Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich für die Situation Geflüchteter verantwortlich und wollen „helfen“. Im Zuge dieser „Helfer-„ bzw. „Willkommenskultur“ werden Flüchtlinge jedoch oft zu hilflosen „Opfern“ stilisiert, die keine eigene Stimme besitzen, um ihre Belange selbst zu äußern. Dabei gerät in Vergessenheit, dass durchaus schon seit einiger Zeit Anstrengungen der Geflüchteten bestehen, ihre Situation aus eigener Kraft zu verbessern und eigene politische Ziele zu artikulieren. „We Will Rise!“ lautete der Titel einer Ausstellung der Berliner Geflüchtetenbewegung zu vergangenen Protestaktionen, die vor kurzem in Berlin zu sehen war.
Anstatt „Ärger zu machen“ forderte Thomas de Maizière jedoch jüngst im Gegenzug für die deutsche „Willkommenskultur“ eine „Ankommenskultur“ von Seiten der Geflüchteten. Er sorgte für Empörung, als er AsylbewerberInnen, die sich über die unsagbaren Zustände in überbelegten Massenunterkünften beschwerten, Undankbarkeit und zu hohe Ansprüche vorwarf. Bleibt also kein Platz für die Stimmen der Geflüchteten im aktuellen Diskurs um die deutsche „Willkommenskultur“?
Und es gibt sie doch! Zu den Flüchtlingsprotesten der letzten Jahre
Vor dem Hintergrund des „Helfer“-Diskurses verwundert es kaum, dass die Versuche der Geflüchteten, ihre Situation aus eigener Kraft zu verbessern und selbst auf wahrgenommene Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen, oft ungehört bleiben. Nur selten berichten die Medien über selbstorganisierte Flüchtlingsproteste. Sie passen nicht recht ins Bild des hilflosen (und stimmlosen) „Opfers“ und stellen die aktuelle „Helferkultur“ in Frage.
Vereinzelt wurde in den letzten Monaten über vermeintlich sporadische und spontan organisierte Proteste von Flüchtlingen in Massenunterkünften berichtet, die laut Medien durch Unmut über ihre Unterbringungssituation motiviert waren oder eine schnellere Bearbeitung der Asylanträge forderten. So gut wie nie geben die Medien den geflüchteten Protestierenden jedoch eine Plattform, um ihre eigenen (auch politischen) Belange jenseits akuter humanitärer Notlagen zu äußern.
Dabei gehen Flüchtlingsproteste weit über spontane und unorganisierte Demonstrationen hinaus. FlüchtlingsaktivistInnen sind oft in feste Organisationsstrukturen eingebunden, die teilweise schon seit Jahren bestehen und deutschlandweit vernetzt sind, wie die Beispiele des The Voice Refugee Forum, Women in Exile oder Asylstrike Berlin zeigen. Im August 2015 fand eine „Refugee Conference“ in Hannover statt, zu der verschiedene Gruppen, wie Lampedusa in Hamburg aufgerufen hatten, und an der sich mehr als 100 Flüchtlinge aus ganz Deutschland beteiligten. Ziel der Veranstaltung war es, einen Austausch über vergangene Erfahrungen zu ermöglichen, Netzwerke zu schließen und zukünftige gemeinsame Aktionen zu planen.
Zudem erschien vor kurzem ein rund zweihundertseitiges, bebildertes „Movement Magazine“ der „revolutionären Flüchtlingsstreikbewegung“, das sich zum Ziel setzt, „die eigene Stimme der Widerstandskämpfer_innen nach außen“ zu tragen. Es stellt verschiedene Aktionen der FlüchtlingsaktivistInnen aus dem Umfeld der Besetzung des Berliner Oranienplatzes dar. Begonnen hatten diese Proteste im September 2012, als sich etwa 60 Geflüchtete auf einen 600 Kilometer langen Fußmarsch von Würzburg nach Berlin begaben, um auf ihre Belange aufmerksam zu machen. In Berlin angekommen errichteten die FlüchtlingsaktivistInnen ein Protestcamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz, das sowohl in den Medien als auch unter der Berliner Bevölkerung große Aufmerksamkeit erlangte. Bereits nach einigen Wochen schlossen sich etwa 6000 BerlinerInnen an, um für die Belange der FlüchtlingsaktivistInnen zu demonstrieren – die bis dato größte Demonstration für die Rechte von Flüchtlingen.
Der Oranienplatz wurde so in kürzester Zeit zum Symbol des Widerstandes, das den Geflüchteten als „Basislager“ diente, um sich politisch zu organisieren, zu solidarisieren, und um weitere Protestaktionen zu planen, unter anderem Demonstrationen, Hungerstreiks, eine deutschlandweite Bustour, die Besetzung der Nigerianischen Botschaft und der ehemaligen Gerhard-Hauptmann-Schule, in der bis heute rund zehn Geflüchtete leben.
Aufgrund der großen Anteilnahme unter der Bevölkerung und der medialen Berichterstattung gelang es dem Berliner Senat erst im April 2014, nach rund 18-monatiger Besetzung, eine Räumung des Oranienplatzes durchzusetzen. Nach Verhandlungen mit dem Berliner Senat und dem Versprechen einer Aufenthaltsgenehmigung erklärte sich ein Teil der Geflüchteten bereit, den Platz zu räumen. Dabei handelte es sich aber scheinbar um falsche Versprechungen: wie aus einem Bericht des Tagesspiegels hervorgeht, wurden die Asylanträge der meisten FlüchtingsaktivistInnen inzwischen abgelehnt.
Mit der Räumung des Oranienplatzes wurde auch das Symbol des Widerstands und der zentrale Ort der Selbstorganisation der FlüchtlingsaktivistInnen zerstört, was zur Aufsplitterung der Flüchtlingsgruppen in Berlin führte, die bis heute anhält. Auch wenn aktuelle Flüchtlingsproteste jenseits der Besetzung des Oranienplatzes in den Medien kaum sichtbar sind, setzen sie sich doch in vielfältigen Aktionen und an unterschiedlichen Orten fort.
Bereits während der Besetzung des Oranienplatzes folgten in ganz Deutschland ähnliche Aktionen Geflüchteter. Von München bis Hannover wurden weitere Protestcamps errichtet, denen jedoch kaum Aufmerksamkeit zukam. Im Sommer 2015 wurden zahlreiche Aktionen gegen die geplante Asylrechtsverschärfung durchgeführt. Jüngst besetzte eine Gruppe von etwa 40 Roma-Flüchtlingen den Hamburger Michel, um gegen ihre Abschiebung zu protestieren. In Nürnberg wurde ein Protestcamp errichtet, in welchem Geflüchtete im September in einen lebensgefährlichen Hungerstreik traten. Diese aktuellen Protestaktionen bleiben in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch so gut wie unsichtbar, da sie kaum Beachtung in den Medien finden. Im Zuge der aktuellen Berichterstattung über die FlüchtlingshelferInnen bleibt scheinbar kein Platz für die Proteste der Geflüchteten.
Zunehmend werden solche Flüchtlingsproteste auch zur Zielscheibe rechter und asylkritischer Stimmen. Sie wecken Ressentiments oder schüren Ängste vor chaotischen Zuständen, die die Ordnung in der deutschen Bevölkerung gefährden. Mit seinen Äußerungen zur Undankbarkeit und den hohen Ansprüchen der Geflüchteten trug Thomas de Maizière weiter dazu bei, dieses rechte Einstellungspotenzial in der Bevölkerung zu nähren. Umso wichtiger erscheint es, diesen Ängsten eine Berichterstattung über die Ziele und Inhalte der Flüchtlingsproteste entgegenzustellen.
Was wollen FlüchtlingsaktivistInnen und was können wir von ihnen lernen?
Im Gegensatz zur geringen Medienpräsenz, erhielten die Flüchtlingsproteste in der wissenschaftlichen Diskussion große Aufmerksamkeit. Das Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung „Movements“ gab jüngst eine Ausgabe zu Flüchtlingsprotesten heraus und das Institut für Protest- und Bewegungsforschung (IPB) veranstaltet Anfang November einen Workshop zum Thema „Refugee Mobilizations“, in dessen Rahmen aktuelle Entwicklungen diskutiert werden.
Dieses wissenschaftliche Interesse an Flüchtlingsprotesten wird oft damit begründet, dass Flüchtlingsproteste de jure unmöglich seien. Da es sich bei der politischen Teilhabe um ein Vorrecht der StaatsbürgerInnen handelt, sind Geflüchtete oder AsylbewerberInnen als „Nicht-BürgerInnen“ von dieser Teilhabe ausgeschlossen. Vor dem Gesetz des Nationalstaats stellen sie somit keine vollwertigen politischen Subjekte dar. Daher werden Flüchtlingsproteste als Form von politischem Protest diskutiert, der auf die Position der „Ausgestoßenen“ und „Rechtlosen“ aufmerksam zu machen sucht. In Anlehnung an Hannah Arendt, handle es sich um Aktionen, die „ein Recht, Rechte zu haben“ einfordern, und damit die exklusive politische Teilhabe im Nationalstaat anfechten. Hierzu zählen Rufe der FlüchtlingsaktivistInnen, wie „Abolish Residenzpflicht! Abolish ‚Lagers‘! Stop Deportations! Right to Work and Study!“ Im Kern werden mit den Flüchtlingsprotesten Forderungen laut, jene Regelungen abzuschaffen, die Geflüchtete im Vergleich zu StaatsbürgerInnenn als nicht-gleichberechtigte RechtsträgerInnen kennzeichnen, die sie also in eine niedrigere Machtposition bringen und sie in die Rolle des handlungsunfähigen „Opfers“ zwingen.
Ein weiteres „Recht, Rechte zu haben“ fordern die FlüchtlingsaktivistInnen mit dem Ruf „Freedom of Movement is Everybody’s Right“ ein. Sie protestieren für ein Grundrecht, das es jedem Menschen erlaubt, dort zu leben, wo er oder sie möchte, ganz gleich welcher Grund ihn oder sie dazu bewegt die Heimat zu verlassen. Dabei weisen die FlüchtlingsaktivistInnen darauf hin, dass dieses Recht nicht für alle Menschen in gleichem Maße gilt – territoriale Grenzen sind für manche Gruppen sichtbarer als für andere. Können sich die BürgerInnen der westlichen Industrieländer meist weltweit frei bewegen, wird den Menschen aus sogenannten „Entwicklungsländern“ dieses Recht oft abgesprochen. Um auf diese Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen, prangern die FlüchtlingsaktivistInnen also Gesetze an, die ihre Mobilität einschränken, wozu beispielweise die inzwischen weitgehend abgeschaffte Residenzpflicht, die Dublin-III-Verordnung und jegliche Form der Abschiebung zählen. Vor diesem Hintergrund fordern sie die Abschaffung von Grenzbarrieren mit Rufen, wie „No Border! No Nation! Stop Deportations!“.
Diese einschränkenden Gesetze nehmen die FlüchtlingsaktivistInnen als Teil eines fortdauernden globalen Systems der „Apartheid“ und des Fortbestehens des Kolonialismus wahr. In diesem Zusammenhang verweisen sie auf eine Mitverantwortlichkeit Deutschlands und weiterer Industrieländer an der Schaffung globaler Ungleichheiten, die Menschen erst dazu veranlassen, ihre Heimat zu verlassen. Sie weisen unter anderem auf die Ausbeutung lokaler Ressourcen und den Landraub in Entwicklungsländern, die Kooperation der deutschen Regierung mit Diktaturen und korrupten Regierungen oder den Waffenexport in Krisenregionen hin. Damit zeigen sie, dass ausbeuterische und koloniale Systeme weiterhin bestehen und benennen Aspekte, die in der einseitig positiven Berichterstattung über eine „Willkommenskultur“ oft ausgeblendet werden.
Passen die Stimmen Geflüchteter also in die aktuelle „Willkommenskultur“?
Die Stimmen der FlüchtlingsaktivistInnen erinnern uns daran, dass sie nach wie vor und trotz der vielgepriesenen „Willkommenskultur“ ungleich behandelt werden. Die Rechte der politischen Teilhabe und Freizügigkeit bleiben exklusive Vorrechte der deutschen BürgerInnen, während die Rechte der Geflüchteten durch verschiedene Gesetze eingeschränkt werden. Dies privilegiert BürgerInnen im Vergleich zu den „Nicht-BürgerInnen“, welchen ihre politische Stimme genommen wird. Dies lässt vermuten, dass die Flüchtlingsproteste mit der aktuellen „Helfer-“ beziehungsweise „Willkommenskultur“ unvereinbar sind.
Doch ist erstens auf die Vielfältigkeit der Positionen der Geflüchteten zu verweisen. Bei den beschriebenen FlüchtlingsaktivistInnen handelt es sich um eine Minderheit der Geflüchteten, die ihre Ansichten durch Proteste offen auf die Straße trägt. Aufgrund der vielfältigen Herkunftsorte und Erfahrungen sowie den diversen religiösen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründen gibt es auch unter den Geflüchteten viele verschiedene Visionen und politische Ansichten. Es darf also nicht davon ausgegangen werden, dass die FlüchtlingsaktivistInnen repräsentativ mit einer Stimme für alle Geflüchteten sprechen.
Zweitens setzen sich auch staatliche Stellen und ehrenamtliche FlüchtlingshelferInnen, die im Kontext einer „Willkommenskultur“ handeln, vermehrt zum Ziel, Geflüchtete über soziale Integration, Sprachkurse und Teilhabe an Bildung und Arbeitsmarkt zu gleichberechtigten BürgerInnen zu machen und eine tolerante und inklusive Gesellschaft zu gestalten. Diese Vision ähnelt durchaus den Zielen der FlüchtlingsaktivistInnen, auch wenn sich die Mittel zur Zielerreichung unterscheiden.
Drittens sind auch die Proteste der Geflüchteten in Unterstützerstrukturen (beispielsweise antirassistische Gruppierungen) eingebunden, die ihre Aktionen ermöglichen, „übersetzen“ und in der Folge beeinflussen. Laut Heather Johnson bedarf es immer der Solidarität der BürgerInnen, um den „Ausgeschlossenen“‘ Gehör zu verschaffen und einen Wandel vorhandener Strukturen anzustoßen. Nur durch eine Bewusstseinsänderung der BürgerInnen kann ein Wandel hin zu inklusiveren Gesetzen in unserem Nationalstaat gestaltet werden. BürgerInnen müssen daher die Rolle der ÜbersetzerInnen einnehmen, die die Forderungen der „Nicht-BürgerInnen“ in „legitime“ politische Stimmen verwandeln und die Aktionen der Geflüchteten wirksam machen. Wir sollten nur in Zukunft darauf achten, dass es die Stimmen der Geflüchteten selbst sind, die wir in den Mittelpunkt stellen.
Der Beitrag ist parallel auf dem Sicherheitspolitik-Blog und dem FlüchtlingsforschungsBlog erschienen.