierung das Land zu verlassen, nur um sich jetzt wieder mit einer Realität konfrontiert und in ihr nahezu gefangen zu sehen, in der die Taliban an die Macht gelangen sind. Deutschland und andere EU-Staaten stehen in der Schuld jeder einzelnen dieser abgeschobenen Person.

Afghan*innen, wie andere Geflüchtete auch, fordern durch die Einreise nach Europa ihr Recht auf ein sicheres Zuhause und die Umverteilung von Ressourcen ein, die auf Kosten der Enteignung von Rohstoffen und der Arbeit von Menschen des globalen Südens angehäuft wurden. Umverteilung beginnt damit, dass fliehenden Menschen der Zugang nach Europa nicht verwehrt sondern ermöglicht wird. In der Diaspora und in Afghanistan herrschen eine unfassbare Wut darüber, dass die Verantwortung für die Evakuierung ihrer Familienmitglieder, Bekannten und Freunde vorwiegend Einzelpersonen überlassen wurde.

 

Eine radikale Veränderung von Grenz- und Migrationspolitiken

Gerade im akademischen Kontext ist es von Relevanz, auch auf die Grenzen des Rechtes selbst und seine exkludierenden Logiken und Zwänge zu verweisen. Szenen wie Menschen im August an Flugzeugen hingen um zu fliehen und aus der Luft in den Tod fielen, erinnern uns bitter an das Migrations- und Grenzregime, das im globalen Norden aufgebaut wurde. In diesem Regime werden nicht nur das Recht und die Grenzpolizei gegen Geflüchtete mobilisiert, sondern auch alle natürlichen Elemente: Das Meer, in dem Menschen ertrinken, das Land, auf dem Geflüchtete zurückgewiesen und erschossen werden, und nun die Luft, von der Geflüchtete im wahrsten Sinne des Wortes fallen. Würden Flucht und Fluchthilfe nicht de facto auch durch die Zitierung des Rechtes kriminalisiert und verunmöglicht werden, müssten sich Menschen nicht verzweifelt an ein Flugzeug binden. Die Szenen am Kabuler Flughafen sind somit auch mit Grenz- und Migrationspolitiken der EU verbunden, sowie restriktiven Auslegungen von legalen Rechten innerhalb der Mitgliedstaaten, die es radikal und kompromisslos zu verändern gilt.

 

Dieser Beitrag ist gleichzeitig im Verfassungsblog erschienen.

 

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