Was tun mit den Kindern auf der Flucht?

Die Zahl der Minderjährigen, die ohne Eltern oder andere Angehörige in der EU Schutz suchen, ist jüngst beträchtlich gestiegen. Ungleichgewichte bei der Aufnahme der „unbegleiteten Minderjährigen“ in den Mitgliedstaaten sind noch extremer, als bei erwachsenen AsylbewerberInnen, und viele Verfahrensaspekte unklar.

 

Während im Jahr 2011 rund 310.000 Asylanträge in den EU-Mitgliedstaaten gestellt wurden, waren es 2014 mit rund 627.000 Anträgen mehr als doppelt so viele. Parallel zu dieser Entwicklung ist auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die ohne Eltern oder andere Erziehungsberechtigte in die EU einreisen und Schutz suchen, deutlich angestiegen. 2011 stellten in allen EU-Staaten zusammen genommen rund 11.700 unbegleitete Minderjährige einen Asylantrag; 2014 waren es mit rund 23.100 fast doppelt so viele.

Die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen (UM) verteilt sich dabei höchst ungleich auf die einzelnen EU-Staaten. Eurostat zufolge wurden im Zeitraum 2012 bis 2014 die mit Abstand meisten Asylanträge in Schweden gestellt, insgesamt 14.480. Deutschland folgte an zweiter Stelle (8.980), gefolgt von Österreich, Italien und dem Vereinigten Königreich, die jeweils an die 4 300 UM zählten. In Ländern wie der Slowakei, Tschechien sowie den baltischen Staaten war die Ankunft von unbegleiteten Minderjährigen dagegen ein nahezu unbekanntes Migrationsphänomen; im Dreijahrenzeitraum von 2012 bis 2014 wurden dort jeweils weniger als 100 UM gezählt. Die oft beklagte ungleiche Verteilung von Asylbewerbern unter den Staaten der EU war damit bei unbegleiteten Minderjährigen noch deutlicher ausgeprägt, als bei erwachsenen Asylbewerbern (Siehe Grafik).

 

Grafik: Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger in den EU-Staaten, 2014

 ParuselGrafik

Quelle: Eurostat

 

Wenig bekannt ist außerdem, dass auch unbegleitete Minderjährige nach Europa kommen, die keinen Asylantrag stellen und damit statistisch kaum sichtbar werden. Insbesondere in Italien und Spanien bleiben viele unbegleitete Minderjährige außerhalb der Asylverfahren. Das Europäische Migrationsnetzwerk hat kürzlich einige Daten in einer vergleichenden Studie mit statistischem Anhang veröffentlicht. Italien nahm demnach im Jahr 2013 fast 8.500 unbegleitete Minderjährige auf, die keinen Asylantrag stellten.

Auch in Deutschland verzichten viele neu einreisende UM auf Asylanträge. Insbesondere in Fällen, in denen Vormünder oder Betreuer davon ausgehen, dass ein Asylgesuch voraussichtlich erfolglos bleibt, wird von der Antragstellung abgesehen. Stattdessen wird versucht, bei der Ausländerbehörde ein vorläufiges Aufenthaltsrecht zu erwirken. In den meisten Fällen wird dort lediglich eine Duldung ausgestellt. Im Jahr 2013 wurden fast 6.600 Kinder und Jugendliche aufgrund „unbegleiteter Einreise aus dem Ausland“ von Jugendämtern  in Obhut genommen, „nur“ knapp 2.500 aber stellten einen Asylantrag.

 

Ziel- und Herkunftsländer

Jenseits der Grenzen der EU sind noch weit mehr unbegleitete Minderjährige auf der Flucht. Die Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen (UNHCR) hat weltweit in 77 Staaten Zahlen zu Asylanträgen unbegleiteter Minderjähriger gesammelt und kommt dabei für das Jahr 2013 auf eine Gesamtzahl von fast 25,000. In der EU waren es im gleichen Jahr 12.730. Weltweit waren die fünf Hauptzielländer der Minderjährigen Kenia, Schweden, Deutschland, Malaysia und Großbritannien, wobei die wichtigsten Ursprungsländer Afghanistan, Südsudan, Somalia, DR-Kongo und Burma waren. Während unbegleitete Minderjährige aus Afghanistan überwiegend in der EU Zuflucht suchten, flohen sie aus dem Südsudan vornehmlich in das Nachbarland Kenia. Für andere wichtige Zielstaaten, etwa die USA oder Südafrika, liegen keine exakten Asyldaten vor, so dass die weltweiten Zahlen des UNHCR lückenhaft bleiben. In den USA wurden jedoch laut UNHCR im Jahr 2013 über 41.000 unbegleitete Minderjährige von den Grenz- und Zollbehörden aufgegriffen, die überwiegend aus Mexiko, El Salvador, Guatemala und Honduras kamen.

 

Fluchtursachen und -hintergründe

Warum sich Kinder ohne Eltern oder andere erwachsene Angehörige auf die Flucht begeben, ist ungenügend erforscht. Die oben genannte Studie des EMN kommt zu dem Ergebnis, dass  sie oft vor Notsituationen fliehen, die auch Erwachsene betreffen können, wie Bürgerkriege und Konflikte, Armut und Naturkatastrophen. Auch politische Verfolgung, etwa aufgrund der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Gruppe, kommt vor. Daneben gibt es auch kinder- und jugendspezifische Fluchtgründe, beispielsweise drohende Genitalverstümmelung oder Zwangsheirat bei Mädchen. Kinder können zudem von Ausbeutung, Sklaverei oder Kinderarbeit betroffen sein, Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung oder auch Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten.

Ferner kommen diffusere Motivationen in Frage; mitunter wählen Familien ein Kind aus, das in der Erwartung nach Europa geschickt wird, dass es dort sicherer leben, sich eine Ausbildung verschaffen oder arbeiten und später durch Rücküberweisungen zum Lebensunterhalt der Familie beitragen kann. So kam eine Feldstudie in Afghanistan 2014 zu dem Ergebnis, dass Kinder ihre Fluchtentscheidung oft nicht alleine treffen, sondern dass häufig Familienoberhäupter beteiligt sind. Familien legen Ersparnisse zusammen, um ein Kind auf die Reise zu schicken.

 

Schutzgewährung und prekäre Aufenthaltsformen in der EU

In Deutschland wird unbegleiteten Minderjährigen seit einigen Jahren weit häufiger Schutz gewährt als erwachsenen AsylantragstellerInnen. 2013 bekam rund ein Viertel aller AsylbewerberInnen Flüchtlingsschutz, Asyl nach dem Grundgesetz oder einen subsidiären Schutzstatus; bei unbegleiteten Minderjährigen war die Schutzquote mit 57 % mehr als doppelt so hoch. Obwohl die Schutzquote in früheren Jahren niedriger war, bekommen nach wie vor viele unbegleitete Minderjährige keinen sicheren Status. Für viele bleibt nur die Duldung – rechtlich gesehen eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung.

Unsicherheiten und das Risiko von Schutzlücken bestehen auch deshalb, weil viele der unbegleiteten Minderjährigen bei der Einreise keine Identitätsdokumente mit sich führen und somit ihr Alter nicht nachweisen können. Ab 16 Jahren sind Jugendliche in Deutschland aufenthaltsrechtlich handlungsfähig (§ 80 Aufenthaltsgesetz), zivilrechtlich gilt jedoch jede Person unter 18 Jahren als minderjährig, und diese Altersgrenze gilt auch für Kinder- und Jugendhilfemaßnahmen. Um zu klären, ob ein Jugendlicher, bei dem die Altersfrage nicht auf der Basis von Papieren geklärt werden kann, Jugendhilfemaßnahmen braucht, und ob ein Vormund bestimmt werden muss, greifen die Behörden daher auf „fiktive Altersfestsetzungen“ zurück. In den EU-Staaten, aber auch in Deutschland, kommen unterschiedlichste Techniken vor. Ärztliche Untersuchungen einschließlich Röntgen­auf­nahmen sind in zahlreichen EU-Staaten gängige Praxis, psychologische Alterseinschätzungen eher selten.  Manche medizinische Verfahren sind indes umstritten, denn beispielsweise gibt es für Röntgenaufnahmen zur Altersfestsetzung keine medizinische Indikation, sodass entsprechende Untersuchungen als unzulässig eingestuft werden können.

 

Spannungsfelder zwischen Kinderrechten und Restriktionen

Diese und weitere Probleme des Umgangs mit unbegleiteten Minderjährigen in Europa verweisen auf ein Spannungsfeld zwischen Kindeswohl und Kinderrechten auf der einen und aufenthaltsrechtlichen Restriktionen auf der anderen Seite. Die Zielstaaten unbegleiteter Minderjähriger haben ein Interesse daran, Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen. Es soll vermieden werden, durch generöse Praktiken neue „Pull-Faktoren“ zu schaffen. Auf der anderen Seite stehen Kinder unter besonderem Schutz, was durch internationale Übereinkommen wie die UN-Kinderrechtskonvention verbindlich festgelegt ist.

Aus diesem Antagonismus ergibt sich, dass die Praktiken und Verfahren, mit denen Zuflucht suchende unbegleitete  Minderjährige in Deutschland und anderen Ländern konfrontiert sind, umstritten sind und immer wieder hinterfragt werden. Die Zusammenarbeit auf EU-Ebene ist über erste Schritte bislang kaum hinausgekommen. 2010 nahm die EU-Kommission jedoch einen Aktionsplan für unbegleitete Minderjährige an, der unter anderem die Notwendigkeit der Prävention unsicherer Migration, vermehrte Anstrengungen zur Suche nach Familienangehörigen von unbegleiteten Minderjährigen, eine kindgerechtere Gestaltung der Asylverfahren und die Bereitstellung adäquater Unterbringungs- und Betreuungsmöglichkeiten betont. Auch forderte sie die Mitgliedstaaten auf, unbegleiteten Minderjährigen, die nicht zurückgeführt werden können, einen sicheren rechtlichen Status zu geben.

Die Situation unbegleiteter Minderjähriger wird in der Öffentlichkeit heute stärker thematisiert, als es früher der Fall war, auch weil die Zugangszahlen weiter steigen. Gleichwohl bedarf es weiterhin einer genaueren Auseinandersetzung mit den Schutzansprüchen von unbegleiteten Minderjährigen und ihren Integrationsperspektiven. In der fachlichen Diskussion kommt zudem die grundsätzliche Überlegung oft zu kurz, dass der Zuzug von unbegleiteten Minderjährigen angesichts der demographischen Veränderungen in vielen Mitgliedstaaten stärker als eine Chance, und nicht primär als Bürde für die Asyl- und Sozialsysteme, gesehen werden müsste. Minderjährige, die es schaffen, alleine nach Europa zu kommen, und in einer oft abweisend wirkenden Gesellschaft Fuß zu fassen, sind oft starke Individuen mit bedeutenden Potentialen. Ihr Wohl und ihr Schutzbedarf müssen im Vordergrund stehen; die aufnehmenden Gesellschaften sollten sie nicht in zweifelhafte rechtliche Konstrukte wie die Duldung schieben oder neue Zugangshürden errichten.

 

Dieser Beitrag ist eine Kurzfassung meines Artikels „Unbegleitete Minderjährige auf der Flucht“, der in der Ausgabe „Flucht und Asyl“ (Nr. 25/2015) der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ veröffentlicht wurde.

 

Photo Credits:

(c) Bernd Parusel

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