Überraschung!? Einwurf zur Kritik am EU-Ratsbeschluss zur Asylrechtsreform

Am 8. Juni 2023 haben sich die EU-Mitgliedstaaten auf eine Reform der europäischen Asylpolitik verständigt. Dieser Beitrag setzt sich mit der teils massiven Kritik am Beschluss des EU-Ministerrats und der Zustimmung der deutschen Bundesregierung auseinander, die von Überraschung bis hin zu Empörung geprägt war. Dabei werden einige Aspekte ausgeleuchtet, die von der Kritik bisher zu wenig beachtet wurden und die verdeutlichen, warum die Reaktionen eines Großteils von Expert*innen und NGOs selbst ein wenig überraschen.

 

Die Zustimmung der Bundesregierung zu einer Position des EU-Ministerrates für Justiz und Inneres in den Verhandlungen um eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) hat großes mediales Echo erfahren und viel Kritik von Expert*innen ausgelöst. Ich möchte einige der Kritikpunkte in diesem Beitrag aufgreifen und auf mögliche blinde Stellen hinweisen. Sowohl der Inhalt des Ratsbeschlusses als auch die Zustimmung der deutschen Bundesregierung waren bei genauer Betrachtung nicht so überraschend, wie es in den Reaktionen den Anschein hat.

 

Die Rolle der Innenministerien

Aus politikwissenschaftlicher Sicht sind Ministerien ebenso politische Akteure wie beispielsweise Parteien oder Regierungen. Sie kämpfen um Einfluss auf Entscheidungen, Macht und Ressourcen. Sie können als Bewahrer von Staatsräson oder politischer Leitlinien dienen, unabhängig von der Besetzung der derzeitigen Regierung. Sie besitzen die Expertise ihrer Ressorts und gestalten Politik durch die Formulierung von Gesetzesvorhaben entscheidend mit.

So ist es auch im Bereich der europäischen Migrationspolitik, bei der die spezifische Rolle und der Einfluss der Innenministerien außerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vielleicht etwas unterschätzt werden. Das beginnt schon damit, dass sich Interessierte ganz grundsätzlich einmal fragen können, warum überhaupt die Innenministerien in der EU zuständig sind für Migration, obwohl dies ein klassisches Querschnittsthema ist, das mindestens auch die Bereiche Außen, Soziales oder Wirtschaft betrifft. Im wesentlichen Maße liegt dies im Schengen-Prozess begründet, in dem die Innenministerien ihren Einfluss schwinden sahen, woraufhin sie eine erfolgreiche Strategie der Betonung ihrer Expertise bei den zu erwartenden Herausforderungen bei wegfallenden Grenzkontrollen einsetzten, um die Deutungshoheit im aufkommenden europäischen Migrationsregime zu erhalten. Dies ist besonders im Fall des deutschen Innenministeriums nachgewiesen worden. Die systemische Logik, in nicht autorisierter Einwanderung wie Asylmigration vor allem ein Sicherheitsrisiko zu sehen und Grenzkontrollen über den internationalen Flüchtlingsschutz zu priorisieren, hat sich daraufhin in Deutschland durchgesetzt und wurde auf die europäische Ebene gehoben, was wiederum auf weitere Mitgliedstaaten rückgewirkt hat. Ein einschlägiges Beispiel ist hier, dass Deutschland sehr rasch nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ seine restriktiven Einwanderungspolitiken erfolgreich in die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas exportiert hat. Mit Polen wurde bereits am 21. März 1991 eine Rücknahmeabkommen geschlossen, woraufhin das Land selbst Rücknahmeabkommen mit Nachbar- und Transitstaaten schloss. Im weiteren Verlauf des EU-Erweiterungsprozesses wurde die Übernahme dieser restriktiven Asyl- und Grenzschutzpolitik verpflichtend.

Dass deutsche Innenminister*innen – auch sozialdemokratische – den Zugang zum europäischen Asylsystem gerne beschränken wollen, ist daher alles andere als neu. Diese Entwicklung ist nun auch bei Nancy Faeser zu beobachten, dies sich zudem im Wahlkampf befindet und als neue hessische Ministerpräsidentin positionieren möchte. Es muss daher nicht unbedingt überraschen, dass sich ihr Verhandlungsergebnis nun kaum von den Forderungen ihres Vorgängers von der CSU unterscheidet. Es zeugt von Kontinuität in den asylpolitischen Präferenzen Deutschlands, die vom Innenministerium wesentlich mitgeprägt wird.

 

Handlungsdruck und EU-Politikgestaltung

Die deutsche Innenministerin hatte vor der entscheidenden Ratssitzung geäußert, dass sie ohne einen Reformbeschluss ein Ende des Schengenraumes befürchte. Dies zeugt von allerhöchstem Entscheidungsdruck, der mit der Rettung eines der Kernprojekte der europäischen Integration verbunden wird. Dass damit auch erhöhte Kompromissbereitschaft einhergeht, ist evident. Diese zugespitzte Situation ist Ergebnis des bereits im letzten Jahr aufgebauten Handlungsdrucks innerhalb der Union, als das Ziel einer Einigung über die Asylrechtsreform vor der nächsten Europawahl 2024 ausgerufen wurde, möglicherweise um einen befürchteten Rechtsruck im Europäischen Parlament sowie der ungarischen Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des gleichen Jahres zuvorzukommen.

Was sich hier ebenfalls zeigt, ist, dass Politikgestaltung auf EU-Ebene eben grundsätzlich anders funktioniert als auf der nationalen, mit eigenen Logiken und Prozessen, bei denen Deutschland nur einen, wenn auch einflussreichen Akteur darstellt. Die deutsche Bundesregierung muss nicht nur einen Interessenausgleich mit den nationalen Veto-Spielern, wie den Koalitionspartnern und dem Bundestag, eingehen, sondern auch mit den 26 weiteren Regierungen sowie indirekt mit dem EU-Parlament, und dies alles auf der Basis von Vorschlägen der Kommission. In Anbetracht des zugespitzten Handlungsdrucks und konfrontiert mit einer offenbar großen Mehrheit unter den EU-Mitgliedstaaten für eine Verschärfung der Asylpolitik, zieht es die deutsche Bundesregierung wahrscheinlich nicht vor als jene Akteurin zu gelten, die die angestrebte Reform zum Scheitern bringt, zudem bei einem Thema, das große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Kommissionvorschläge waren bereits deutlich an die Positionen von Regierungen, die die asylpolitische Kooperation zurückschrauben und die Verhinderung ungewollter Zuwanderung absolut setzen wollen, herangerückt, und haben sie damit zum europäischen Mainstream gemacht. Dies spiegelt sich nun auch im Ratsbeschluss wider, den die Kommission ausdrücklich begrüßt hat.

Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass Deutschland im Rat mit den eher liberalen und auf den Flüchtlingsschutz ausgerichteten asylpolitischen Positionen aus dem Koalitionsvertrag mehr oder weniger isoliert war und diese unter dem Druck der Verhandlungen offensichtlich nicht halten konnte bzw. wollte. Möglichweise auch deswegen nicht, weil die eigenen Interessen in der Asylpolitik auf der europäischen Ebene keine solche Priorität genießen, wie es beispielsweise in der Wirtschafts- oder Klimapolitik der Fall ist. Der variierende Einfluss der entsprechenden Lobbygruppen dürfte bei der Gewichtung ebenfalls eine Rolle spielen.

Letztlich ist zu beobachten, dass sich diese Ratsentscheidung in die asyl- und grenzschutzpolitischen Kontinuitäten der EU einreiht, die sich seit der Krise 2015/2016 noch einmal verschärft haben. Die deutsche Position aus dem Koalitionsvertrag hätte eine Abkehr von dieser Entwicklung bedeutet, für die auf europäischer Ebene Mehrheiten beschafft werden müssen, die derzeit schlicht nicht existieren.

 

Der Koalitionsvertrag

Die Ampel-Regierung hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag auf einen „Neuanfang“ und einen „Paradigmenwechsel“ in der Migrationspolitik verständigt. Kritische Hinweise auf diese Ankündigungen sind also legitim, das Dokument sollte allerdings nicht verabsolutiert werden. Koalitionsverträge sind Zielvereinbarungen, die je nach Kontext und politischer Grosslage neu verhandelt werden dürfen, wie man auch bei den Verhandlungen um das Gebäudeenergiegesetz wieder beobachten konnte.

Seit der Einigung im Dezember 2021 haben sich die Vorzeichen in der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik verändert: Zum einen durch die Aufnahme einer Großzahl der Geflüchteten aus der Ukraine, zum anderen aufgrund der wiederansteigenden Flucht- und Migrationsbewegungen aus anderen Staaten zum Ende der Corona-Pandemie. Diese veränderten Rahmenbedingungen haben die Verhandlungsposition der Bundesregierung auf EU-Ebene in Bezug auf eine anvisierte Trendwende in der Asylpolitik sicherlich noch einmal erschwert. Schon in der Koalitionsvereinbarung hatte die „Ampel“ darauf hingewiesen, dass für ihre Pläne einer deutlich liberaleren Asylpolitik eine Koalition von gleichgesinnten Staaten gebildet werden soll. Nun, eine Interessenkonstellation, die eine solche Koalition ermöglichen könnte, gibt in der EU derzeit schlicht nicht. Das hat der Ratsbeschluss verdeutlicht. Die asyl- und flüchtlingspolitische Akzentuierung der Ampel-Regierung war schon Ende 2021 EU-weit eher eine Ausnahme; diese Außenseiterposition hat sich seither eher noch verstärkt. Dafür Mehrheiten zu generieren war daher von vornherein ein nahezu unmögliches Unterfangen – unabhängig davon, ob es letztendlich versucht wurde. Der Unterschied zwischen der Zielvereinbarung im Koalitionsvertrag und den politischen Realitäten auf EU-Ebene war immens, das Innenministerium hatte beim Verfassen wahrscheinlich noch keine Rolle gespielt, der Handlungsdruck war noch nicht entsprechend aufgebaut. Der Fokus im Rat für Justiz und Inneres lag auf Zugangskontrolle bzw.-verhinderung, was nach den Entwicklungen seit der Krise 2015/2016 wenig überrascht. Dass die deutsche Bundesregierung ihre Positionen aus dem Koalitionsvertrag nicht halten konnte bzw. wollte, kann daher ebenso wenig überraschen.

 

Die Rolle der Grünen

Gerade die Grünen haben ob der geplanten Asylrechtsverschärfungen einige Kritik einstecken müssen und zeigen deutlich eine Zerrissenheit, die sich quer durch die Partei vollzieht. Die Kritik an den Grünen mag bspw. aufgrund ihrer Positionen aus dem Wahlprogramm berechtigt sein. Jedoch hat die Partei seit der Regierungsübernahme den Worten – auch aus dem Koalitionsvertrag – kaum adäquate Taten folgen lassen. In der Debatte um die scharf kritisierte und menschenrechtswidrige Zurückweisung von Geflüchteten an der belarussisch-polnischen Grenze blieb die Partei weitgehend passiv und stützte so den europäischen Ansatz. Bei aller notwendigen Kritik an dieser Haltung sollte die Einigung auf eine gemeinsame Linie auf der EU-Ebene stärker berücksichtigt werden, die die Schutzsuche einiger Tausend Menschen zum „hybriden Angriff“ von Belarus auf Europa erklärte. Ein deutscher Alleingang wäre, selbst wenn die neue Regierung dies gewollt hätte, dort kaum zu vermitteln gewesen.

Darüber hinaus sind auch unter der Ampel-Regierung Pushbacks an der deutschen Grenze alles andere als ein Tabu. Auch in diesen Fällen völkerrechtswidrigen Handelns zulasten von Schutzsuchenden ist die Partei nicht eingeschritten. Hier zeigt sich auch, dass Migrationspolitik für die Grünen zwar ein wichtiges Thema ist, andere, wie z.B. Klima- und Wirtschaftspolitik, allerdings wichtiger zu sein scheinen. Darüber hinaus gibt es in der Partei durchaus prominente Stimmen, die Verschärfungen des Asylrechts in der Vergangenheit gefordert und umgesetzt haben – sowohl vor als auch nach der Krise 2015/2016 – und die den Ratsbeschluss nun stützen. Dass viele Grünen-Politiker*innen den Ratsbeschluss und die deutsche Zustimmung verteidigen, kann daher nur bedingt überraschen. Dies belegt auch die ausbleibende Zuspitzung auf dem Länderrat der Partei nur Tage nach dem Beschluss.

 

Die Diskrepanz in der Problemidentifikation

Ein weiterer Kritikpunkt, der von vielen Expert*innen und NGOs gegen die Bundesregierung vorgebracht wird, ist, dass diese Einigung viele der wesentlichen Probleme des GEAS nicht anginge, diese sogar eher noch verschlimmert würden. Diese Kritik ist in Kenntnis des wissenschaftlichen Standes angemessen und notwendig. Asylrechtsverschärfungen verhindern keine Schutzsuche, sie machen den Weg nach Europa nur gefährlicher und erodieren internationales Recht und sowie europäische Grundprinzipien. Allerdings gilt es zu beachten, dass die Forderung nach einer evidenzbasierten Politikgestaltung zwar vollkommen berechtigt ist, dies aber noch lange nicht heißt, dass Entscheidungsträger*innen die gleiche Problemlage anerkennen wie Expert*innen und/oder NGOs. Zwischen den tatsächlichen migrationspolitischen Entwicklungen und den Erkenntnissen aus der Migrationsforschung kann schon lange eine erhebliche Diskrepanz beobachtet werden. Die Liste der „Mythen“ um das Thema Fluchtmigration ist lang und dementsprechend aufbereitet.

Am Ratsbeschluss lässt sich daher eine Kontinuität in der Diskrepanz erkennen: die migrationspolitischen Entscheidungen auf nationaler und europäischer Ebene variieren teils stark von den wissenschaftlichen Daten. Entscheidungsträger*innen scheinen ihre Ziele von der Mehrheitsmeinung der Expertin*innen abweichend zu setzen und zu verwirklichen. Zu diesen Zielen gehört primär, nicht erst seit der Krise 2015/2016, die Verhinderung ungewollter Einwanderung, zunehmend auch mit illegalen Mitteln, um den Rechtsanspruch auf einen Asylantrag möglichst zu verhindern. Dass dies dem wissenschaftlichen Stand nach nur bedingt funktionieren kann, scheint (wieder) kein entscheidender Faktor in der Entscheidungsfindung der Mitgliedstaaten gewesen zu sein. Wahrscheinlich müssen sich Wissenschaftler*innen eingestehen, dass nur weil sie darauf drängen, Politik möge möglichst evidenzbasiert gestaltet werden, dies nicht auseichend dafür zu sein scheint, um Entscheidungsträger*innen und/oder Wählerinnen zu überzeugen. Dementsprechend wären Strategien notwendig, Politikgestaltung erfolgreicher auf die Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu stellen.

Politikerinnen orientieren sich darüber hinaus eher daran, was politisch machbar ist, nicht unbedingt daran, was aus wissenschaftlicher Sicht notwendig ist, weswegen die Erwartungen der Wissenschaftscommunity und die Ergebnisse von politischem Handeln stark auseinanderklaffen können. Dass diese Orientierung an der politischen Machbarkeit gegenüber der wissenschaftlichen Notwendigkeit hoch problematisch ist, ließ sich schon an den Vorschlägen der Kommission ablesen, die eine deutliche Annäherung an die Positionen von Mitgliedstaaten waren, die wenig von den derzeitig bestehenden Verpflichtungen des internationalen und europäischen Flüchtlingsrechts halten und stattdessen voll auf Grenzkontrollen und Externalisierung setzen, um Fluchtmigration in die EU möglichst auf null zu reduzieren.

 

Fazit: Keine Überraschung

Letztendlich bleibt auch im Raum stehen, wo in der EU überhaupt Regierungen eindeutig Interessen einer liberalen Asyl- und Flüchtlingspolitik vertreten, die gegen die bestehenden asylpolitischen Kontinuitäten und derzeitigen prekären Zustände an den Außengrenzen gerichtet wären. Welche Regierung eines EU-Mitgliedstaates vertritt denn noch offensiv eine Politik gegen weitere Externalisierung, gegen Zugangsbeschränkung, für verbesserten Flüchtlingsschutz? Ganz zu schweigen von einer ganzen Koalition, die eine solche politische Kehrtwende erwarten lassen würde? Dies gibt die aktuelle Interessenkonstellation in der EU schlicht nicht her, weswegen die Erwartung einer Abkehr bzw. Verbesserung im Sinne der Flüchtlingsschutzes bei den Verhandlungen im Rat auch nicht wirklich zu erwarten gewesen ist.

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