Großbritannien blieb weitgehend abgeschottet von der Flüchtlingskrise, die im vergangenen Jahr viele andere Länder Europas erschüttert hat. Geschützt durch die Geographie und den Status außerhalb des passfreien Schengenraums hat Großbritannien nur einen Bruchteil der Asylsuchenden aufgenommen, die an Europas südlichen Ufer im vergangenen Jahr ankamen.
Diese Realität hat nicht verhindert, dass sich weitreichend im Fernsehen gezeigte Bilder von MigrantInnen und Flüchtlingen, die durch den Balkan strömen, in der öffentlichen Vorstellung verwurzeln und mit „unkontrollierter“ Einwanderung nach Großbritannien assoziiert werden – eines der größten Probleme im Vorfeld des EU-Referendum am Donnerstag.
Es war kein Zufall, dass der Führer der Partei für die Unabhängigkeit Großbritanniens (UK Independence Party, UKIP), Nigel Farage, ein Foto vom Oktober 2015 von hunderten Flüchtlingen, die die Grenze zwischen Kroatien und Slowenien überqueren, für das Vote Leave Kampagnenplakat nutzte und mit den Worten „Breaking Point“ versah.
Aber jetzt, da Großbritannien beschlossen hat, die EU zu verlassen, was sind die Konsequenzen für Flüchtlinge und Asylsuchende?
Die direkten Auswirkungen des Brexit werden sich natürlich auf europäische MigrantInnen in Großbritannien und auf britischen MigrantInnen in der EU beziehen. Die britische Politik gegenüber Asylsuchenden wird weitgehend unbeeinflusst bleiben. Das Land hat seit langem seine Zurückhaltung aus den meisten EU-Asylpolitiken beibehalten, einschließlich der im September letzten Jahres verabschiedeten Vereinbarung, dass die Mitgliedstaaten 60.000 Asylsuchende aus Griechenland und Italien aufnehmen würde. Die Ausnahme ist die Dublin-Verordnung, die Großbritannien erlaubt, Asylsuchende in das Land zurückzusenden, in dem sie nach der Ankunft in Europa zuerst registriert wurden. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Mitgliedstaaten der Rücknahme von Asylsuchenden aus Großbritannien im Zuge des Referendums zustimmen.
Ein bilaterales Abkommen mit Frankreich, das Großbritannien die Umsetzung von Grenzkontrollen auf französischem Boden erlaubt, hat geholfen zu verhindern, dass tausende MigrantInnen und Flüchtlingen, die in Calais ausharren, die britische Küste erreichen. Obwohl das Abkommen unabhängig von der EU getroffen wurde, haben französische PolitikerInnen dies in den letzten Tagen und als Folge des Referendumsergebnisses als politisch unhaltbar beschrieben.
Die Europa-Direktorin des Migration Policy Institute, Elizabeth Collett sagte, dass die nahezu unmögliche Aufgabe der EU, die Mitgliedstaaten dazu zu bringen, einer Migrations- und Asylpolitik zuzustimmen, durch den Austritt Großbritanniens vereinfacht werden könnte. Auf der anderen Seite kann die EU den britischen Einfluss auf wichtigste Herkunftsländer wie Nigeria und Pakistan verlieren, die zu 16 Schwerpunktländern gehören, mit denen die EU zur Eindämmung von Migration zusammenarbeiten möchte.
Änderung der politischen Landschaft
Die weitreichendsten Auswirkungen des Referendums für Flüchtlinge ist wahrscheinlich die Art und Weise, wie es die politische Landschaft in Großbritannien wie auch anderswo in Europa verändert.
In Großbritannien scheint eine Verschiebung nach rechts sowohl in der regierenden konservativen Partei als auch der oppositionellen Labour Partei unvermeidlich. Das Ergebnis, wie Flüchtlinge unterstützende Gruppen befürchten, wird ein Zurückrollen von Rechten für Asylsuchende sein.
„Großbritannien war zurückhaltende zu vielen der wichtigsten Entwicklungen [zu Flüchtlingen] in der EU, aber ich denke, es wird Auswirkungen auf die Rechte von Asylsuchenden innerhalb Großbritanniens haben“, kommentierte Andrew Geddes, Co-Direktor der Social Sciences Migration Research Group an der Sheffield Universität.
Er wies darauf hin, dass Innenministerin Theresa May, die als eine starke Anwärterin für die Nachfolge von David Cameron als Premierminister eingeschätzt wird, dazu aufgerufen hat, dass Großbritannien die Europäische Menschenrechtskonvention verlässt, die von der EU getrennt ist. Die Konvention gibt Asylsuchenden zunehmend Anfechtungsrechte und rechtlichen Schutz, insbesondere gegen erzwungene Rückführung.
In einer Erklärung als Reaktion auf das Ergebnis des Referendums hat die britische NGO Refugee Action am Freitag geschrieben: „Kein/e Mainstream-PolitikerIn sprach gegen Großbritannien als sicherer Hafen. Aber es fühlt sich heute in Gefahr an.“
Bestätigt werden solche Ängste durch Berichte über einen starken Anstieg rassistischer Vorfälle und Hassreden in Sozial Medien gegen MigrantInnen und Flüchtlinge am Wochenende. Geddes weist darauf hin, dass die britische EU-Skepsis weniger mit der Flüchtlingskrise verbunden ist als mit der EU-Skepsis in Ländern wie Italien oder Schweden, „wo der effektive Zusammenbruch des Schengenraums und die Unfähigkeit [der EU], auf die Flüchtlingskrise zu reagieren, gefühlt wird“ und Flüchtlinge zum Sündenbock für „tiefere europäische Probleme“ werden.
„Ich denke, das Risiko [von Brexit] ist, dass es ein negatives Bild in ein noch negativeres wendet”, sagte er IRIN. “Die Lehren, die die EU vom Brexit zu lernen scheint, ist die Notwendigkeit, härter zu Migration zu sein.”
Änderung in der Politik?
Alexander Betts, Direktor des Refugee Studies Centre der Oxford Universität ist auch besorgt über das Signal, das Brexit an den Rest Europas sendet, wo das, was auf dem Spiel steht, nicht nur Immigration innerhalb der EU ist, sondern die Asylpolitik der EU.
“Europas PolitikerInnen werden sich ansehen, was mit Brexit passiert ist und wahrscheinlich erkennen, dass Stimmen durch den Versuch gewonnen werden können, an die schlimmsten Gefühle der Angst und Entfremdung zu appellieren und die EU und die Einwanderung zum Sündenbock zu machen“, sagte er.
Wenn der weitere Anstieg der rechten, euroskeptischen Parteien in Ländern wie den Niederlanden, Dänemark, Österreich und Frankreich zu mehr Referenden und einer weiteren Fragmentierung der EU führt, können Flüchtlinge und Asylsuchende zu den Verlierern gehören.
Die meisten EU-Mitgliedsstaaten sind an die EU-Richtlinien zu Asyl gebunden, die Mindeststandards für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylprozesse festgelegen. In der Theorie, erklärt Betts, sollen die Richtlinien dazu dienen, „die Standards zu harmonisieren und den Wettlauf nach unten zu verhindern“.
In der Praxis brach das sogenannte Gemeinsame Europäische Asylsystem im letzten Jahr weitgehend zusammen, dies unter dem Druck der Zahlen und der Zurückhaltung der Mitgliedstaaten, die Verantwortung für Asylsuchende, die in südlichen Staaten ankommen, gleichmäßiger zu teilen.
„Die Fähigkeit der EU, die Teilung von Verantwortung zu koordinieren, hat sich aufgetrennt; wir haben eine Reihe von Fehlern gesehen“, sagte Betts. “Einige der positiveren Entwicklungen kamen durch einzelne Ländern… Die Arten des Engagements, die Schweden und Deutschland in verschiedenen Stadien gemacht haben, stammen nicht aus der EU.“
Die Verpflichtungen von Ländern gegenüber Flüchtlingen sind in erster Linie durch das internationale Flüchtlingsrecht geprägt, auch wenn diese Verpflichtungen durch die EU-Gesetzgebung verstärkt werden.
„Es gibt keine Zwangsläufigkeit, dass eine Behauptung der Souveränität keine Solidarität mit Flüchtlingen bedeutet“, sagte Betts. „Ich glaube nicht, dass es eine Zwangsläufigkeit gibt, dass der Brexit zu einer Reduzierung unseres kollektiven Engagements für den Flüchtlingsschutz führen muss.”
“Die größte Bedrohung, glaube ich, kommt aus der Richtung, in die die britischen und europäischen Politiken gehen.”
Dieser Beitrag ist aus dem Englischen übersetzt und ursprünglich unter dem Titel What does Brexit mean for refugees? auf IRIN veröffentlicht worden. IRIN ist nicht verantwortlich für die Richtigkeit der Übersetzung.
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(c) Feature Image: Ulrike Krause