Strukturelle Regellosigkeit in einer überregelten Welt

Was steht einer Partizipation geflüchteter Menschen in Deutschland entgegen?

Von Cordula Dittmer und Daniel F. Lorenz

 

In den letzten Monaten mehren sich die öffentlichen Stimmen, die für die Geflüchteten eine aktive politische Rolle in der deutschen Gesellschaft einfordern bzw. bereits existierende Initiativen einer interessierten Öffentlichkeit zugängig machen. Beispiele hierfür sind  die aktuellen Ausgabe der Zeitschrift iz3wHere we are. Refugees und Selbstermächtigung“ und die Veranstaltung Civil Society 4.0 – Refugees and Digital Self Organization, die im Februar 2016 in Berlin stattfand. Diese Forderungen gehen mit dem Anspruch einher, geflüchtete Menschen nicht nur als Arbeitskraft mit wirtschaftlichem Nutzen für Deutschland, sondern ebenso als politische Subjekte mit politischen Rechten in die Gesellschaft zu integrieren.

Diese Forderungen sind nicht neu und basieren auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie der Genfer Flüchtlingskonvention. Viele im Bereich der Flüchtlingshilfe engagierte Organisationen und Initiativen weisen seit Jahren auf die Notwendigkeit der Mitgestaltung von Geflüchteten hin und engagieren sich aktiv in der Unterstützung von Geflüchteten, ihre politischen Rechte wahrzunehmen. Geflüchtete als individuelle politische Subjekte anzuerkennen, bedarf eines Willens, einer Fähigkeit, eines Bewusstseins und einer Bereitschaft der Geflüchteten selbst. Darüber hinaus erfordert es auch von der „anderen Seite“ Offenheit, Räume und Möglichkeiten bereitzustellen, in denen diese Äußerungsformen „auf Augenhöhe“ stattfinden können, in welchen diese gehört, verstanden und umgesetzt werden können. Dabei ist zu beachten, dass Geflüchtete vielfältige Bedürfnisse und Forderungen haben können, die bei Diskussionen über Mitgestaltungsmöglichkeiten mitgedacht werden müssen.

Auch die Betreiber*innen von Erst- und/oder Notunterkünften beginnen – mit Blick auf die Verstetigung dieser Unterkünfte – sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie eine Mitgestaltung von geflüchteten Menschen konkret vor Ort aussehen kann. Das Spektrum reicht von Mithilfe bei wöchentlichen Putzdiensten, über Freizeitangebote für andere Geflüchtete, Dolmetschertätigkeiten bis hin zur Einrichtung von Flüchtlingsräten oder Vertretungen von Bewohner*innen. Da sich diese Initiativen momentan noch in der Findungsphase befinden, lässt sich ihr Erfolg gegenwärtig noch nicht absehen.

Im Rahmen von Forschungen der Katastrophenforschungsstelle an der Freien Universität Berlin haben wir mit Geflüchteten in einer Berliner Notunterkunft gesprochen. Kernfragen der Untersuchung waren, welche Bedürfnisse die geflüchteten Menschen konkret in der Notunterkunft haben, inwieweit die Angebote der Einrichtungen diesen Bedürfnissen der geflüchteten Menschen genügen und welche Handlungsmöglichkeiten den Geflüchteten strukturell offenstehen. Die meisten der Personen in unserer Untersuchung haben erst sehr spät die Entscheidung zur Flucht getroffen. Es handelt sich daher nicht um bereits stark politisierte oder organisierte Menschen, sodass ihnen der Gedanke, sich politisch zu engagieren und ihre soziale Umwelt aktiv zu gestalten, recht weit weg erscheint. In unserer Forschung mit den Geflüchteten haben wir die Erfahrung gemacht, dass sich bei der Umsetzung der prinzipiell sehr begrüßenswerten Idee der Mitgestaltung jedoch strukturelle Beschränkungen und grundlegende Herausforderungen zeigen.

 

Agency – Handlungsfähigkeiten von Geflüchteten

Zunächst gilt es jedoch darüber zu reflektieren, was die strukturellen und habituellen Voraussetzungen für eine Mitgestaltung von Geflüchteten sein müssten, um daran anschließend Mitgestaltung zu fördern. Wir möchten dazu einen kurzen Exkurs wagen und das Konzept der „agency“ vorstellen, wie es von Mustafa Emirbayer und Ann Mische (1998) entwickelt wurde. „Agency“ wird sinngemäß als „Handlungsfähigkeit“ oder „Handlungsmacht“ verstanden. Nach Emirbayer und Mische wird Agency anhand dreier Aspekte definiert:

  1. Der Wiederholung erlernter Handlungs- und Denkschemata, sozialer Regeln und kulturellen Anwendungswissens, die als Grundlage zur Gestaltung und Erhaltung sozialer Identitäten und Handlungsformen dienen (Vergangenheit);
  2. dem projektiven Element, das es erlaubt, anhand der erlernten Handlungs- und Denkschemata und Regeln kreativ mit zukünftigen Erwartungen, Wünschen und Hoffnungen umzugehen (Zukunft) und
  3. eine praktische normative Kompetenz, die es ermöglicht, in aktuellen Entwicklungen angemessene Entscheidungen zu treffen (Gegenwart).

Für die geflüchteten Menschen in der Notunterkunft zeigt sich, dass die erlernten Handlungs- und Denkschemata nicht mehr auf ihre gegenwärtige Lage „passen“, die  „Regeln“, anhand derer das soziale Leben um sie herum strukturiert ist, sind ihnen fremd und erscheinen z.T. als sehr bedrohlich. Der Mitbegründer und leitender Redakteur des Refugee Radio Hamburg Networks Larry M. Macaulay erklärt in einem Interview:

„Die europäische Gesellschaft ist durch und durch über Regeln strukturiert. Sie besagen, wo du lang laufen darfst. Wenn sie wollen, dass du links gehst, dann gibt es Regeln dafür. Zwar ist grundsätzlich nichts gegen Regeln für ein Zusammenleben einzuwenden, doch solche, die das Leben der Menschen kontrollieren, erzeugen Angst.“

Wie das Zitat zeigt, sind die Regeln und die freiheitlich-demokratische Grundordnung für in ihr sozialisierte Menschen selbstverständlich. Dafür bedarf es eines entsprechenden kulturell habitualisierten Anwendungswissens oder einer erlernten und geteilten sozialen Praxis (vgl. Wittgenstein oder Bourdieu) und auch der Verfügung über entsprechende materielle Ressourcen, diese Rechte bei ihrer Verletzung auch einfordern zu können. Eine hohe Dichte an Regeln und Gesetzen kann bei Personen, die mit entsprechenden Rechten ausgestattet sind, Freiheit und Sicherheit bedeuten bzw. als solche wahrgenommen werden. Es erscheint fast paradox, dass die hohe Regeldichte des deutschen Alltags mit einer hohen gefühlten Regellosigkeit für die Geflüchteten einhergeht und  bei Nichtwissen über ihre Grenzen und Anwendungslogiken etwas sehr repressives haben kann.

Entscheidend ist in jedem Fall, dass es nicht allein die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ als solche oder die Hausordnung einer Einrichtung sind, die Freiheit sowie Schutz versprechen. Vielmehr ist eben auch relevant, wie sehr man sich in der Ordnung positionieren und als frei und geschützt verorten kann oder ob einem diese allein als sanktionierende Gewalt gegenübertritt, der man aufgrund einer schwachen strukturellen Positionierung wenig entgegenzusetzen hat. Aufgrund des prekären Rechtsstatus von Geflüchteten sowie der fehlenden Vermittlung von Anwendungswissen in der Notunterbringung ergibt sich innerhalb und außerhalb der Einrichtungen für Geflüchtete oft ein undurchsichtiger Regelzusammenhang, der die Geflüchteten verunsichert, da er in seiner Struktur, Logik und Anwendung ohne Kontextualisierung nicht verstanden werden kann. Unsere Ergebnisse zeigen bspw., dass das abstrakte Wissen des hohen Stellenwertes von Kinderrechten in Deutschland unter Geflüchteten mitunter zu großer Verunsicherung führt, weil nicht klar ist, wo die Grenzen zwischen (verletzter) Aufsichtspflicht und einem Eingriff in die Rechte des Kindes verlaufen. In Folge dessen meiden Geflüchtete teils den öffentlichen Raum, um sich keiner Regelverletzung schuldig zu machen.

Geflüchtete in der Notunterkunft sind daher bezogen auf den deutschen Regelalltag strukturell mit sehr eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten ausgestattet, die sich durch eine ungleiche Verfügung über Rechte und Regeln des „deutschen“ Alltags auszeichnet. Obwohl Geflüchtete mit fremden wie eigenen Erwartungen konfrontiert sind, sich rechts- und regelkonform zu verhalten, sich möglichst rasch zu integrieren, so bleiben diese Erwartungen einerseits vielfach unausgesprochen und andererseits auch undefiniert. Diese Unbestimmtheit resultiert in einer Handlungslosigkeit im Sinne einer handlungspraktischen Unmöglichkeit, sich produktiv mit dem deutschen Alltag und seinen Regeln auseinanderzusetzen und/oder entsprechende Schritte zur Integration zu unternehmen. Daher sehen wir einen langen Weg bis hin zu einer Form der Mitgestaltung, die politisch-emanzipatorischen Ansprüchen gerecht wird.

 

Einfache Partizipation contra Hören vieler Stimmen

Eine einfache Vorstellung von Partizipation und Mitgestaltung verkennt die gegenwärtig sehr ungleichen Möglichkeiten des Sprechens, Handelns und Gehörtwerdens. Denn es bestehen extreme Ungleichheiten innerhalb der von außen konstruierten Gruppe der Geflüchteten: In dieser extrem heterogenen Gruppe finden sich sehr unterschiedliche Vulnerabilitäten und Bedürfnisse, aber auch Voraussetzungen und Hintergründe. Auf diese Ungleichheit mit einer einfachen Vorstellung von Partizipation zu reagieren, würde bedeuten, die bereits bestehenden Ungleichheiten zu reproduzieren und sogar noch zu verschärfen. Vielfach prägen auch andere ethnische, religiöse usw. Gruppenzugehörigkeiten die Identität der Geflüchteten und nicht ihr Rechtsstatus als Geflüchtete.

Dementsprechend bestünde die Gefahr, unter den bestehenden Strukturen eher die Durchsetzung von Partikularinteressen derjenigen Gruppen zu befördern, die entweder bereits strukturell besser gestellt sind als andere und/oder die sich am besten auf die diskursiven Praktiken in Deutschland einlassen können – bei einer gleichzeitigen Verschärfung der  Marginalisierung aller übrigen Gruppen. Als Beispiel hierfür kann der Eklat auf International Conference of Refugees & Migrants 2016 in Hamburg Ende Februar 2016 dienen. Im Rahmen der Konferenz stürmten Aktivistinnen den Saal und protestierten gegen die Dominanz von Männern und nicht geflüchteten Unterstützer*innen auf der Konferenz, die geflüchteten Frauen nur eine randständige Rolle zukommen ließen. Dadurch wurde sehr deutlich, dass eben nicht alle Personen innerhalb der Gruppe der Geflüchteten die gleichen Möglichkeiten der Artikulation und Mitgestaltung in der „Selbstorganisation“ von Geflüchteten haben. Vielmehr kommt es darauf an, für wen Räume für Mitgestaltung und Mitwirkung eröffnet werden und für wen nicht.

Dies ist jedoch bei weitem kein Argument gegen Partizipation und Mitgestaltung, sondern vielmehr ein Hinweis auf die komplexen Bedingungen und notwendigen Voraussetzungen, damit diese gelingen kann. Uns scheint zu allererst eine Klärung der Positionierung von Geflüchteten erforderlich zu sein. Hier sind die angesprochenen Flüchtlingsräte in den Notunterkünften sowie darüber hinaus ein wichtiger Schritt, der allerdings umfassend strukturell begleitet sein muss. So wäre darüber nachzudenken, wie Geflüchtete aus einer strukturell schwachen Position zur Partizipation strukturell – nicht persönlich-individuell – befähigt werden können oder sogar müssen. Dies betrifft speziell marginalisierte Gruppen innerhalb der Gruppe der Geflüchteten, meint außerdem aber auch die Auflösung oder Minderung der strukturell bedingten Sprachlosigkeit. Dazu gehört auch die Ermöglichung, Regeln und Rechte in ihrer Sinnhaftigkeit und Praxis zu verstehen und auf Basis dessen die Welt handelnd gestalten zu können.

Diese selbstverstärkenden Mechanismen definieren wir als „Regelkreis des Empowerments“. Der Regelkreis umfasst 5 Aspekte, die wir nachstehend graphisch dargestellt haben:

regelkreis

© Cordula Dittmer/Daniel F. Lorenz

 

Der Regelkreis soll verdeutlichen, dass erfolgreiches Empowerment einerseits selbst bestimmte Voraussetzungen „zur Äußerung“ benötigt, andererseits aber auch spezifische Rahmenbedingungen nach sich ziehen muss, um „gehört“ zu werden. Nur wenn eine realistische Perspektive auf die eigene Situation vorliegt, die die Agency selbstkritisch in den Blick nimmt und sich weder in falsche unrealistische Hoffnungen verstrickt noch völlige Handlungsunfähigkeit annimmt, kommt es zu einer Klärung der eigenen Position in der Unterkunft und im System. Diese realistische Positionierung erlaubt die Formulierung erreichbarer Ziele, auf deren Grundlage Empowerment erfolgen kann. Wenn dieses dann auch noch vernommen werden soll, impliziert dies ein entsprechendes Selbstverständnis der Betreiberorganisation vor Ort. Diese wiederum verweist auf die Notwendigkeit eines entsprechenden Selbstverständnisses der Betreiberorganisation überhaupt, also nicht nur auf der lokalen Ebene der Notunterkünfte.

Aus unserer Perspektive handelt es sich hierbei um einen dynamischen ko-evolutionären Prozess, bei dem sich Empowerment von Geflüchteten nur erfolgreich im Wechselspiel mit dem Selbstverständnis der Einrichtungen entwickeln kann.

 

Gewollte Mitgestaltung?

Obwohl wir das Recht auf Mitgestaltung uneingeschränkt befürworten, ist in Deutschland zu hinterfragen, ob sie generell gewollt ist. Es ist selbstkritisch zu fragen, wieviel Mitgestaltung die deutsche Gesellschaft und gegenwärtige Strukturen in der Erst- und Notversorgung, aber auch darüber hinaus vertragen können und wollen? In unseren Augen braucht es für eine sinn- und wirkungsvolle Mitgestaltung von Geflüchteten, vor allem auch eine Bereitschaft der „anderen Seite“ (Betreiberorganisationen vor Ort, Betreiberorganisationen allgemein, deutsche Gesellschaft insgesamt), entsprechende Räume und Möglichkeiten zu eröffnen und sich auf Geflüchtete als politische Subjekte „auf Augenhöhe“ einzulassen.

 

 

Photo Credits:

(c) Chris Devers

(c) Schaubild Regelkreis: Cordula Dittmer/Daniel F. Lorenz, 2016

 

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