Seit dem Antritt der Bundesregierung unter Kanzler Merz werden Asylsuchende an deutschen Grenzen zurückgewiesen. Der Beitrag zeigt anhand der Weisung des Bundesinnenministers, dass immer noch eine intensive Auseinandersetzung über die Geschichte des Sommers der Migration 2015 stattfindet. Dies hat auch Auswirkungen auf Europa.
In den Jahren vor 2015 war die Welt noch in Ordnung. Auf diese simple wie falsche Formel lässt sich die rechte Geschichtsschreibung zum Sommer der Migration zusammenfassen. „Wir stehen vor dem Scherbenhaufen einer seit zehn Jahren fehlgeleiteten Asyl- und Einwanderungspolitik“, ließ der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, nach dem Messerangriff in Aschaffenburg Ende Januar 2025 verlauten. Der Vorsitzende der CSU und bayerischer Ministerpräsident, Markus Söder, lobte die migrationspolitischen Vereinbarungen des Koalitionsvertrags: „Das ist tatsächlich die Migrationswende. Es ist das Zurück vor 2015, was Recht und Ordnung betrifft, ganz eindeutig“, erklärte er Anfang April in der ARD.
Wer diesem Narrativ folgt, kommt immer wieder bei den gleichen Behauptungen heraus. Bundeskanzlerin habe Anfang September 2015 die deutschen Grenzen geöffnet. Das deutsche Asylgesetz (ASylG) hätte auf Grund der Drittstaatenklausel die Zurückweisung aller Schutzsuchenden an den deutschen Grenzen erlaubt, ja sogar gefordert. Und der eindeutige Vorrang von Europarecht vor deutschem Recht ließe sich durch ein Berufen auf Art. 72 AEUV hintergehen. Diese Argumente, die im Bundestagswahlkampf immer wieder vorgebracht wurden, sind auch der Versuch, eine rechte Deutung über die Ereignisse des September 2015 durchzusetzen.
Zurückweisungen ab Tag Eins
Diese rechte Deutung lässt sich auch in dem nur wenige Zeilen langen Brief des frisch vereidigten Bundesinnenminister Alexander Dobrindt an den Präsidenten der Bundespolizei, Dr. Dieter Romann vom 7. Mai 2025 lesen. Der Brief ist ein sorgsam konstruiertes Stück rechter Geschichtsschreibung zum Sommer der Migration. Dies macht schon der erste Satz klar:
„[H]iermit nehme ich die mündliche Weisung vom 13. September 2015 gegenüber dem Präsidenten des Bundespolizeipräsidiums zurück.“
Offen bleibt, um welche und wessen mündliche Weisung es sich handelt, die nun zurückgenommen wurde. Bundesinnenminister und Bundespolizeipräsident scheinen zu wissen, was gemeint ist. Es bleibt: der gewollte Eindruck, dass hier nach fast zehn Jahren etwas Undokumentiertes, etwas Anrüchiges, etwas Illegitimes, endlich beendet wird.
Was ist nun diese mündliche Weisung? In der rechten Geschichtsschreibung über den Sommer der Migration spielt die Anweisung vom 13. September 2015 eine zentrale Rolle. Der Journalist Robin Alexander beginnt seinen “Report aus dem Inneren der Macht” (2018) mit ihr:
„Am 13. September 2015 wurde ein bereits fertiger Befehl, Asylbewerber an der deutschen Grenze abzuweisen, in letzter Minute geändert. Aus der Ausnahme einer Grenzöffnung für einige tausend Flüchtlinge wurde ein sechsmonatiger Ausnahmezustand, Hunderttausende kamen nach Deutschland“ (6)
Und detaillierter an späterer Stelle:
„Nach diesem Telefonat [mit SPD-Vorsitzendem Sigmar Gabriel; bk], dem letzten, das er aus der Sitzung heraus führt, ordnet de Maizière an, dass der Einsatzbefehl umgeschrieben wird. Romann [Dr. Dieter Romann, Präsident der Bundespolizei; bk] muss genau jene fünf Wörter streichen, auf die es ankam. Statt Zurückweisungen ‚auch im Falle eines Asylgesuches‘ werden die Polizeidirektionen jetzt angewiesen, dass ‚Drittstaatsangehörigen ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente und mit Vorbringen eines Asylbegehrens die Einreise zu gestatten ist‘. Es wird zwar kontrolliert, aber jeder, der Asyl sagt, wird hineingelassen – egal ob er aus einem sicheren Drittstaat oder einem sicheren Herkunftsland kommt.“ (18)
Für Robin Alexander ist diese Weisung der eigentliche Skandal. Der schon lange fertige Einsatzbefehl, der die ausnahmslose Zurückweisung aller Schutzsuchenden an den Grenzen Deutschlands vorsah, wurde kurzerhand, als Ergebnis ominöser Telefonate auf höchster Ebene, entschärft.
Nun bleibt es offen, ob es sich bei der von Alexander beschriebenen Weisung tatsächlich um die mündliche Weisung, auf die sich Dobrindt bezieht, handelt. Nicht einmal das Bundesinnenministerium (BMI) kann diese Frage klären: Als Antwort auf eine Anfrage nach Informationsfreiheitsgesetz (IFG), die Auskunft über den Inhalt, sowie wer wem diese Weisung erteilt habe beantragt, ließ es am 10. Juni 2025 mitteilen, dass „die von Ihnen erbetenen Informationen im BMI nicht vorliegen“ (IFG-Kommunikation bei FragDenStaat). Das BMI verweist u.a. auf eine schriftliche Anfrage der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch („Wie lautet der genaue Wortlaut der […] mündlich mitgeteilten Weisung, dass an der bundesdeutschen Grenze Asylbewerber nicht zurückgewiesen werden sollen, und wie wurde diese dokumentiert“, BT-Drucksache 19/2610, Frage 34, Seite 27), zu der die Bundesregierung erklärt, dass das Ergebnis der Weisung eben der geänderte Einsatzbefehl sei, und dass die Mitteilung „nicht aufgezeichnet und nicht transkribiert“ wurde. Es wird auch auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke verwiesen. Auch diese fragt bezüglich eines Berichts der Bild-Zeitung sowie einem Artikel in Die Welt (online nicht verfügbar) nach dem Inhalt der mündlichen Weisung, erhält dazu aber keine konkrete Antwort (BT-Drucksache 18/7311). Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Autorenschaft des Briefes beim Präsidenten der Bundespolizei, Dr. Dieter Romann liegt. Dies legt zumindest ein FAZ-Artikel zu seiner Rolle in der Umsetzung der Politik der Zurückweisungen nahe.
Zusammenfassend lässt sich bezüglich der mündlichen Weisung also festhalten, dass sie als Skandalon nur in der Darstellung Robin Alexanders sowie in Berichten der Medien Die Welt und Bild (Robin Alexander arbeitete zu der Zeit für Die Welt) existiert. Das Bundesinnenministerium hat (nach eigenen Darstellungen) weder Aufzeichnung noch Kenntnis einer solchen Weisung. Und doch wird sie – öffentlichkeitswirksam – am ersten Tag nach seiner Vereidigung vom Bundesinnenminister zurückgenommen.
Dies erscheint vollends als Symbolpolitik, die vor allem einer rechten Erzählung über den 13. September 2015 folgt. Der nächste Satz im Schreiben thematisiert nun den zweiten Topos dieser Erzählung, die implizit den Vorrang europäischen Rechts vor deutschem Recht in Abrede stellt – einen expliziten Bezug auf vorrangig geltendes EU-Recht gibt es in dem Brief nicht:
„Die Anwendung der Regelung des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG führt dazu, dass Schutzsuchende [sic!] bei der Einreise aus einem sicheren Mitgliedstaat die Einreise verweigert werden kann [„kann“” unterstrichen; bk].“
Auch dieser Satz ist vorsichtig konstruiert. Abgesehen von dem Kasus-Fehler ist er korrekt: Käme § 18 Abs. 2 Nr. 1 des Asylgesetzes zur Anwendung – Wortlaut: „Dem Ausländer ist die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat (§ 26a) einreist,“ –, wäre die Folge eine Einreiseverweigerung trotz Asylantrag. Kurioserweise weist hier aber nicht der Bundesinnenminister den Leiter einer nachgeordneten Behörde an, den entsprechenden Passus des Asylgesetzes anzuwenden. Vielmehr sinniert Dobrindt im Konjunktiv, was eine Anwendung zur Folge habe. Es folgt ein Satz über vulnerable Gruppen, und dann der eigentliche Inhalt des Schreibens:
„Ich bitte die Bundespolizei, ab sofort im Sinne dieses Gesetzes zu verfahren.“
Erneut: Keine Weisung, sondern lediglich eine Bitte. Keine Aufforderung zu bestimmten Handlungen, sondern die Bitte, sich in den Handlungen am Sinne des Gesetzes zu orientieren.
Der Brief ist also in erster Linie ein propagandistischer Trick, nicht zufälligerweise wurde er auf bild.de (Schlagzeile: »Historisch: Diese Unterschrift beendet Merkels Grenz-Politik! Asyl-Stopp ab SOFORT«) ein Tag nach der Vereidigung Dobrindts veröffentlicht. Er soll damit die markige Ansage des Kanzlerkandidaten Merz (»Ich werde im Fall meiner Wahl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland am ersten Tag meiner Amtszeit das Bundesinnenministerium im Wege der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers anweisen, die deutschen Staatsgrenzen zu allen unseren Nachbarn dauerhaft zu kontrollieren und ausnahmslos alle Versuche der illegalen Einreise zurückzuweisen«, 23.1.2025) umsetzen, auch wenn dies de facto nicht Inhalt des Briefes ist. Denn dieser schreibt in erster Linie die Geschichte des Septembers 2015 um.
September 2015
In den Memoiren des damaligen Bundesinnenministers de Maizière (2019) liest sich diese Episode dezidiert anders:
„Ich hatte am 13. September 2015 die Entscheidung zu treffen, in welcher Form die Grenzkontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze durchgeführt werden sollten. […] Es gab mitnichten eine Entscheidung zu einer Grenzöffnung durch die Bundeskanzlerin. Denn die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland zu unseren Nachbarstaaten sind offen. Was offen ist, kann nicht geöffnet werden.“ (75)
Dann beschreibt er die Sitzung, die auch Gegenstand Robin Alexanders Schilderung ist:
„In einer Runde mit den Polizeiführern und meinen Mitarbeitern haben wir an diesem Sonntag mehrere Stunden im Lagezentrum des Innenministeriums diskutiert, durchaus auch streitig diskutiert. Die Führung der Bundespolizei wollte alle Flüchtlinge zurückweisen, vielleicht bis auf Familien mit Kindern oder unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.“ (76)
Und weiter:
„Wir erörterten die Rechtslage. Sie war nicht eindeutig. Auch die Juristen in meinem Haus vertraten unterschiedliche Auffassungen. Die einen sagten, das deutsche Recht verlange geradezu eine solche Zurückweisung. Überwiegend bestand aber die andere Auffassung, dass das europäische Recht einfache Zurückweisungen nach deutschem Recht verbiete und dem deutschen Recht, sogar deutschem Verfassungsrecht vorgehe. Es müsse an der Grenze mindestens ein Verfahren geben mit dem Ziel zu prüfen, welcher Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Und die meisten Flüchtlinge waren zu diesem Zeitpunkt nicht registriert in Griechenland oder sonstwo. Dieser rechtlichen Meinung bin ich gefolgt.“ (76f.)
Die Ausführungen de Maizières, wie es 2015 zur Abänderung des Einsatzbefehls kam, beschreiben nicht eine kurzfristige, willkürliche Abänderung des Einsatzbefehls, sondern stellen diese als Ergebnis einer juristischen Prüfung dar, wie man sie sich von der Exekutive wünscht. Auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel berichtet in ihren Memoiren (2024) von dieser Entscheidung:
„Am Sonntag, dem 13. September, informierte Innenminister Thomas de Maizière […] darüber, dass Deutschland Minuten zuvor vorübergehend wieder Grenzkontrollen an unseren Binnengrenzen eingeführt hatte, insbesondere nach Österreich. Den Tag über hatte er diese Entscheidung mit seinen Fachleuten im Bundesinnenministerium vorbereitet, mit mir und der Bundesregierung sowie den Innenministern der Bundesländer abgestimmt, auch Österreich hatte er konsultiert. Ich war einverstanden gewesen unter der Maßgabe, dass es keine Zurückweisungen von Asylsuchenden geben würde, damit jeder, der zu uns kam, wie in den Dublin-Regelungen vorgesehen, weiter ein rechtsstaatliches Asylverfahren durchlaufen konnte.“ (522)
Selbstverständlich muss kritisch hinterfragt werden, ob hier nicht Geschichtsschreibung in anderer Hinsicht vorgenommen wird.
Bemerkenswert ist jedoch, wie sehr sich die juristischen Ausführungen zu den Fragen, ob Europarecht Zurückweisungen zulasse und Vorrang vor nationalem Recht habe, mit einem Beschluss einer Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts (VG 6 L 191/25 u. a.) decken, die am 2. Juni 2025 just diese Fragen zu entscheiden hatte. In ihrem Beschluss bezüglich drei somalischer Asylsuchender, die von der Bundespolizei nach Polen zurückgeschoben wurden, kam die Kammer zu der gleichen Einschätzung wie die Bundesregierung im Jahr 2015. Die Kammer erklärte damit die Zurückweisungspraxis an den deutschen Grenzen de facto für unrechtmäßig.
Die Berliner Kammer entschied vor allem deswegen gegen die Bundesregierung, weil diese kein überzeugendes Argument vorbringen konnte, warum die offensichtlich schon seit 2015 bekannte Rechtslage sich geändert habe. Dies, und die vorsichtig-vage Konstruktion des Briefes legen nahe, dass die Politik der Migrationswende der Merz-Regierung vor allem Symbolpolitik ist – die jedoch mit einem hohen Aufwand, wie etwa der dauerhaften Mobilisierung der Bundespolizei, inszeniert wird.
Krise Schengens
Doch war die Welt in den Jahren vor 2015 tatsächlich noch in Ordnung? Als mein Kollege Marc Speer und ich den Begriff des langen Sommers der Migration im September 2015 anlässlich des March of Hope von Budapest nach Österreich prägten, ging es uns darum, das Epochale zu markieren: zu diesem Zeitpunkt hatten schon viele Hunderttausende Schutzsuchende aus dem brutalen syrischen Bürgerkrieg Zugang zu Europa gefunden. Wir begriffen das Ereignis des Sommers der Migration als möglichen Schlusspunkt einer schon lange währenden Krise der europäischen Migrations- und Grenzpolitik, die sich schon seit dem Jahr 2009 entfaltet hatte.
Gemeinsam mit anderen haben wir diese Krise Schengens lange vor dem Sommer der Migration an anderer Stelle ausführlich dokumentiert und analysiert. Wir begriffen sie als Zusammenspiel verschiedener Entwicklungen, die zur fortschreitenden Dysfunktionalität des europäischen Grenz- und Migrationsregimes beitrugen. An erster Stelle ist dabei die zunehmende Verrechtlichung der europäischen Grenzen zu nennen, dass also internationale Gerichte wie zuerst der EGMR, und nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auch der EuGH dazu übergingen, Migrationspolitiken grundrechtlich einzuhegen. Die gegenwärtige, rechte Justizkritik ist als Reaktion auf diese Verrechtlichungstendenz, die den Spielraum von Migrationspolitik einschränkt, zu deuten. Die restriktive Ausgestaltung von Migrationspolitiken in Europa dringt immer weiter in grundrechtssensible Bereiche vor, und wird daher immer wieder von Gerichten gestoppt. Die Forderung nach einem Primat der Politik vor dem Recht, die Skandalisierung vermeintlich aktivistischer Richter, etc. ist der Versuch, die Universalität der Grundrechte zu brechen.
Ein zweiter Moment der Krise Schengens wurde durch das Dublin-System ausgelöst. Auch wenn die Präambel der Verordnung die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten beschwört, so erwies sich jedoch schon in den 2000er Jahren, dass die Kriterien zur Bestimmung des für ein Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaat ein starkes Ungleichgewicht in der EU bewirkten. Auch dies gilt bis heute, wenngleich sich mittlerweile Deutschland als benachteiligt empfindet. Die deutsche Politik der Zurückweisungen ist auch der Versuch, das Dublin-System überhaupt wieder durchzusetzen. Denn auch die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hat die Grundlogik Dublins nicht angefasst, weswegen der Streit um die Verteilung von Schutzsuchenden in der EU weitergehen wird.
Eine dritte Ursache für die Krise Schengens ist darin zu finden, dass die Welt nach 2008 unruhiger, kriegerischer, gewaltvoller geworden war. Dies hat sich direkt auf die globalen Bewegungen der Fluchtmigration ausgewirkt. Für das Jahr 2025 gilt, dass sich die geopolitische Lage, aber auch die klimapolitische Krise immens zugespitzt haben. Krieg in kontinentalem Ausmaß ist leider ein nicht unwahrscheinliches Szenario der näheren Zukunft. Die rechte Skandalisierung des Rechts auf Asyl und Schutz mit dem Ziel, es abzuschaffen, muss daher auch als Vorwärtsprojektion auf die nahe Zukunft verstanden werden.
Im Sommer der Migration kulminierten diese Dynamiken und verdichteten sich zu einer Krise der europäischen Migrationspolitik. Was heute in Vergessenheit geraten ist: Die damalige Europäische Kommission, die ebenfalls die sich entwickelnde Krise Schengens seit 2011 verfolgte, hatte damals Vorschläge in Richtung einer tiefgreifenden Reform der europäischen Migrations-, Asyl- und Grenzpolitik entwickelt, die die strukturellen Ursachen der Krise Schengens adressierten. Der initiale Hotspot-Ansatz der Kommission sah keine grenznahen Inhaftierungsanstalten vor, sondern eine Infrastruktur des Ankommens und der Registrierung, während der Relocation-Ansatz einen Einstieg in eine Umverteilung von Schutzsuchenden in Europa – und damit ein Ende des Dublin-Systems – vorsah. Doch diese Vorschläge scheiterten am Widerstand der nationalen Innenminister:innen und Mitgliedstaaten wie Polen und Ungarn, weswegen auch heute noch die gleichen Streits um Zurückweisung, Grenzschließung, Inhaftierung und ‚sichere‘ Außengrenzen wie schon vor zehn Jahren ausgetragen werden. In diesem Sinne ist der Sommer der Migration auch eine verpasste Chance, die Krise Schengens zu beenden und ein nachhaltiges und grundrechtskonformes Migrationsregime zu etablieren, in dem Migration und Sicherheit nicht beständig gegeneinander ausgespielt werden.
Solidarisches Europa?
Der Sommer der Migration hat sich auch deswegen zum Hassobjekt und Gegenstand der Geschichtsklitterung entwickelt, weil er die apokalyptischen Phantasien, die die Rechte im Bezug auf die Migration immer wieder aufrufen, Lügen gestraft hat. Aus diesem Grund wird die Geschichte des Sommers noch heute umgeschrieben, die gleichen rechtlichen Argumente erneut aufgeführt und die Zeit vor 2015 verklärt.
Im Sommer der Migration blitzte nicht nur ein ungewohntes Moment der Selbstermächtigung schutzsuchender Personen auf. Durch ihre Bewegungen nach Europa, und durch Europa hindurch, schien auch die Möglichkeit auf, Europa auf einer Basis der Solidarität zu denken. Nicht nur als die Möglichkeit einer Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten: Vielmehr waren vor allem Momente einer Solidarität von unten beobachtbar, die sich ebenso als europäisch qualifizieren lassen. Eine Solidarität in Bezug auf eine europäische Herausforderung und verbunden durch die Bewegungen der Migration durch Europa hindurch.
Hätten sich diese Formen der Solidarität in eine andere europäische Migrationspolitik übersetzen lassen? Und hätte eine solche Politik zu einer Neu-Konstituierung des europäischen Projekts nicht als Summe seiner Mitgliedstaaten, sondern seiner Bürger:innen – der gegenwärtigen wie auch der kommenden – führen können? Auch wenn es sich bei diesen Überlegungen nur um Spekulationen handeln kann – anlässlich des globalen Rechtsrucks, den wir seit 2015 beobachten müssen, gilt es, die Spekulation, das Nachdenken darüber, was auch sein könnte, wieder zu beleben. Dies beinhaltet auch, die rechte Geschichtsschreibung über den Sommer der Migration zurückzuweisen. Ihre Dekonstruktion ist ein notwendiger, erster Schritt.
Zitiervorschlag:
Kasparek, Bernd. Rechtsbruch an der Grenze: Der Kampf um die Deutungshoheit über den Sommer der Migration. FluchtforschungsBlog, 3. September 2025, https://fluchtforschung.net/10-jahre-nach-dem-langen-sommer-der-migration-was-bleibt-das-erbe-der-asylkrise-von-2015-in-der-deutschen-und-europaeischen-asylpolitik/, DOI: 10.59350/fluchtforschung.15306.