Wer ist ein Flüchtling?

Impulse für sozialwissenschaftliche Diskussionen.

Die Frage, wer als Flüchtling zu betrachten ist, führt mitten hinein in folgenreiche juristische und politische Definitionsprozesse. Denn die Anerkennung als Asylberechtigter oder als Flüchtling im Sinne der Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention begründet einen Anspruch auf Aufenthalt und schützt vor Abschiebungen. Denjenigen, die mit Kategorien wie „Armutsmigranten“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ belegt werden, wird solche Schutzbedürftigkeit dagegen bestritten. Die Konsequenz daraus sind nicht zuletzt jährlich ca. 10.000 durch staatliche Gewalt erzwungene Abschiebungen aus Deutschland.

Nicht nur aufgrund der Wirkungsmächtigkeit der Flüchtlingskategorie, sondern ganz grundsätzlich kann sozialwissenschaftliche Flüchtlingsforschung politische und rechtliche Definitionen ihres Gegenstandes nicht voraussetzen. Vielmehr hat sie diese zu reflektieren und eigenständig zu begründen, mit welchen Maßstäben sie Flüchtlinge von sonstigen Migranten unterscheidet. Denn eine ganz grundlegende methodologische Anforderung an kritische Sozialwissenschaft lautet: Nicht mit den Begriffen und Normen arbeiten, mit denen soziale Wirklichkeit hergestellt wird, sondern über diese Begriffe und Normen diskutieren.

Bislang steht eine sozialwissenschaftliche Klärung allerdings des Flüchtlingsbegriffs aus; sie kann und soll in diesem kurzen Beitrag auch nicht geleistet. Ich möchte in diesem Beitrag eher einige Diskussionsimpulse formulieren:

  1. Eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Flüchtlingsbegriff ist kein wissenschaftlicher Selbstzweck und auch nicht allein wissenschaftsintern bedeutsam. Sie kann vielmehr auch dazu beitragen, die Begrenzungen der Anerkennung von Schutzbedürftigkeit infrage zu stellen, die aus den geltenden rechtlichen und politischen Festlegungen resultieren. Ohnehin sind sozialwissenschaftliche Bestimmungen des Flüchtlingsbegriffs – oder der Verzicht darauf – nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch und rechtlich folgenreich. Denn das, was sozialwissenschaftlich über den Flüchtlingsbegriff gesagt oder nicht gesagt wird, trägt – auch unabhängig davon, ob damit ausdrücklich kritische Intentionen verfolgt werden oder nicht – zur Legitimation oder Delegitimation politischer und rechtlicher Festlegungen bei.
  1. Ausgangspunkt eines sozialwissenschaftlichen Klärungsprozesses kann die Feststellung sein, dass politische und rechtliche Diskurse zur Flüchtlingskategorie von Anfang an interessengeleitet waren sowie Abwägungen über die erwartbaren realpolitischen Konsequenzen einschlossen. Dies hat bereits bei der Erarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte dazu geführt, dass der Vorschlag, eine staatliche Verpflichtung auf Gewährung von Asyl festzuschreiben, abgelehnt wurde. Artikel 14 besagt nun nur, „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“, die Staaten sind aber nicht verpflichtet, Asyl zu gewähren. In politische und rechtliche Flüchtlingsbegriffe gehen seitdem durchgängig zwei zu unterscheidende Perspektiven ein: Zum einen die Frage nach den Konsequenzen, die aus normativen Selbstverständnissen und Selbstverpflichtungen (Menschenrechte, Gerechtigkeitskonzepte, kodifiziertes Recht) zu ziehen sind; zum anderen die politisch definierten Eigeninteressen und Erfordernisse nationalstaatlich verfasster Gesellschaften. Eine Aufgabe sozialwissenschaftlicher Flüchtlingsforschung besteht darin, die Spannungen und Widersprüche zwischen beiden Gesichtspunkten, die jeweiligen Aushandlungsprozesse, sozialen Konflikte und Formen der Kompromissbildung sowie deren Folgen zu analysieren.
  1. Jeder Versuch einer eigenständigen sozialwissenschaftlichen Bestimmung des Flüchtlingsbegriffs, der über eine kritische Analyse Herstellungsprozesse von Flüchtlingsdefinitionen hinausgeht, hat eine hoch problematische Implikation. Denn wenn für diejenigen, die als Flüchtlinge gelten, eine spezifische Schutzbedürftigkeit anerkannt wird, dann bestreitet jede positive Bestimmung des Flüchtlingsbegriffs implizit denjenigen solche Schutzbedürftigkeit, die nicht als Flüchtlinge gelten können. Daran wird deutlich, dass sich sozialwissenschaftliche Flüchtlingsforschung auf einem hoch problematischen Terrain bewegt und unvermeidbar in gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse involviert ist, denen sie sich nicht entziehen kann.
  1. Positionen einer No-Border-Politik, wie sie in den sozialen Bewegungen und auch in der sozialwissenschaftlichen Diskussion formuliert werden, stellen nur scheinbar einen Ausweg dar. Nimmt man die einschlägigen Formeln wie „Niemand flieht ohne Grund“, „Wer bleiben will soll bleiben“ oder „No border, no nation, stop deportation” ernst, wäre eine Klärung des Flüchtlingsbegriffs überflüssig. Denn in der Konsequenz wäre es eine Frage der Selbstdefinition, wer als Flüchtling gelten soll. Dies stellt aber schon deshalb keine tragfähige Position dar, weil die Funktion des Flüchtlingsbegriffs nicht zuletzt darin besteht, staatlichen Schutz und staatliche Leistungen (schulische Bildung, Zugang zu regulierten Arbeitsmärkten, Zugang zu Sozialleistungen usw.) einzufordern, also die Existenz von Nationalstaaten voraussetzt, die bereit sind, Migranten als Flüchtlinge anzuerkennen. Für Nationalstaaten, und insbesondere für wohlfahrtsstaatlich verfasste Nationalstaaten, sind Grenzen sowie Festlegungen von Zuwanderungs- und Aufenthaltsrechten aber konstitutiv. D.h.: Die Unterscheidung von Flüchtlingen, denen unabhängig von nationalstaatlich gefassten politischen und ökonomischen Eigeninteressen Schutzrechte zustehen, von sonstigen Migranten wäre nur unter Bedingungen eines globalen neoliberalen Kapitalismus hinfällig. Für den gilt, dass der Aufenthalt auf einem Territorium keinerlei Rechtsansprüche im Verhältnis zu Staaten begründet. Dies ist zweifellos eine dystopische Vision.
  1. Für eine sozialwissenschaftliche Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs stellen Überlegungen des UNHCR einen bedeutsamen Ausgangspunkt dar. Ausgehend von der Genfer Flüchtlingskonvention wird Verfolgung dort als ein zentrales Definitionskriterium der Flüchtlingseigenschaft gefasst, aber argumentiert, dass die Folgen kumulativer Diskriminierung faktisch einer Verfolgung gleichkommen können, und dass kumulative Diskriminierung deshalb zu einer Anerkennung als Flüchtling führen sollte. Hier wird zwar die Unterscheidung zwischen ökonomischen Migrationsmotiven und Flucht nicht infrage gestellt, also keine Entgrenzung des Flüchtlingsbegriffs vorgenommen. Deutlich wird jedoch, dass diese Unterscheidung keineswegs selbst evident ist. In einer sozialwissenschaftlichen Perspektive kann dann anschließend eine Diskussion dazu eröffnet werden, wie ein Flüchtlingsbegriff gefasst werden kann, der die Frage ins Zentrum stellt, welche Auswirkungen gesellschaftlicher Verhältnisse zu einer erzwungenen Migration führen, die eine Anerkennung als Flüchtling begründen kann und sollte.

 

 

Photo Credit:

(c) Albert Scherr, August 2013

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