Ausgrenzung, kumulative Diskriminierung und ein weitverbreiteter Antiziganismus bestimmen die Lebensumstände der Roma* im Westlichen Balkan (Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien). Im Kosovo ist ihr Leben zudem noch heute von den Nachwirkungen der Gewalt gegen sie in der Nachkriegszeit bestimmt, als 1999/2000 über 100.000 vertrieben und die Siedlungen mehrere Dutzend zerstört worden sind.
Roma aus dem Westlichen Balkan suchen vornehmlich in Westeuropa Zuflucht, aber auch in Griechenland oder Italien. Zudem fanden zehntausende vertriebene Roma aus dem Kosovo Zuflucht in den Nachbarstaaten, v.a. in Serbien. Die deutsche Regierung reagiert vornehmlich mit Asylrechtsverschärfungen und Zwangsabschiebungen, obwohl wie der Fall Kosovo demonstriert, die meisten der Abgeschobenen gar nicht im Kosovo ankommen bzw. diesen wieder verlassen. Außerdem wird indirekt Druck auf die Heimatländer ausgeübt, die Ausreise von Roma zu verhindern. So lange aber die Ursachen für das Verlassen ihrer Heimatländer – Antiziganismus, Ausgrenzung und kumulative Diskriminierung – nicht bekämpft werden, sind Roma weiterhin gezwungen, diese zu verlassen.
Roma im Westlichen Balkan – Beispiel Kosovo
Kosovo steht stellvertretend für den weitverbreiteten Antiziganismus, die Ausgrenzung und Diskriminierung der Roma auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt wie auch im Schulsystem und für das Desinteresse der Politik diese Phänomene zu bekämpfen.
Kosovo ist jedoch insofern ein Sonderfall, dass die Gewalt gegen Roma und ihre massenhafte Vertreibung in der Nachkriegszeit, v.a. in den Jahren 1999 und 2000 noch heute Wirkung zeigt. Damals wurden mehrere dutzende Siedlungen von Roma zerstört, ohne dass sie wieder aufgebaut worden wären. Mehr als 100.000 Roma wurden vertrieben, viele wurden umgebracht, wobei Täter oder Verantwortliche bis heute nicht gerichtlich zur Rechenschaft gezogen wurden. Zudem wurde die überwiegende Mehrheit der Roma entlassen, die in staatlichen und semi-staatlichen Strukturen beschäftigt waren.
In den vergangenen Jahren wurden unterschiedliche Gesetze und Strategien erlassen, um Roma im Kosovo zu schützen und zu involvieren. Hierzu zählt u.a. Gesetz zur Raumplanung, auf das ich später eingehen werde. Diese Unternehmungen fanden jedoch wenig bis keine Wirkungen, da sie unzureichend oder gar nicht umgesetzt wurde. Aber auch das (bewusste) Nicht-Umsetzen dieser Gesetze und Strategien tragen zur Diskriminierung bei. Darüber hinaus werden Roma bis heute pauschal als Kollaborateure des serbischen Systems bezichtigt, womit die Vertreibung in der Nachkriegszeit und die Ausgrenzung gerechtfertigt werden. Die Verbrechen an Roma werden allerdings weder in der Politik noch in der Gesellschaft thematisiert.
Da unterschiedliche Formen von Diskriminierungen in nahezu allen Bereichen des alltäglichen Lebens seit vielen Jahren vorkommen, die von politischen Verantwortlichen seither mindestens toleriert werden, können sie als systematische und kumulative Diskriminierung verstanden werden. Dies könnte durchaus als Verfolgungsgrund gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention und somit als Asylberechtigung identifiziert werden. Der Menschenrechtskommissar des Europarates weist daher auch ausdrücklich darauf hin, dass im Kosovo Minderheiten einer systematischen und kumulativen Diskriminierung ausgesetzt sein können, was bei der Frage der Asylgewährung berücksichtigt werden sollte.
Wohnungssituation im Kosovo
In der Nachkriegszeit wurden viele Häuser zerstört oder illegal besetzt und können von ihren eigentlichen Eigentümern nicht bewohnt werden. Hierbei wurden nicht nur Siedlungen von Roma, sondern in den großen Städten auch ganze Viertel zerstört oder besetzt. In Pristina z.B. leben heute einige wenige hundert Roma von einst 15.000-20.000.
Viele dieser Viertel waren informelle Siedlungen, d.h. dass meist für die Grundstücke keine offiziellen Eigentümerdokumente vorlagen. Bereits im Jahre 2003 formulierten die „Standards for Kosovo“, ein von den Vereinten Nationen ausgehandelter Leitfaden für den Weg zur Unabhängigkeit, die Formalisierung dieser Siedlungen als eine der Bedingungen zur Unabhängigkeit. Das 2008 überarbeitete Gesetz zur Raumplanung nahm diese Forderungen zwar auf, wurden aber nie umgesetzt. Die Regierungsstrategie zur Formalisierung der Informellen Siedlungen 2011-2015 wurde vom Premierminister nicht unterzeichnet, sodass bis heute kaum Siedlungen formalisiert wurden.
Die prekäre Wohnungssituation trug nicht nur dazu bei, die Integration der im Kosovo lebenden Roma zu erschweren, sondern führte v.a. dazu, die Rückkehr von Roma zu erschweren, wenn nicht unmöglich zu machen.
Arbeitsmarktsituation im Kosovo
Sowohl die Verfassung (Art. 61) als auch das Minderheitengesetz (Art. 9.2.) und das Antidiskriminierungsgesetz (Art.2) fordern Maßnahmen zur besonderen Förderung der Roma. Allerdings werden diese Vorgaben nach wie vor nicht umgesetzt. Im öffentlichen Dienst bleiben Roma unterrepräsentiert, obwohl Einstellungen in der Verantwortung der Behörden stehen. Auch im Privatsektor bleiben sie als Roma außen vor. Selbst die Regierung geht davon aus, dass die Arbeitslosigkeit unter Roma bei über 90% liegt. Der graue Arbeitsmarkt bietet nur beschränkte Einnahmequellen. Der Erhalt von Sozialhilfe ist an schwere Bedingungen geknüpft, z.B. muss im Haushalt ein Kind im Alter von vier Jahren oder jünger leben und ist mit €70 im Monat (wozu noch pro Kind €5 Kindergeld kommen können) so bemessen, dass es nicht zum Überleben ausreicht.
Es sind daher Überweisungen von Familienangehörigen aus dem Ausland, die eine wichtige Einnahmequelle für die Personen darstellt und das Überleben vieler Roma im Kosovo sichern. Werden nun aber hunderte oder tausende in den Kosovo abgeschoben, bleiben diese Überweisungen aus. Andere Personen, die bis jetzt vom diesen Überweisungen im Kosovo gelebt haben, können ihr Überleben nicht mehr finanzieren, sodass sie wahrscheinlich gezwungen sein werden, den Kosovo zu verlassen, um ‚illegal‘ in Westeuropa oder in einem der Slums in Serbien zu (über-)leben.
Die spezifische Situation der Rückkehrer
Eine Studie der Gesellschaft für Bedrohte Völker Schweiz (GfbV CH) zeigt exemplarisch die Gründe auf, warum viele Roma ihre Herkunftsstaaten (wieder) zu verlassen. Für die Studie wurden Roma befragt, die nach ihrer Abschiebung im Kosovo geblieben sind, und die nach ihrer Abschiebung in den Kosovo weiter nach Serbien gezogen sind.
50% der in Serbien Befragten gaben an, dass ihre Häuser im Kosovo entweder zerstört oder besetzt sind. Sie waren gezwungen, den Kosovo zu verlassen, da sie keinen Wohnraum hatten. Unter den Befragten im Kosovo lebte die Hälfte mit Verwandten oder hatte Wohnraum angemietet, zumeist von Roma, die im Ausland leben.
Von den interviewten schulpflichtigen Kindern gingen während ihres Aufenthaltes in Westeuropa alle in die Schule, im Kosovo jedoch nur 25%. Während 40% der Befragten temporären, informellen Tätigkeiten nachgingen, hatte keiner eine legale Anstellung. Nur 15% gaben Sozialhilfe als Einnahmequelle an, aber 77.5% führten Überweisungen von Familienangehörigen aus dem Ausland als Einnahmequelle an.
Letztlich verdeutlicht die Studie auch, dass die Zwangsabschiebungen nicht zielführend sind. Zum einen geht die Mehrheit der Roma in den Untergrund, bevor die eigentliche Abschiebung vollzogen werden soll, zum anderen verlässt der größte Teil der Zwangsabgeschobenen den Kosovo wieder. Als die GfbV CH im August 2015, acht Monate nach der Befragung, die Befragten wieder kontaktierte, hatten 33 der 40 Haushalte im Kosovo das Land wieder verlassen. Von den 30 befragten Haushalten in Serbien waren 15 wieder in Westeuropa.
Roma aus dem Westlichen Balkan im Asylverfahren in Deutschland und der Asylkompromiss 2015
Es wird davon ausgegangen, dass ein Drittel der Asylantragsteller aus den Staaten des Westbalkans Roma sind. Für das Jahr 2014 gab das Bundesinnenministerium sogar an, dass 92% der Antragsteller aus Serbien Roma waren. Dies würde bedeuten, dass mindestens 80.000 bis 90.000 Roma aus diesen Staaten um Asyl in Deutschland angesucht haben. Hinzu kommen noch weitere tausende Roma aus dem Westlichen Balkan, die bereits länger in Deutschland mit einer „Duldung“ leben. Insgesamt dürften sich daher seit 2012 über 100.000 Roma aus dem Westbalkan im Asylverfahren befunden haben.
Nach Beobachtungen der GfbV im Kosovo, haben schon im 2. Halbjahr 2014 jeden Monat hunderte Roma den Kosovo verlassen. Im Zeitraum von Januar bis März 2015 gab es über 1800 Erstasylanträge und weitere 300 Folgeanträge von Roma aus dem Kosovo in Deutschland. Somit dürften im Rahmen der Ausreisewelle aus dem Kosovo 2014/2015 ca. 10% der Roma den Kosovo verlassen haben. Von wenigen Einzelfällen abgesehen werden jedoch Asylanträge von Roma aus dem Westlichen Balkan in Deutschland als unbegründet abgelehnt.
Die hohen Zahlen von Asylanträgen von Roma werden im politischen und gesellschaftlichen Diskurs weniger als ein Indikator dafür genommen, dass Antiziganismus, Ausgrenzung und Diskriminierung Roma dazu zwingen, ihre Heimatländer zu verlassen. Vielmehr wird die allgemeine wirtschaftliche Lage in den Herkunftsländern als alleiniger Grund angesehen. Roma nützten das Asylsystem aus und das Asylrecht bedürfe daher einer Änderung. Dies zeigte nicht zuletzt die Debatte um die Einstufung der Staaten des Westlichen Balkans, inklusive Kosovo, als „sichere Herkunftsstaaten“.
Der im Herbst 2015 zwischen Bundesregierung und Bundesländer erzielte Asylkompromiss um das „Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz“ bezieht sich gerade mit einem Satz auf die Lage der Roma:
„Der Bund wird sich aktiv für die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation der Minderheiten, insbesondere Roma, im Westbalkan einsetzen.“
Es ist hervorzuheben, dass ein Fokus auf der wirtschaftlichen und sozialen Situation liegt, nicht aber die Rede von der Bekämpfung von Antiziganismus, Ausgrenzung und Diskriminierung ist. Ein aktiver Einsatz für eine Verbesserung der Situation der Roma blieb hingegen bislang aus. Bis jetzt sehen wir ein verstärktes Abschieben von Roma, die z.T. seit Jahren in Deutschland leben bzw. hier geboren sind, obwohl die Fakten zeigen, dass der große Teil der abgeschobenen Roma z.B. im Kosovo nicht überleben kann.
Um positiv auf eine Verbesserung der Lage der Roma im Westlichen Balkan einzuwirken und die Zwangsmigration oder Flucht der Roma einzudämmen, müsste die deutsche Politik ihre bisherige „Vogel Strauß Politik“ aufgeben und Antiziganismus sowie die Diskriminierung und Ausgrenzung der Roma anerkennen.
Parallel sollten in drei Bereichen Maßnahmen ergriffen werden: (i) verbunden mit dem notwendigen politischen Druck auf die Regierungen der Länder im Westbalkan diese Phänomene zu bekämpfen, müssen die Länder fachlich und finanziell dabei unterstützt werden; (ii) Roma sollten explizit in Maßnahmen zur legalen Arbeitsmigration einbezogen werden und (iii) die schon seit Jahren in Deutschland lebenden Roma aus dem Westlichen Balkan sollten integriert werden.
*Die Bezeichnung Roma bezieht auch andere Gruppen wie Aschkali und Balkan-Ägypter mit ein, ohne hiermit die reklamierte ethnische Eigenständigkeit dieser beiden Gruppen in Frage zu stellen.
Photo Credits:
(c) UNHCR/R.Chalasani (Destroyed Roma enclave, Mitrovica, Kosovo)