Im Interview spricht der Bürgermeister Palermos, Leoluca Orlando, über den Zusammenhang von Mafia und Aufenthaltspolitik, seine politische Vision für Palermo und die problematische Rolle des Nationalstaats bezüglich Identität und der Regulierung von Migration.
Leoluca Orlando wurde im Jahre 1947 in der sizilianischen Stadt Palermo geboren. Nach seinem Studium in Heidelberg und Palermo arbeitete er als ordentlicher Professor für Öffentliches Recht an der Universität Palermo. Im Jahre 1985 wählte der Stadtrat Palermos Orlando erstmals zum Bürgermeister. Dieses Amt trägt er heute zum fünften Mal. Zwischenzeitlich hatte er Mandate im Europäischen Parlament und dem Italienischen Parlament, und diente als Oppositionsführer im sizilianischen Parlament. In seiner ersten Amtsperiode als Bürgermeister, nahm er den Kampf gegen die Sizilianische Mafia auf; heute kämpft er gegen Rassismus und die restriktive Migrationspolitik Italiens und der Europäischen Union.
Im März des Jahres 2015 stellte Orlando die Grundsatzerklärung Carta von Palermo vor, in der er sich zur Freizügigkeit als Menschenrecht bekennt, und die Abschaffung der Aufenthaltsgenehmigung in der Europäischen Union sowie die grundlegende Neuausrichtung der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik fordert. Die Carta erhielt große internationale Aufmerksamkeit und gilt als ein wegweisendes Dokument für europäische Kommunen, die sich zu Migration und die Aufnahme von Flüchtenden bekennen. Auch Solidarity City-Netzwerke und Seebrücken-Initiativen orientieren sich an der Carta.
Aktuell erhält vor allem der Konflikt zwischen italienischen Bürgermeistern und der Zentralregierung in Rom besonderes öffentliches Augenmerk. Gemeinsam mit seinen Amtskollegen, den Bürgermeistern von Neapel, Florenz und anderen italienischen Städten, lehnt Orlando es ab, einen Artikel des verschärften Asylrechts, der einen Teil der Gesellschaft kriminalisiert, auf kommunaler Ebene umzusetzen. Im Gegenzug bezichtigt der italienische Innenminister Salvini Orlando des zivilen Ungehorsams.
Palermo ist die Hauptstadt der Autonomen Region Sizilien und mit rund 660.000 Einwohner die fünftgrößte Stadt Italiens. Aufgrund der geographischen Lage, ist Palermo ein potentieller Anlaufhafen für Boote, die Flüchtende und Migranten aus Seenot gerettet haben, was Konflikte zwischen der aufnahmewilligen Kommune und der nationalen Regierung in Rom auslöst.
Das Interview wurde am 14.3.2019 in Orlandos Amtsresidenz Villa Niscemi in Palermo in deutscher Sprache durchgeführt. Der folgende Text ist eine gekürzte und redigierte Version des Interviews.
Herr Bürgermeister Orlando, Sie haben überall in Europa Menschen inspiriert, zuerst mit Ihrem Kampf gegen die Korruption, und dann Ihrer Leidenschaft gegenüber Flüchtenden und Migranten.
Orlando: Die zwei Themen sind nicht getrennt. Sie stehen in Verbringung miteinander. Gegen die Mafia zu sein und gegen die Aufenthaltsgenehmigung zu sein, heißt Respekt vor Menschenrechten zu haben.
Wie haben Sie beides in Palermo umgesetzt?
Palermo war Hauptstadt der Mafia. Heute ist es Kulturhauptstadt. Heute kommen Menschen aus der ganzen Welt nach Palermo, auch um zu investieren. Letzte Woche hat das Statistische Institut, das unter der Kontrolle der italienischen Regierung ist – das sind nicht gerade meine besten Freunde – erklärt, dass Palermo die sicherste Stadt Italiens ist. Palermo, Hauptstadt der Mafia, ist die sicherste Stadt in Italien! Das bedeutet: Mission ausgeführt. Wir müssen uns hierfür bei den vielen Menschen bedanken, die uns im Kampf gegen die Mafia zu Hilfe gekommen sind.
Und die Migration?
Wir können heute nicht sagen, dass Palermo die Rechte von Migranten respektiert. Denn wir haben in Palermo keine Migranten. Wenn Sie fragen, wie viele Migranten in Palermo sind, dann antworte ich nicht 100.000 oder 120.000, sondern keine. Wer in Palermo ist, ist Palermitaner. Tut mir leid, aber Sie sind Palermitaner. Sie können Palermo verlassen, wenn Sie möchten. Aber solange Sie in Palermo sind, sind Sie Palermitaner. Und das ist gerade eine Veränderung. Ich habe entdeckt – das war eine große Entdeckung –, dass Migranten Menschen sind! Wow. Sie sind Menschen. Wie mein Bruder, wie meine Tochter, wie meine Mutter, wie meine Frau. Sie sind Menschen. Und ich mache keinen Unterschied zwischen Menschen die in Palermo sind und die in Palermo leben.
Und deswegen sind wir auch eine touristische Stadt geworden. Weil wir Migranten willkommen heißen. Und die Touristen haben keine Angst nach Palermo zu kommen. … Wenn ein Muslim, der gefährlich sein könnte, nach Palermo kommt, dann rufen mich die anderen Muslime an, und ich rufe die Polizei. Die Muslime beschützen Palermo. Das gibt es nicht in Paris, in der Banlieue in Paris. Meine Tochter hat lange in Paris gewohnt, und sie war, wie der Vater, immer mit Migranten zusammen. Und sie hat mir gesagt: Papa, wenn ein Terrorist in die Banlieue kommt, ruft niemand die Polizei. Sie verschließen die Augen – wie es die Palermitaner einst taten.
Was ist Ihre politische Vision für Palermo?
Palermo ist eine neue Stadt geworden; nicht „neue“ Stadt, sondern eine „renovierte“ Stadt. Wir haben unsere Seele wiederentdeckt. Es tut mir leid, wir sind keine europäische Stadt; wir sind eine Stadt in Europa. Palermo ist Beirut, ist Kabul, Palermo ist Tripoli. Mein politisches Projekt ist Beirut mit Wifi und Straßenbahnen zu sein.
Ich sage immer, wir sind ein Mosaik. Es gibt verschiedene Steinstückchen, in verschiedenen Farben, in verschiedenen Dimensionen. Aber ein Mosaik braucht einen Rahmen. Ein Mosaik ohne Rahmen ist eine Ansammlung von verschiedenen Steinstückchen ohne Harmonie. Ein Picasso braucht keinen Rahmen. Ein Caravaggio braucht keinen Rahmen. Ein Miro, ein Goya oder van Gogh brauchen keinen Rahmen. Unser Rahmen heißt Respekt vor Menschenrechten. To be different, to be equal. Wir sind nicht die Selben, aber wir haben die gleichen Rechte.
Heute bin ich stolz, dass wir die größte Gay Pride in Südeuropa organisieren. Hunderttausend Menschen – auf den Straßen in Palermo! Verstehen Sie. Und letztes Jahr war es nicht nur ein Tag, sondern drei Monate. Wissen Sie was letztes Jahr das Thema war? Das Thema war Migration und Homosexualität. Ich habe mit meinen Freunden gesprochen; sie fragten nach den Rechten von Migranten. Darf ich auch danach fragen, die Rechte von Homosexuellen zu respektieren? Zu viele Homosexuelle sind gegen Migranten. Als ich mit Migranten gesprochen habe, erwarteten sie, dass wir ihre Rechte respektieren. Aber darf ich fragen auch die Rechte von Homosexuellen zu respektieren? Nicht alle Migranten respektieren die Rechte der Homosexuellen. Ich habe sie beide [Vertreter der Homosexuellen und Migranten] in einem Zimmer eingeschlossen – mit einem Schlüssel – und habe gesagt: Sie werden hierbleiben, bis sie eine Gay Pride mit dem Thema Homosexualität und Migration organisieren.
Und das hat geklappt?
Ja! Und Thomas Geisel der Bürgermeister von Düsseldorf, war da, und Migranten aus Afrika, aus Indien, Transsexuelle, Homosexuelle, LSBT, alle!
Migranten und die LSBTQ+ Community fordern gemeinsam ihre Rechte ein?
Für uns ist Legalität nicht genug. Wir brauchen nicht Legalität des Rechts, sondern Legalität der Rechte. Der Menschenrechte! Das ist nicht dasselbe. Oft ist das Recht gegen die Rechte. Darf ich an die faschistischen Gesetze erinnern? Darf ich an die Nazi-Gesetze erinnern? Darf ich an das Salvini-Dekret erinnern? Darf ich an die Europagesetzgebung erinnern – gegen die Rechte. Was hab ich mit Europa zu tun, wenn nicht die Menschenrechte zu respektieren? Nein danke, NEIN DANKE! Ich bin für Europa – für Europa – FÜR EUROPA!
Sie sind ein ehemaliger Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Erzählen Sie bitte mehr über die Rolle der Migration für Europa.
Wir müssen uns bei den Migranten bedanken, denn sie vereinen drei verschiedenen Themen: Sicherheit, Klimawandel und Frieden. Nur die Migranten erleben diese drei Themen gleichzeitig. Sie haben ein Problem mit Sicherheit; sie haben keine Sicherheit. Klimawandel – sind die Deutschen Opfer des Klimawandels, oder die Leute in Norwegen und Schweden? Oder sind die Leute in Afrika die ersten Opfer, die ihr Land verlassen müssen? … Friede – und Krieg: wir haben in Europa keinen Krieg seit 80 Jahren! Lassen Sie uns über Krieg und Migranten sprechen: Sie sind die Opfer von Krieg, nicht wir! Heute sind die drei verschiedenen Themen im Rahmen der Migration vereint.
Und was bedeutet das für Palermo?
Wissen Sie, unsere Zukunft hat zwei Namen. Ein Name ist Google, oder Alibaba oder Facebook. Der andere Name ist Ahmed – der Migrant. Der Erste steht für virtuelle Verbindungen, der Zweite für menschliche Verbindungen. Die zwei müssen in Harmonie bleiben. In einer Welt zu leben, wo es nur Google gibt, ist eine Tragödie. In einer Welt zu leben, wo nur Ahmed der Migrant ist, gibt es keine Hoffnung auf eine Zukunft. Deswegen brauchen wir beides. Wissen Sie nicht, dass Palermo mit Migranten die best-vernetzte Stadt in Europa ist? Die Beste! Deshalb haben wir freies Wifi. Wir haben Sicherheit, wir haben Kameras und ein modernes System. Wir kontrollieren alle. [Orlando schlägt mit der Hand auf den Tisch]. Es gibt keine Stadt in Italien, die so perfekt kontrolliert ist wie Palermo. Ich denke wir müssen unserer Zukunft zwei Namen geben: Google und Ahmed.
Sie stellen sich gegen die Migrationspolitik des italienischen Innenministers Salvini.
Ich bekam einen wunderschönen Brief vom Papst. Über Migranten. Als Minister Salvini gesagt hat, ich werde die Armee gegen Orlando schicken, dann hat der Erzbischof gesagt, es ist eine Pflicht gegen dieses Gesetz zu sein. Und er hat gesagt, wir müssen Widerstand organisieren. Der Erzbischof von Rom! [Orlando lacht]. Also, auch die Kirche kann sich verändern.
Wie stehen Sie allgemein zum Nationalstaat.
Staat? Was ist das? Ein geschlossener Raum? Wir haben gelernt, wir wissen, dass der Staat ein geschlossener Raum ist. Manchmal mit Blumen geschützt, manchmal mit Waffen. Aber versuchen Sie einen jungen Mann zu fragen: „Was ist der Staat?“ Es kennt ihn nicht. Er spricht über die Welt und sein Dorf. Was in der Mitte ist [d.h. der Nationalstaat], ist ein Feind seines Glücks. Was ist der Staat für Google?
Das ist interessant. Wie soll sich dann eine Stadt wie Palermo gegenüber dem Nationalstaat verhalten?
Wir wollen nicht unter dem Staat bleiben. Drei „Terroristen“ haben gesagt „keine Staaten mehr“. Einer war Konrad Adenauer, ein anderer war Alcide De Gasperi, ein dritter war Robert Schuman. Diese drei „Terroristen“ haben nach dem 2. Weltkrieg verstanden, dass wir nicht weiter in den Grenzen des Staates bleiben dürfen. Und sie haben eine große Vision gehabt: die Europäische Union. Und wir sprechen jetzt über geschlossene Staaten? Wir müssen Italien schützen? Nein, wir müssen Europa schützen, nicht Italien!
In der Carta von Palermo sprechen Sie sich gegen Staatsbürgerschaft aufgrund des Abstammungsprinzips aus.
Man hat zu uns gesagt, Identität ist durch das Blut unserer Eltern bestimmt. Darf ich fragen was der Unterschied zwischen Ihrem Blut und meinem Blut ist [Orlando zeigt auf die Venen in seinem Arm]? Es ist nicht wichtig, ob meine Mutter oder mein Vater Sizilianer sind. Ich bin Sizilianer, weil ich mich dazu entschieden habe hier zu sein. Meine Mutter ist Sizilianerin, mein Vater ist Sizilianer, aber ich kann mich entscheiden nicht Sizilianer zu sein. Ich bin frei! Identität ist der erste Akt der Freiheit in der Welt. Ich sollte mich entscheiden können Tunesier und Jude oder ein deutscher Hindu zu sein. Ich entscheide meine Identität selbst [er klopft sich auf die Brust]. Identität kommt nicht vom Blut meiner Eltern.
Lassen Sie uns über das Heimatland reden: ich habe meine Eltern gut gewählt; aber sie haben entschieden, dass ich in Italien geboren werden muss – ohne meine Erlaubnis! Ihre Eltern haben Sie sicher gefragt: Wo möchtest du geboren werden? Meine nicht! Und ich bin in Italien geboren, und Italien muss nun mein Heimatland sein! Nein danke. NEIN DANKE [er haut mit der Faust auf den Tisch]!
Das ist was Ahmed sagt. Was ist die Heimat von Ahmed? Er entscheidet welche
Heimat er hat. Ich entscheide, wie Ahmed, was meine Heimat ist; und dass ich
entscheide Italien als Heimatland zu haben ist eine freie Entscheidung. Nur als
freie Entscheidung kann man ein Heimatland wie Italien– mit
einer so schlechten Nationalhymne – haben. Haben Sie Inno di Mameli, die Italienische Nationalhymne, gehört?
Kann man sie nicht anhören! Es ist ein Skandal. Aber ich habe entschieden, dass
ich sie liebe. So wie meine Frau. Meine Frau ist nicht Miss Universum, aber ich
liebe sie. Das ist meine Entscheidung.