Strategische Prozessführung im Flüchtlingsrecht – Gemeinsam Rechte für Schutzsuchende durchsetzen

Kurzer Tagungsbericht

Von Laura Hilb und Lisa vom Felde

 

Am 18. November 2016 fand eine Tagung zum Thema „Strategische Prozessführung im Flüchtlingsrecht“ organisiert von der Refugee Law Clinic Gießen (RLC) der Justus-Liebig-Universität Gießen statt. Zu Beginn führten zunächst Vorträge aus verschiedenen Perspektiven an das Thema der strategischen Prozessführung im Flüchtlingsrecht heran. So stellten Anwälte im Zivil- und Flüchtlingsrecht, ein Bundesverfassungsrichter und Vertreter*innen von NGOs ihren Blick auf strategische Prozessführung dar. Am Nachmittag arbeiteten die Teilnehmenden in drei Workshops vertieft zu spezifischen Themen. In einer abschließenden Podiumsdiskussion wurden die Erkenntnisse der Tagung zusammengefasst und wichtige Thematiken diskutiert. An der Tagung nahmen ungefähr 150 Personen teil, die sich mit den Rechten von Schutzsuchenden beschäftigen. Dazu zählten nicht nur Richter*innen, Anwält*innen und Asylverfahrensberater*innen aus ganz Deutschland, sondern vor allem auch viele Studierende anderer Refugee Law Clinics. Dieser Beitrag soll eine kurze Reflexion darüber sein, welche Inhalte diskutiert wurden und wie ausgehend davon ein gemeinsames Verständnis von strategischer Prozessführung geschaffen werden konnte.

 

Was ist strategische Prozessführung?

Als Ausgangspunkt soll hier zunächst strategische Prozessführung, wie sie von Felix Netzer (Principal Associate, Freshfields Bruckhaus Deringer, Frankfurt a. M.) in seinem Einführungsvortrag beschrieben wurde, definiert werden. Strategische Prozessführung ist ein „rechtliches Vorgehen […], das die (zivil-) gerichtliche Auseinandersetzung wählt, um durch Musterverfahren oder mit Präzedenz-Entscheidungen zunächst rechtliche und im Gefolge politische, wirtschaftliche oder soziale Veränderungen über den Einzelfall hinaus zu erreichen“. Das bedeutet, dass Anwält*innen nicht lediglich das Beste für den einzelnen Mandanten oder die einzelne Mandantin erreichen möchten (wie in einem ‚normalen‘ Verfahren). Sie berücksichtigen zusätzlich auch über den Einzelfall hinaus Veränderungen in der Praxis.

In Deutschland existiert noch keine wissenschaftliche Debatte darüber, wie strategische Prozessführung im Flüchtlingsrecht zu realisieren wäre, auch wird sie (bis auf wenige Ausnahmen) kaum betrieben. Dies steht im Gegensatz zu Praktiken beispielsweise im angloamerikanischen Rechtsraum. Die Tagung der RLC sollte einen Anstoß dazu bieten, diese Debatte auch in Deutschland zu führen und Partnerschaften zu entwickeln, durch die strategische Prozessführung im Flüchtlingsrecht möglich wäre.

 

Was wurde diskutiert und welche Lehren können wir ziehen?

Der einführende Vortrag zu strategischer Prozessführung im Zivilprozess bot den Anwesenden die Grundlage, um sich über strategische Prozessführung in ihrem eigenen Feld – dem Flüchtlingsrecht – auszutauschen. Außerdem konnten sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Zivilrecht und dem eigenen Rechtsgebiet reflektieren und spezifische Schwierigkeiten bedenken, die sich aus dem Flüchtlingsrecht ergeben. Es wurde unter anderem die Frage aufgeworfen, inwiefern strategische Prozessführung im Flüchtlingsrecht überhaupt möglich sei. Da jeder Fall einzeln betrachtet und im besten Interesse des Mandanten oder der Mandantin gedacht werden muss, sollten dabei strategische, überindividuelle Erwägungen keine Rolle spielen.

Ulrich Maidowski (Richter am Bundesverfassungsgericht, Karlsruhe) rief die Anwesenden dazu auf, bei der Beratung innerhalb eines flüchtlingsrechtlichen Verfahrens immer den Instanzenzug (d.h. vom Gericht auf der niedrigsten Ebene bis zur höchsten) mitzudenken. Das bedeutet in der praktischen Beratungsarbeit, dass bereits bei einer Anhörungsvorbereitung mögliche Grundrechtsverletzungen im Blick behalten und erarbeitet werden müssen, die Grundlage für eine spätere Verfassungsbeschwerde sein könnten. Sowohl Reinhard Marx (Rechtsanwalt, Frankfurt a. M.) als auch Maidowski waren sich einig, dass in höheren Instanzen Fehler oder Unterlassungen in früheren Verfahren nicht ausgeglichen werden können. Dazu zählt auch die Anhörung im Rahmen des Verwaltungsverfahrens vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Carsten Gericke (Rechtsanwalt, Hamburg und Berater des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), Berlin) beschäftigte sich im Anschluss mit der Frage der Territorialität von Menschenrechten aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderen menschenrechtlichen Konventionen und insbesondere deren Geltung an den EU- Außengrenzen. Gericke stellte anhand von anhängigen und entschiedenen Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) heraus, wie beispielsweise Spanien versucht, sich seiner menschenrechtlichen Verpflichtungen zu entziehen. Dafür definiert Spanien grenznahes Territorium als außerhalb des spanischen Staates um und rechtfertigt dadurch, dass Menschen daran gehindert werden, auf spanisches Territorium zu gelangen. Wenn es ihnen doch gelingt, werden sie sofort – ohne Durchführung eines Asylverfahrens – wieder zurückgeführt. Einige solcher Verfahren betreibt das ECCHR vor dem EGMR, um diese Praxis als Verletzung des Non-Refoulement-Gebots feststellen zu lassen. Das Non-Refoulement-Gebot verbietet Menschen zurückzuweisen, denen Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Schutzsuchende dürfen daher nur abgeschoben oder zurückgewiesen werden, wenn in einem Verfahren festgestellt wurde, dass ihnen diese Gefahren nicht drohen.

Am Nachmittag fanden drei Workshops statt, die sich mit unterschiedlichen Themenbereichen beschäftigten. Der Workshop mit dem Titel „Campaigning und Litigation PR: die mediale Begleitung eines Falles aus der Sicht der Aktivist*innen und aus Sicht des Gerichts“ widmete sich der medialen Berichterstattung über einen Fall, bei dem strategische Prozessführung betrieben wird. Es wurde diskutiert, wie Medien genutzt werden können, um einen Prozess oder dessen Auswirkungen positiv zu beeinflussen, aber auch welche Probleme eine mediale Berichterstattung mit sich bringen kann. Beleuchtet wurde dies aus der Perspektive einer Nichtregierungsorganisation (Max Pichl, Pro Asyl, Frankfurt a. M.), eines Gerichts (Ralph Göbel-Zimmermann, Vizepräsident Verwaltungsgericht, Wiesbaden) und einer Anwältin (Stephanie Motz, Barrister, London und Zürich). Aus der Diskussion ergab sich unter anderen ein wichtiger Vorteil einer öffentlichen Begleitung eines Falles für die Einzelperson: mediale Aufmerksamkeit kann zu einer intensiveren Prüfung des Einzelfalles führen. Eine Weitergabe von Informationen an Medien muss jedoch immer vorsichtig und strategisch stattfinden, damit sowohl die Justiz als auch die Betroffenen nicht durch die Medien vorgeführt werden. Als eine weitere Gefahr wurde eine Priorisierung einzelner Fälle beschrieben, die zu einer „Zwei-Klassen-Gesellschaft“ der Fälle führen kann.

Ein zweiter Workshop mit dem Titel „Wunschliste – für welche Fälle wünschen wir uns eine Leitentscheidung und wie kommen wir da hin?“ beschäftigte sich mit Konstellationen, für die sich die anwesenden Praktiker*innen im Flüchtlingsrecht eine geklärte Rechtslage und / oder die Feststellung der (Menschen-) Rechtswidrigkeit wünschen. In diesem Workshop sammelten Maria Bethke (Referentin für Asylverfahrensberatung und Erstaufnahme, Diakonie Hessen) und Adriana Kessler (Projektleitung JUMEN – Juristische Menschenrechtsarbeit in Deutschland) gemeinsam mit den Teilnehmenden Problemfeldern, die sich in der praktischen Arbeit immer wieder ergeben. Im Zuge der Gespräche wurden vielfältige Probleme deutlich, die juristisch noch ungeklärt sind. Beispiele waren fehlende Qualitätsstandards für Dolmetschende während der Anhörung, die Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten, kumulative Diskriminierung von Roma in den Westbalkanstaaten (hier die ausführlichere Liste). Zu diesen Themen wurde von Gerichten in höchster Instanz noch keine Entscheidung getroffen, an der sich Gerichte und Behörden orientieren können. Dies führt zu einer momentan stark variierenden Entscheidungspraxis und zu immer wieder auftretenden Grundrechtsverletzungen. Außerdem stellten die Referentinnen die Idee vor, eine Stelle zu errichten, die Problemfelder im Flüchtlingsrecht bündelt, um sie zu systematisieren. Einzelne Fälle könnten dann gemeinsam mit Anwält*innen strategisch bis zum letztinstanzlichen Verfahren betrieben werden, um auf eine Änderung in der Entscheidungspraxis hinzuwirken. Dafür ist die Vernetzung verschiedener Personen und Organisationen innerhalb Deutschlands essentiell, damit gemeinsam Kapazitäten für solche Fälle zusammengeführt werden können, die erfolgsversprechend Grundsatzentscheidungen bewirken könnten.

Im dritten Workshop „Verfahren vor dem EGMR und dem UN-Ausschuss gegen Folter zum Non-Refoulement Prinzip –  Zugang, Chancen und Risiken im Vergleich“  mit Fanny de Weck (Juristische Mitarbeiterin, Münch Singh Rechtsanwälte, Zürich) wurden die Chancen und Risiken für die Durchsetzung von Rechten von Schutzsuchenden in Verfahren vor dem EGMR und dem UN-Ausschuss gegen Folter untersucht. Diese Chancen und Risiken gilt es stets abzuwägen, wenn dort ein Verfahren angestrengt werden soll. Solche Verfahren werden insbesondere von deutschen Anwält*innen aufgrund verschiedener Hürden – wie den sehr hohen Unzulässigkeitsquoten – nicht genutzt, die im Rahmen des Workshops auch thematisiert wurden.

Den Abschluss der Tagung bildete die Podiumsdiskussion „Strategische Prozessführung – ein (neuer) Ansatz für die Durchsetzung der Rechte von Schutzsuchenden und Migrant*innen?“. Constantin Hruschka (Leiter Protection, Schweizerische Flüchtlingshilfe), Reinhard Marx, Stephanie Motz, Max Pichl und Stephan Hocks (Rechtsanwalt Frankfurt, Refugee Law Clinic Gießen) diskutierten anhand einiger Fälle, bei denen strategische Prozessführung angewandt wurde, welche Schwierigkeiten diese für die einzelnen Mandant*innen mit sich bringen kann. Diskutierte Schwierigkeiten waren etwa invasives, für die Betroffenen unangenehmes Medieninteresse oder auch exemplarisch „harte“ Behandlung durch den Staat, um keine Präzedenzfälle zu schaffen. Beispielsweise wurde hier genannt, dass von einer Abschiebung nicht abgesehen wurde, obwohl dies im Ermessen der Behörde gelegen hätte. Darüber hinaus wurden einige Fälle beschrieben, in denen sich positive Konsequenzen durch die strategische Begleitung einzelner Fälle für viele Schutzsuchende ergeben haben, unter anderem in Bezug auf die Abschiebehaft oder im Rahmen des Dublin-Verfahrens. So wurde vor einigen Jahren nach einer Grundsatzentscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Abschiebehaft für Schutzsuchende in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen quasi abgeschafft. Eine Entscheidung des EGMR führte dazu, dass Familien mit kleinen Kindern nicht mehr im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien abgeschoben werden.

 

Was ist für die Zukunft geplant?

Als erste deutsche Tagung zur strategischen Prozessführung im Flüchtlingsrecht lag der Fokus am 18. November 2016 darauf, eine Einführung in die Thematik zu bieten und in den Workshops zu vertiefen. Anhand der weitreichenden Diskussionen der Vortragenden und Teilnehmenden wurde deutlich, wie groß das Interesse an strategischer Prozessführung im Flüchtlingsrecht und wie wichtig eine weiterführende Beschäftigung mit diesem Thema ist. Die Teilnehmenden brachten viel Erfahrung und Expertise mit, die zusammengeführt werden müssen. Denn – und das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der Tagung – nur durch Kooperation und gegenseitige Unterstützung können langfristige Erfolge entstehen.

Für das kommende Jahr ist daher eine Veranstaltung geplant, in der aufbauend auf der vergangenen Tagung in verschiedenen Workshops zu spezifischen Themen konkret gearbeitet werden soll. Das Format der Workshops eignet sich am besten dafür, spezifische Fragen in der Tiefe zu diskutieren und die praktische Anwendung zu beleuchten. Dies kann durch Vorträge nicht in dem Maße geleistet werden. Strategische Prozessführung im Flüchtlingsrecht steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen, ist aber umso wichtiger geworden, wenn man auf die vergangenen erheblichen Verschärfungen im Asylgesetz blickt. Bei vielen erlassenen Neuregelungen gibt es erhebliche Zweifel an deren Vereinbarkeit mit dem europäischen Recht. Daher erhoffen wir uns auch auf der kommenden Tagung eine rege Beteiligung verschiedener Akteur*innen, um gemeinsam effektive Strategien zu entwickeln, um den Rechten von Schutzsuchenden Wirksamkeit zu verleihen.

 

 

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