Verbrechen der Menschlichkeit?

Strafverfahren gegen Seenotretter gefährden die Autorität des Rechts

In der Nacht zum 29. Juni steuerte die Sea-Watch 3 den Hafen von Lampedusa an, ohne Erlaubnis der italienischen Stellen. Vorangegangen waren 16 Tage, in denen das Schiff der zivilgesellschaftlichen Rettungsorganisation Sea-Watch mit Geretteten an Bord auf eine Erlaubnis gewartet hatte, in einen Hafen einzulaufen. Von den anfangs 52 geretteten Personen wurden 12 wegen medizinischer Notlagen zwischenzeitlich von Bord geholt, doch auch für die verbleibenden 40 Geretteten sowie für die Besatzung hatte sich die Lage nach Aussage der Kapitänin, Carola Rackete, ins Unerträgliche zugespitzt. Nun drohen Carola Rackete ein Strafverfahren in Italien und ein Bußgeld, das Schiff von Sea-Watch wurde festgesetzt. Ich gebe hier keine Prognose für die Verfahren ab, denn ich kenne das italienische Recht nicht. Neben einer völkerrechtlichen Einordnung des Geschehens (dazu siehe auch hier) argumentiere ich mit diesem Beitrag, dass hier viel nicht nur für das italienische, sondern für das gesamte europäische Recht auf dem Spiel steht. Wenn ein weithin als moralisch richtig oder gar geboten angesehenes Verhalten sich als strafbar erweist, dann gefährdet das die Akzeptanz und Autorität von Recht.

 

Recht und Pflicht zur Rettung

Am 12. Juni hatte die Sea-Watch 52 Personen gerettet, 47 Meilen vor Libyen. Der Ort der Rettung lag also weit außerhalb libyscher territorialer Gewässer, die bis 12 Seemeilen von der Küste reichen. Nach Völkerrecht besteht nicht nur das Recht, sondern eine Pflicht, Menschen in Seenot zu retten. Diese Pflicht besteht völkergewohnheitsrechtlich sowie völkervertragsrechtlich; das Seerechtsübereinkommen richtet sich dabei an Staaten, nicht an einzelne Personen. Es regelt in Art. 98 die Pflicht zur Hilfeleistung und schreibt Staaten in Absatz 1 vor, den Kapitän eines unter der Flagge fahrenden Schiffs zur Seenotrettung zu verpflichten. Diese Pflicht ist für Schiffsführer selbst also durch jeweiliges Recht des Flaggenstaats vermittelt, für die Sea-Watch 3 ist das niederländisches Recht.

Die Pflicht zur Seenotrettung umfasst die Pflicht, die Geretteten an einen sicheren Ort zu bringen. Ein solcher sicherer Ort ist ein Ort, an dem die Sicherheit der geretteten Personen nicht weiter in Gefahr ist (vgl. dazu z.B. die IMO-Entschließung MSC.167(78)). Dass Libyen kein solcher sicherer Ort ist, darüber besteht kein Zweifel. Für die Sea-Watch 3 war Lampedusa der nächstgelegene sichere Hafen und so wartete das Schiff für über zwei Wochen außerhalb italienischer Gewässer auf eine Einigung und die Erlaubnis einzufahren. Wie Nele Matz-Lück im bereits erwähnten Beitrag ausführt, ist es ein Problem der völkerrechtlichen Rechtslage, dass der Verpflichtung zur Rettung keine Aufnahmeverpflichtung der Küstenstaaten entspricht. Das völkergewohnheitsrechtliche Nothafenrecht besteht nur, sofern das Schiff selbst sich in unmittelbarer Not befindet.

Eine Notlage der Menschen an Bord ist aber keineswegs irrelevant. Zum einen verbietet die EMRK in Artikel 3 die „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ – im Einzelfall muss man prüfen, ob die Verweigerung der Hafeneinfuhr Menschen in eine Situation brachte, die das Niveau einer Artikel 3-Verletzung erreicht. Ein Antrag auf einstweilige Verfügung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 25. Juni angesichts der sich verschärfenden Lage für die Personen an Bord blieb erfolglos. Zum anderen lässt sich bezüglich strafrechtlicher Vorwürfe an den rechtfertigenden Notstand aus Artikel 54 des italienischen Codice Penale denken.

 

Wo verläuft die Grenze zwischen gebotener Rettung und verbotener Schlepperei?

Der strafrechtliche Vorwurf an Carola Rackete lautet: Hilfe zur illegalen Einreise. Wo aber verläuft die Grenze zwischen gebotener Rettung und verbotener Schlepperei? Das Zusatzprotokoll gegen die Schlepperei von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität fasst als Schlepperei nach Art. 3 die „Herbeiführung der illegalen Einreise einer Person in einen Vertragsstaat, dessen Staatsangehörige sie nicht ist oder in dem sie keinen ständigen Aufenthalt hat, mit dem Ziel, sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen“. Diese Beschränkung von Schlepperei auf Handeln mit dem Ziel, sich einen Vorteil zu verschaffen, ist sinnvoll. Es ist eine Weise, ausbeuterisches Handeln, welches Menschenleben gefährdet, von humanitärer Hilfe abzugrenzen.

Deutschland, zum Vergleich, stellt in § 96 Aufenthaltsgesetz nicht nur Handeln mit Absicht, einen Vorteil zu erlangen, unter Strafe, sondern auch wiederholtes Hilfeleisten bei der unerlaubten Einreise oder entsprechendes Handeln zugunsten von mehreren Ausländern (§ 96 Abs. 1 Nr. 1 b). Dabei ist die unerlaubte Einreise für Asylsuchende selbst straffrei, das völkerrechtliche Pönalisierungsverbot findet sich im deutschen Strafrecht als persönlicher Strafaufhebungsgrund, und entfaltet regelmäßig auch bei Einreise aus einem anderen europäischen Staat Wirkung (vgl. dazu das BVerfG). Die entsprechende italienische Vorschrift findet sich in Artikel 12 des Decreto Legislativo vom 25. Juli 1998, n. 286 und ist ebenfalls weit formuliert.

Dass das UN-Zusatzprotokoll Schlepperei eng definiert, hindert Staaten also nicht, darüberhinausgehend Verhalten unter Strafe zu stellen. Das Europäische Parlament hat im letzten Sommer Leitlinien für die Mitgliedstaaten, mit denen verhindert werden soll, dass humanitäre Hilfe kriminalisiert wird beschlossen. Darin verweist es auf das UN-Zusatzprotokoll, hebt hervor, dass die Leistung humanitärer Hilfe nicht kriminalisiert werden solle, und fordert die Mitgliedstaaten auf, „die in der Beihilfe-Richtlinie vorgesehene Ausnahmeregelung für humanitäre Hilfe in nationales Recht umzusetzen“.

Auch Außenminister Heiko Maaß schrieb in Reaktion auf die Ereignisse vom Samstag, Seenotrettung dürfe nicht kriminalisiert werden, es sei an der italienischen Justiz die Vorwürfe zu klären. Doch es kann auch ein Ergebnis von Gerichtsverfahren sein, dass Seenotrettung bereits kriminalisiert wurde. Kriminalisierung verweist gerade darauf, dass ein Verhalten, welches nicht strafbar sein sollte, strafbar ist. Dann genügt nicht der Verweis auf die Justiz, sondern dann ist der Gesetzgeber gefragt, die Kriminalisierung aufzuheben oder rückgängig zu machen.

 

Autorität von Recht

Zahlreiche weitere PolitikerInnen meldeten sich zu Wort und forderten die Freilassung von Carola Rackete. Vor allem aber reagierte die Zivilgesellschaft mit Empörung – und großer Spendenbereitschaft für den Rechtshilfefond von Sea-Watch. Diese starken Reaktionen sollten der europäischen und mitgliedsstaatlichen Legislative nicht egal sein. Recht ist darauf angewiesen, dass es grundsätzlich akzeptiert ist. Nicht jede Regel finden wir gut, selbstverständlich gibt es Dissenz. Doch die Akzeptanz von Recht gründet darauf, dass es auf Grundentscheidungen beruht, die weithin geteilt werden. Aus dieser Akzeptanz speist sich die Autorität von Recht, die auch dort fortwirkt, wo wir mit einzelnen Regeln und Gesetzen nicht einverstanden sind.

Die Kriminalisierung von Seenotrettung und allgemein von Solidaritätist nach Wahrnehmung vieler Bürgerinnen und Bürger Europas keine Nebensächlichkeit, sondern berührt eben solche Grundentscheidungen. Entsprechendes findet sich in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union, der die „Werte, auf die sich die Union gründet“ aufzählt. Es sind dies „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ Diese Werte gelten auch, wenn es um die so genannte „Sicherung der Außengrenzen“ geht; sie sollten es zumindest. Ohne Frage, die Episode rund um die Sea-Watch 3 ist zuvorderst ein Missverhalten Italiens unter seinem Innenminister Salvini. Sie ist auch ein dringender Appell an die europäische Asylpolitik, die festgefahrenen Fragen der Verantwortungsteilung anzugehen.

Die große Gefahr für Europa ist nicht die Ankunft von einigen Dutzenden Schutzsuchenden, sondern die Aushöhlung ihrer Werte und damit einhergehend ein massiver Autoritätsverlust des Rechts. Hier geht es noch nicht einmal um Diskussionen darüber, was die EU zu tun verpflichtet ist, sondern lediglich darum, dass diejenigen nicht bestraft werden, die unter großem Einsatz Leben retten. Recht entspricht nicht immer der eigenen moralischen Wertung; doch wenn zwischen empfundenem moralischen Auftrag und erlaubtem Verhalten ein dauerhafter Widerspruch entsteht, dann bleibt das nicht ohne Folgen. Wenn Menschlichkeit zum Verbrechen wird, hat das Recht ein Problem.

 

Dieser Beitrag ist ebenfalls auf dem Verfassungsblog erschienen.

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