Von Judith Kohlenberger, Isabella Buber-Ennser, Konrad Pędziwiatr, Bernhard Rengs, Bernhard Riederer, Ingrid Setz, Jan Brzozowski, Olena Nahorniuk
Die soziodemographische Zusammensetzung von Geflüchteten unterscheidet sich meist von der Bevölkerung des Herkunftslandes. Dies liegt daran, dass sich bestimmte Personengruppen eher dafür entscheiden, das Land zu verlassen, als andere, und auch eher über die notwendigen Ressourcen, Netzwerke und Informationsquellen verfügen, diese Entscheidung in die Tat umzusetzen. Auf Basis von zwei aktuellen Rapid-Response-Erhebungen gibt dieser Beitrag einen Überblick über die wichtigsten soziodemographischen Merkmale ukrainischer Geflüchteter in Österreich und Polen. Im Ländervergleich zeigt sich: Je weiter Ukrainer*innen in den Westen geflohen sind, desto höher sind ihr Humankapital und ihr sozioökonomischer Hintergrund und desto geringer ihre Rückkehrabsichten.
Bis einschließlich September 2022 sind fast sieben Millionen Ukrainer*innen, vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen, aufgrund des russischen Angriffskrieges in europäische Länder geflohen. Nachbarländer wie Polen, die Slowakei und Ungarn, aber auch westeuropäische Länder wie Deutschland und Österreich haben Tausende Geflüchtete aufgenommen und bieten ihnen Unterkunft sowie Zugang zu Gesundheitsversorgung, Arbeitsmarkt und Bildung. Zu Beginn des Sommers hatte Polen etwa 2,2 Millionen ukrainische Geflüchtete aufgenommen, etwa 69 % von ihnen lebten in den zwölf größten polnischen Städten. Die Ankünfte in Österreich waren deutlich geringer: Bis Mitte Juni 2022 wurden rund 72.000 ukrainische Geflüchtete registriert, viele davon in der Hauptstadt Wien.
Um sowohl Integration als auch mögliche Rückkehr bestmöglich zu unterstützen, benötigen staatliche Stellen, humanitäre Organisationen und die Zivilgesellschaft zuverlässige Daten über jene Menschen, die die Ukraine verlassen haben. Erste Erkenntnisse aus Online-Umfragen und qualitativen Interviews deuten auf eine hohe Selbstselektion unter ukrainischen Geflüchteten in Europa hin. Zwei groß angelegte Rapid-Response-Erhebungen, die zwischen April und Juni zeitgleich in Krakau (Polen, n=500) und Wien (Österreich, n=1.094) durchgeführt wurden, liefern nun weitere Erkenntnisse. In Krakau wurde die Datenerhebung an verschiedenen Registrierungsstellen für ukrainische Geflüchtete durchgeführt, in Österreich erfolgte sie im offiziellen Ankunftszentrum der Stadt Wien. Erhoben wurde primär mittels Paper-and-Pencil-Fragebögen (PAPI), in Österreich wurde über QR Codes auch Zugang zu einer Onlineversion des Fragebogens ermöglicht.
Hohes Humankapitel der ukrainischen Geflüchteten
In soziodemografischen Merkmalen unterscheiden sich die Geflüchteten erheblich von der Gesamtbevölkerung der Ukraine vor Ausbruch des Krieges (vgl. Abbildungen 1 und 2). Sie sind zumeist weiblich und im jungen oder mittleren Erwachsenenalter oder Kinder. Dies spiegelt wider, dass Männer im wehrpflichtigen Alter – mit wenigen Ausnahmen – die Ukraine nicht verlassen dürfen. Der Anteil der Frauen, die mit ihren Partnern ankamen, ist in Österreich unerwartet hoch und deutlich höher als in Polen. Dies könnte an der Staatsbürgerschaft dieser Partner liegen (darunter russische Staatsangehörige im Falle bi-nationaler Ehen) als auch daran, dass ukrainische Männer, die unter die Ausnahmen zur Wehrpflicht fallen oder desertierten, eine größere Distanz zur Ukraine schaffen wollten.
Abbildung 1: Alterspyramide der ukrainischen Geflüchteten in Krakau und Wien
Anmerkung: Die Alterspyramiden beinhalten Befragte, sowie deren Partner*innen und Kinder, die mit nach Polen/Österreich gekommen waren.
Abbildung 2: Alterspyramide der ukrainischen Bevölkerung Anfang 2022
Quelle: Staatlicher Statistikdienst der Ukraine, 2022
Die Selbstselektion der Flüchtlingskohorte scheint mit zunehmender Entfernung vom Heimatland ausgeprägter zu sein. Der Anteil der Personen mit tertiärem Bildungsabschluss ist unter den Befragten in Österreich deutlich höher als in Polen. In der ukrainischen Bevölkerung im Alter hatten im Jahr 2019 rund 30% der 25-64-Jährigen einen Bachelor- oder einen höheren tertiären Bildungsabschluss. Unter den befragten ukrainischen Geflüchteten und deren Partner*innen beträgt dieser Anteil 66 % in Krakau und 83 % in Wien, wie in Abbildung 3 zu erkennen ist. Außerdem zeigt sich, dass entsprechend ihres hohen Bildungsniveaus zwei Drittel der befragten Geflüchteten in Österreich und ein Drittel in Polen angaben, Englisch zu sprechen.
Abbildung 3: Anteil der Hochschulabsolvent*innen unter den weiblichen und männlichen ukrainischen Geflüchteten im Alter 25-64 Jahren in Krakau und Wien
Anmerkung: Die Abbildung umfasst sowohl die Befragten als auch ihre Partner*innen, sofern sie mit nach Polen/Österreich gekommen sind. Quelle: Staatlicher Statistikdienst der Ukraine (2019). Soziale und demografische Merkmale der Haushalte in der Ukraine. Kiew.
Urbane Mittelschicht
Rund 30 % der ukrainischen Geflüchteten in der Wiener Stichprobe stammen aus Kiew, während der Anteil dieser urbanen Bevölkerung in der Krakauer Stichprobe nur etwa halb so hoch ist. Umgekehrt kommen unter den in Polen befragten Personen mehr aus den Regionen Charkiw, Dnipro und Donezk als im österreichischen Sample. Dies könnte an den verfügbaren (finanziellen) Ressourcen sowie dem Vorhandensein internationaler Kontakte in Form von ehemaligen Geschäftsbeziehungen oder Studienkolleg*innen liegen, über die Personen aus der höher gebildeten, urbanen Mittelschicht eher verfügen als jene aus dem ruralen Raum, wo das formale Bildungsniveau im Schnitt niedriger ist. Die Tatsache, dass sich mehr als die Hälfte der Ukrainer*innen in Österreich selbsteingeschätzt auf einer fünf-teiligen Skala zur Oberschicht oder oberen Mittelschicht zählen, deutet ebenfalls auf dieses Muster der Selbstselektion hin. (Anmerkung: Für die Selbsteinschätzung gab es folgende Antwortmöglichkeiten: Oberschicht, obere Mittelschicht, untere Mittelschicht, Arbeiterklasse, Unterschicht.)
Diese Selbstselektion spiegelt sich auch in den Gründen für die Ziellandwahl wider. Diejenigen, die weiter als in die Nachbarländer flohen, konnten sich vermutlich häufiger auf persönliche und berufliche Netzwerke stützen. Für die Ukrainer*innen, die nach Österreich gingen, waren Netzwerke von Freund*innen, Bekannten und Kolleg*innen (42 % bzw. 16 % in Polen) relevant, weniger oft Familienmitglieder im Ausland (22 %). Somit scheint auch die bestehende Diaspora ein Faktor für die hohe Selbstselektion jener Geflüchteter, die bis nach Österreich gekommen sind, zu sein.
Als weitere Gründe für die Wahl Österreichs als Aufnahmeland wurden die hohe Lebensqualität, ein gut funktionierender Sozialstaat und Unterstützungsstrukturen, frühere Aufenthalte als Tourist*innen oder Studierende sowie Deutschkenntnisse genannt. Dieser Grad an Bekanntheit und Vertrautheit mit dem Aufnahmeland ist ungewöhnlich im europäischen Kontext. Frühere Flüchtlingskohorten aus Syrien, dem Iran oder Afghanistan wiesen zwar einen (hohen) Grad an Selbstselektion in Bezug auf Bildung und sozialen Status auf, jedoch fielen ihr Kenntnisse um und vor allem ihre Möglichkeiten zur aktiven Wahl des Aufnahmelandes wesentlich geringer aus. Dies könnte unter anderem aufgrund fehlender legaler Fluchtmöglichkeiten und de facto Grenzschließung mancher europäischen Staaten liegen. Für politische Entscheidungsträger*innen und Behörden können aktive Ziellandwahl und Vertrautheit mit der Aufnahmegesellschaft Erleichterungen bei der späteren, mitunter dauerhaften Eingliederung bringen.
Dauerhafte Wohnraumbeschaffung als Herausforderung
Entsprechend ihres sozioökonomischen Hintergrunds war ein hoher Anteil der Geflüchteten in der österreichischen Stichprobe zumindest vorübergehend in der Lage, eine Wohnung oder ein Zimmer zu mieten (60 % versus 39 % in Krakau). Im Vergleich dazu lebte zum Zeitpunkt der Befragung ein größerer Anteil der Geflüchteten in Polen in Privatwohnungen, die von polnischen Bürger*innen zur Verfügung gestellt werden (33 % versus 19 % in Wien). Dies wird eine Herausforderung für die polnische Gesellschaft im Hinblick auf dauerhafte private Unterbringung darstellen. Finanzielle Unterstützung für die Anmietung von Wohnungen und Zimmern, die direkt an Ukrainer*innen und nicht an polnische Familien geht, wird notwendig sein. Darüber hinaus müssen finanzielle Hilfen, über die anfangs von der polnischen Regierung festgelegten 120 Tage hinaus verlängert werden, da sich die Wohnungssituation aufgrund der abnehmenden Verfügbarkeit von Gemeinschaftsunterkünften, wie Studierendenwohnheimen nach den Sommerferien, verschärfen wird.
Während langfristige Wohnmöglichkeiten für einige von ihnen in diesem Herbst zentral sein werden, möchten andere ukrainische Geflüchtete ehestmöglich zurückkehren. Ein beträchtlicher Anteil (34 %) in der Krakauer Stichprobe gibt an, aufgrund der Nähe zur Ukraine nach Polen geflohen zu sein. Daraus lässt sich ableiten, dass ein erheblicher Anteil unter ihnen zurückkehren will, sobald der Krieg vorbei ist – obwohl die Mehrheit der Befragten angab, sich in Polen sehr willkommen zu fühlen. Die Rückkehrabsichten sind bei denjenigen, die nach Österreich flohen, weniger ausgeprägt. Unter ihnen plant etwa die Hälfte, vorerst im Aufnahmeland zu bleiben, und ein Viertel ist sich nicht sicher, überhaupt (auch nach Ende des Kriegs) zurückkehren zu wollen. Einige wenige haben überhaupt keinerlei Absicht zurückzukehren (8 %).
Integration und Rückkehr unterstützen
Dieses differenzierte Bild untermauert die rezenten Empfehlungen seitens der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Sozial- und Integrationspolitik mit „dual intent“ anzubieten. Im Idealfall schaffen Aufnahmeländer Unterstützungsmaßnahmen, die sowohl die Integration der Ukrainer*innen in die Residenzgesellschaft als auch ihre potenzielle Rückkehr- und Wiedereingliederungsbemühungen in der Ukraine fördern. Dies erscheint einigermaßen intuitiv für Erwerbstätigkeit und (Weiter-)Qualifizierung, da Studien zeigen, dass lange Zeiten der Arbeitslosigkeit zu einer dauerhaften Erosion des Humankapitals und einer nachhaltigen sinkenden Motivation führen, was sich auch auf Rückkehr ins und Wiederaufbau des Herkunftslandes auswirken kann.
Für die (west-)europäischen Aufnahmeländer bedeutet der Zustrom hochqualifizierter Geflüchteter, dass eine rasche Anerkennung ihrer akademischen Abschlüsse von entscheidender Bedeutung sein wird, um große Mismatches zwischen mitgebrachten Qualifikationen und ausgeübter Tätigkeit im Aufnahmeland zu verhindern. Da Dequalifikation bei (geflüchteten und migrantischen) Frauen noch ausgeprägter ist, sollte die überwiegend weibliche Flüchtlingsbevölkerung aus der Ukraine mit kostenloser Kinderbetreuung, berufsbegleitender Weiterbildung und flexiblen Arbeitszeiten unterstützt werden, einschließlich einer Fortsetzung der pandemiebedingten Homeoffice-Arbeit. Für Arbeitgeber*innen gilt, bei der Einstellung von hoch qualifizierten Ukrainer*innen, die vielleicht (noch) nicht die Sprache des Aufnahmelandes sprechen, sich aber ausreichend auf Englisch verständigen können, Flexibilität zu zeigen. Angesichts des Arbeitskräftemangels in vielen europäischen Ländern, insbesondere in der Altenpflege, im Tourismus und im Gastgewerbe, werden sich Investitionen in Spracherwerb und Weiterqualifizierung am Arbeitsplatz rasch rentieren. Von Beginn an sollten Diaspora-Gemeinschaften in die Integrationsbemühungen für ukrainische Geflüchtete einbezogen werden. Ihr Beitrag zur Erstorientierung und Arbeitssuche von neu Angekommenen kann erheblich sein.
Besonderheiten der ukrainischen Fluchtbewegung
Die vorliegenden Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Europa mit einer höchst selbstselektiven Fluchtmigration aus der Ukraine konfrontiert ist, was Rückschlüsse auf zu erwartende Herausforderungen und Chancen in punkto (Arbeitsmarkt-)Integration, etwa bei der Anerkennung von Abschlüssen, erlaubt. Erste Einblicke in den Vergleich Wien-Krakau legen nahe, dass je weiter ukrainische Vertriebene in den Westen geflohen sind, desto höher ihr sozioökonomischer Hintergrund ist und desto wahrscheinlicher ihre dauerhafte Niederlassung im Aufnahmeland wird. Hier wird weitere vergleichende Forschung in europäischen Kontext nötig sein, um dieses Muster zu bestätigen.
Die aktive Wahl des Aufnahmelandes und die Vertrautheit mit diesem können als weitere Besonderheiten der rezenten ukrainischen Fluchtbewegung angesehen werden. Andere Merkmale der Selbstselektion wie höheres Sozialkapital, das Vorhandensein von „Brückenköpfen“ in Form der Diaspora und die Abhängigkeit von finanziellen und sozialen Ressourcen waren und sind auch bei anderen Flüchtlingskohorten zu beobachten. Die empirischen Daten zeigen somit konsistente assortative Muster in Dynamik, Ablauf und Zusammensetzung von Fluchtbewegungen nach (West-)Europa, die in Kontexten der regulären und Arbeitsmigration bereits umfassender belegt sind. Aufnahmeländer sollten sich der speziellen Charakteristika der ukrainischen Geflüchtetenpopulation bewusst sein und ihre Integrationspolitik entsprechend adaptieren, indem sie diese auf die soziodemographische Zusammensetzung der Ankommenden, ihre Rückkehr- und Bleibeabsichten und ihre Bekanntheit mit dem Aufnahmeland bzw. der bereits ansässigen Diaspora abstimmen.
Eine englische, gekürzte Version dieses Artikels erschien auf dem Blog der London School of Economics.
Judith Kohlenberger ist Universitätsassistentin (post-doc) am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien.
Konrad Pędziwiatr ist Professor an der Cracow University of Economics in Polen, Forscher am Center for Advanced Studies of Population and Religion und Koordinator des Multiculturalism and Migration Observatory.
Bernhard Rengs ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wiener Institut für Demographie (OeAW), Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (IIASA, OeAW, Universität Wien) und Lehrbeauftragter am Institut für Mathematische Methoden der Wirtschaftswissenschaften der Technischen Universität Wien.
Bernhard Riederer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wiener Institut für Demographie (OeAW), Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (IIASA, OeAW, Universität Wien) und am Institut für Soziologie der Universität Wien.
Ingrid Setz ist Doktorandin am Wiener Institut für Demographie (OeAW), Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (IIASA, OeAW, Universität Wien).
Isabella Buber-Ennser ist Leiterin der Forschungsgruppe „Demography of Austria (DoA)“ am Wiener Institut für Demographie (OeAW), Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (IIASA, OeAW, Universität Wien).
Jan Brzozowski, PhD, ist assoziierter Professor an der Cracow University of Economics (Polen) und stellvertretender Direktor des Center for Advanced Studies of Population and Religion.
Olena Nahorniuk ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Nationalen Universität für Handel und Wirtschaft in Kiew und assoziierte Forscherin am Multiculturalism and Migration Observatory.