Weg vom Eurozentrismus!

Ein Plädoyer für eine nachhaltige EU-Migrationspolitik in Afrika

Von Sebastian Prediger und Franzisca Zanker

 

Die aktuell von der EU verfolgte Migrationspolitik in Afrika basiert im Wesentlichen auf Abschottung und Bekämpfung der Symptome, statt der Ursachen der Wanderbewegungen. Damit wird sie den Ansprüchen einer nachhaltigen Migrationspolitik nicht gerecht und lässt die Potenziale einer gesteuerten Migration ungenutzt. Daher argumentieren wir in unserem Beitrag, dass die europäische Migrationspolitik in Afrika einen Richtungswechsel benötigt, bei dem die Interessen der Migranten und Flüchtlinge stärker berücksichtigt und die entwicklungs-, handels- und außenpolitischen Maßnahmen kohärenter aufeinander abgestimmt werden. Dies basiert auf einem vor kurzem erschienenen Essay.

 

Global betrachtet steigt die Zahl der internationalen Migranten seit Jahren kontinuierlich an und lag nach Angaben des aktuellen Migrationsberichts der Vereinen Nationen Ende 2015 bei 244 Millionen. Auch die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, ist in den letzten Jahren stark angestiegen und lag Ende 2015 bei 65,3 Millionen. Dazu zählen Flüchtlinge, Asylsuchende, Staatenlose und die mit 40,8 Millionen bei Weitem größte Gruppe der Binnenvertriebenen. Dabei ist allerdings folgendes anzumerken: Erstens, Migration und Wanderbewegungen sind kein neues Phänomen, sondern so alt wie die Menschheit selbst. Zweitens und entgegen der in Europa weitverbreiteten Annahme eines „Exodus“ aus Afrika bleibt die Mehrheit der afrikanischen Flüchtlinge und Migranten bislang auf ihrem Heimatkontinent. Gemäß des aktuellen Global Trends-Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks fanden 2015 neun von zehn internationale Flüchtlingen Schutz in Entwicklungs- und Schwellenländern. Knapp jeder dritte Flüchtling war afrikanischer Herkunft. 86 Prozent jener fanden in einem anderen afrikanischen Land Zuflucht und nur ca. 7,5 Prozent flohen nach Europa. Die meisten Flüchtlinge befanden sich also in ärmeren Länder fernab von Europa.

Was wird in Europa angesichts dieser Migrations- und Fluchtdynamiken getan? Die aktuelle europäisch-afrikanische Migrationspolitik wird über verschiedene Dialoge und Abkommen umgesetzt. Dazu zählen regionale Prozesse, wie beispielsweise der seit 2014 bestehende Khartum Prozess im Zuge dessen vor allem Aspekte der Grenzsicherung und Eindämmung „irregulärer Migration“ verhandelt werden, sowie bilaterale Migrations- und Mobilitätspartnerschaftsabkommen. Große politische Symbolkraft hat der Valletta-Gipfel, der am 11. und 12. November 2015 stattfand. Über 60 Staats- und Regierungschefs aus AU- und EU-Ländern kamen in Valetta zusammen, um einen Aktionsplan und Notfall-Treuhandfonds zur Grenzsicherung, Stabilisierung und Bekämpfung der Ursachen irregulärer Migration in und aus Afrika zu beschließen. Kritiker bemängeln die Intransparenz dieser Abkommen sowie die Dominanz europäischer Belange, die fehlende Einbindung wichtiger zivilgesellschaftlicher Akteure. Oberste Priorität für die EU bleiben – neben Kontrolle und Eindämmung der Migration – die Rückübernahme und Rückführung von irregulären Migranten sowie der Kampf gegen Schleuser und Menschenhändler. Maßnahmen zur Förderung der legalen Migration und Entlastung der Aufnahmeländer Afrikas sind zwar ebenfalls Gegenstand der Verhandlungen und Abkommen, spielen aber bislang bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Das Gleiche gilt für den Schutz und die Rechte von regulären Migranten.

In Zukunft werden das Bevölkerungswachstum in Afrika, die anhaltenden Einkommensunterschiede und die sich durch den Klimawandel noch verschärfenden Umweltprobleme den Migrationsdruck sowohl innerhalb Afrikas als auch nach Europa erhöhen. Migration wird langfristig relevant bleiben, sodass wir dafür plädieren, diese Themen zu diskutieren und nachhaltige Lösungen zu erarbeiten. Eine Migrationspolitik der Eindämmung, Abriegelung und Auslagerung der Außengrenzen nach Nordafrika wird diesen Herausforderungen nicht gerecht und lässt die Potenziale einer gesteuerten Migration ungenutzt. Die europäische Migrationspolitik in Afrika benötigt daher einen Richtungswechsel, bei dem die Interessen der Migranten stärker berücksichtigt und eine größere Kohärenz in den entwicklungs-, handels- und außenpolitischen Maßnahmen hergestellt werden.

 

Eine Außenpolitik, die Menschenrechte auch in der Migrations- und Flüchtlingspolitik in den Vordergrund stellt

Mit der gegenwärtig verfolgten Außen- und Sicherheitspolitik wird die EU ihrem Anspruch auf die allgemeine Achtung und Wahrung der Menschenrechte nicht gerecht. Wie wir in dem Essay, der diesem Beitrag zugrunde liegt, ausführen, zeigt sich dies besonders deutlich in der Zusammenarbeit mit den Regimen im Sudan, Äthiopien und Eritrea, mit denen die EU im regionalen Khartum-Prozess eine engere Kooperation zur Bekämpfung irregulärer Migration und Menschenhandel anstrebt. Den jüngsten Protesten und Gewaltausbrüche in Äthiopien begegnet die äthiopische Regierung mit Repression und Gewalt. Die EU ist sich dessen durchaus bewusst. Erst vor knapp einem Jahr hat das Europäische Parlament in seiner Resolution vom 21.01.2016 die äthiopische Regierung aufgrund schwerwiegender Menschenrechte kritisiert.

Auch die Präsidenten Umar Hasan Ahmad al-Bashir im Sudan und Isayas Afeweki in Eritrea haben sich schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht und tragen maßgeblichen Anteil an der prekären Sicherheitslage am Horn von Afrika. Der Sudan ist seit Jahrzehnten von gewalttätigen Konflikten erschüttert und beherbergt laut dem Internal Displacement Monitoring Centre 3,1 Millionen Binnenvertriebene. In Eritrea besteht seit 2002 ein System organisierter Zwangsarbeit durch den unbegrenzten Militärdienst. Dieses Zwangssystem und die seit Jahren dokumentierten willkürlichen Tötungen, Verhaftungen und Folterungen führen zu hoher Flucht aus Eritrea. Mehr als 10.000 Eritreer flohen 2016 allein nach Deutschland, 99 Prozent aller von ihnen gestellten Asylanträge wurden genehmigt.

Statt mit Nachdruck auf die Einhaltung der Menschenrechte und die Umsetzung dringend notwendiger wirtschaftlicher und politischer Reformen hinzuwirken, forciert die EU in diesen Ländern die Einführung neuer Grenztechnologien und die Schulung der Angehörigen des Sicherheitsapparats. Daher argumentieren wir, dass eine Außenpolitik, die mit Despoten paktiert, statt auf Prinzipien der guten Regierungsführung zu insistieren Gefahr läuft, die Ursachen von Migration und Flucht noch zu verschärfen, statt diese nachhaltig abzuschwächen. Die Lösung gewaltsamer Konflikte, die einige afrikanische Staaten plagen und die zu den zentralen Ursachen afrikanischer Wanderbewegungen zählen, muss zu den zentralen Zielen der EU Außenpolitik gehören. Dazu gehört auch, stärkeren politischen Druck auf die Regierungen konfliktgeplagter Staaten auszuüben, damit diese endlich ihrer Verantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung gerecht werden und zur Konfliktbeilegung beitragen. Da viele Konflikte in den Peripherien entstehen, ist es zudem wichtig, enger mit subnationalen und nicht-staatlichen Akteuren zusammenzuarbeiten.

 

Eine bessere Nutzung entwicklungs- und handelspolitischer Maßnahmen

Neben einem stärkeren außenpolitischen Engagement sind aufeinander abgestimmte entwicklungs- und handelspolitische Maßnahmen wichtige Säulen einer kohärenten und nachhaltigen Migrationspolitik. Zentrale Triebkräfte der Wanderbewegungen sind die Flucht vor politischer Verfolgung sowie die enormen Diskrepanzen in den Lebensumständen. Deutschland und die EU betrachten die Entwicklungszusammenarbeit als wichtiges Instrument zur Eindämmung der Wanderbewegungen nach Europa. Doch auf kurze Sicht wird diese Rechnung selbst bei einer verbesserten Entwicklungspolitik vermutlich nicht aufgehen: Empirische Studien legen nahe, dass die Emigration mit steigender wirtschaftlicher Entwicklung zunächst zunimmt und bei mittlerem Einkommensniveau wieder sinkt. Steigende Einkommen befähigen häufig erst zur Migration. Dennoch ist eine Verbesserung der Einkommens- und Lebenssituation in vielen afrikanischen Ländern nicht nur aus ethisch-moralischer Sicht dringend erforderlich, sondern in vielen Fällen eine Grundvoraussetzung, den Menschen langfristig eine bessere Perspektive und Handlungsmöglichkeiten zu bieten und somit auch deren Motivation, bessere Lebensbedingungen im Ausland zu suchen, abzuschwächen.

Um eine substantielle Verbesserung der Lebensumstände und der Entwicklungschancen der Bevölkerung zu erreichen, sind zuerst die Regierungen der betroffenen Länder selbst gefordert, umfangreiche Reformen durchzuführen. Zu den zentralen ökonomischen Herausforderungen vieler afrikanischer Staaten gehören eine defizitäre physische und soziale Infrastruktur, mangelnde Rechtssicherheit, eine geringe und kaum diversifizierte Industrieproduktion und die geringe Produktivität. Gleichzeitig sind politische Reformen hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Teilhabe vielerorts überfällig. Die EU kann die afrikanischen Staaten durch zielgerichtete entwicklungspolitische Maßnahmen bei den notwendigen Reformbemühungen unterstützen. Um die Entwicklungspolitik effektiver zu gestalten, sollte die finanzielle und technische Zusammenarbeit stärker als bislang an gute Regierungsführung geknüpft werden.

Eine effektivere und stärker an die Bedürfnisse der Menschen in den Empfängerländern ausgerichtete Entwicklungspolitik allein wird nicht ausreichen, um wesentliche Wachstums- und Entwicklungsimpulse zu geben. Gleichzeitig muss die EU über eine Veränderung ihrer Agrar- und Handelspolitik nachdenken. Die wichtigsten Handelsabkommen zwischen der EU und den afrikanischen Ländern, die sogenannten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA), bergen Chancen und Risiken für die afrikanischen Staaten. Der geplante Wegfall von Zöllen und Quoten für afrikanische Produkte kann ihrer Exportwirtschaft wichtige Impulse geben und afrikanischen Konsumenten besserstellen. Gleichzeitig besteht die große Gefahr, dass ihnen aufgrund schrumpfender Zolleinnahmen, die in manchen Ländern bis zu 30 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen, die Mittel für dringend benötigte Investitionen in Infrastruktur und Wirtschaftsförderung fehlen.

Eine noch größere Herausforderung für viele afrikanische Staaten sind die enormen Produktivitätsunterschiede zwischen europäischen und afrikanischen Firmen, insbesondere im Industriesektor. Durch die sukzessive Marktöffnung für Industrieprodukte und die hochsubventionierten Agrarprodukte aus der EU wird der Wettbewerbsdruck auf afrikanische Produzenten massiv steigen. Ein weiterer Rückgang des ohnehin geringen afrikanischen Industrieoutputs sowie die Zerstörung der Lebensgrundlage vieler afrikanischer Bauern könnten die Folgen sein. Zwar sehen die WPA zur Abfederung möglicher negativer Einflüsse eine Übergangsphase von 15 bis 20 Jahren sowie Anpassungshilfen in Milliardenhöhe für die afrikanischen Partnerländer vor, doch ob diese ausreichen werden, wird von vielen Wissenschaftlern, Nichtregierungsorganisationen und anderen zivilen Akteuren ernsthaft bezweifelt. Wichtige Schritte hin zu einem konsequenten Richtungswechsel der europäischen Migrationspolitik beinhalten daher auch Reformen der europäischen Agrar- und Handelspolitik.

 

Wege der legalen Migration aufzeigen

Flucht und Migration kann eine Schlüsselrolle für die nachhaltige Entwicklung und Armutsreduzierung in afrikanischen Ländern spielen und gleichzeitig dem zunehmenden Mangel an Arbeitskräften in den alternden Gesellschaften Europas zumindest entgegenwirken. Während Studien vor allem die Verbindung von Flüchtlingsschutz mit Entwicklungszusammenarbeit als Vehikel für Entwicklungsprozesse darstellen, liegt der Fokus bei Migration auf Steuerungsmaßnahmen. Um die Potenziale einer gesteuerten Migration besser zu nutzen, kann die EU verstärkt auf Triple-Win- und andere Ansätze zur Förderung der legalen Migration setzen. Ein zentrales, aber bislang kaum genutztes Instrument der europäisch-afrikanischen Migrationspolitik wäre die Förderung legaler Migration nach Europa. Das Blaue-Karten-System, das die (temporäre) Zuwanderung Hochqualifizierter aus Drittstaaten in die EU fördern soll, hat bislang kaum Wirkung entfaltet. In Deutschland, dem Spitzenreiter bei in der EU, wurden im Jahr 2015 gerade einmal knapp 14.500 Blaue Karten erteilt, was 85,5% aller EU-weit ausgegebenen Blauen Karten entsprach. In diesem Rahmen könnte versucht werden, mehr afrikanische Migranten in den europäischen Arbeitsmarkt zu integrieren. Darüber hinaus könnten weitere Formen der temporären und permanenten Migration gefördert und ausgebaut werden. Sogenannte Triple-Win-Ansätze, die beispielsweise in Deutschland bereits genutzt werden, um den Pflegefachkräftemangel zu beheben, bieten aus entwicklungs- und migrationspolitischer Sicht eine Reihe vielversprechender Perspektiven. Im Aufnahmeland kann der steigende Fachkräftebedarf durch gezielte Zuwanderung gedeckt werden. Migranten haben höhere Verdienstmöglichkeiten als in ihrem Herkunftsland und profitieren von Weiterbildungsmaßnahmen. Die Arbeitsmärkte der Herkunftsländer werden im Falle eines Überangebots an Arbeit entlastet. Zudem profitieren Herkunftsländer von den ersparten Finanzmitteln, die Arbeitsmigranten an ihre Familien schicken (Remittances) sowie von einer Verbesserung des Humankapitals durch die erworbenen Qualifikationen zurückkehrender Fachkräfte.

Europa steht vor keiner einfachen Aufgabe. Eine gemeinsame Migrationspolitik, die auf Partnerschaft, Ursachenbekämpfung und Nutzung der Potenziale fußt, wird durch den wachsenden Rechtspopulismus und die Uneinigkeit innerhalb der EU deutlich erschwert. Für einen Richtungswechsel in der Migrationspolitik wäre eine Versachlichung des politischen Diskurses der erste Schritt. Die in Europa weitverbreitete Wahrnehmung einer massiv angestiegenen und kaum kontrollierbaren Immigration aus Afrika hält den Fakten nicht stand, bestimmt aber maßgeblich die aktuelle Migrationspolitik der EU. Dies birgt die Gefahr einer kontraproduktiven Migrationspolitik, die Menschenrechte missachtet, zur Aufrechterhaltung der Flucht- und Migrationsursachen beiträgt oder sie sogar noch verstärkt, und die Potenziale einer gesteuerten Migration ungenutzt lässt.

 

Dieser Beitrag basiert auf dem Aufsatz Die Migrationspolitik der EU in Afrika braucht einen Richtungswechsel veröffentlicht als GIGA Focus Afrika. Er ist Teil der Blogreihe Flucht und Vertreibung in Afrika des Arbeitskreises Afrika des Netzwerks Flüchtlingsforschung.

 

Photo Credits:

(c) skinner08

 

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