Die Perspektiven von Geflüchteten sind in Öffentlichkeit und Politik stark unterrepräsentiert – auch und vor allem beim Thema Asyl- und Flüchtlingspolitik. Das hat auch die Debatte um den Rückblick auf 10 Jahre „langer Sommer der Migration“ nicht geändert. Der FluchtforschungsBlog schließt daher seine Reihe mit einem Interview mit dem Refugee Advisory Board Germany ab. Das RAB Germany wurde im Jahr 2024 nach einem Pledge der deutschen Bundesregierung auf dem Global Refugee Forum 2023 gegründet. Es ist bisher das einzige seiner Art in Europa und das fünfte weltweit. Seit dem 1. Oktober 2025 ist es mit 12 Mitgliedern vollzählig. Das Sekretariat des Gremiums ist am bicc – Bonn International Centre for Conflict Studies angesiedelt. Das Interview führten Andrea Rumpel, Daniele Saracino und Simon Weiser vom FluchtforschungsBlog, die auch die englischen Antworten von Zohra Wandaa und Shaden Sabouni übersetzten.
FluchtforschungsBlog: Was genau sind die Aufgaben des RAB Germany?
Zohra Wandaa: Das RAB bringt Erfahrungen sowie Know-how von Menschen, die selbst Vertreibung erlebt haben, an die Orte, an denen Entscheidungen getroffen werden. Wir leisten drei Dinge: Erstens beraten wir deutsche Ministerien und öffentliche Einrichtungen zu politischen Maßnahmen, die Geflüchtete, Asylsuchende und andere zwangsvertriebene Personen (im weiteren Verlauf des Interviews: Geflüchtete) betreffen, in den Bereichen Entwicklung, Asyl, Zugang zum Arbeitsmarkt, Bildung, Gesundheit, Integration und Teilhabe. Zweitens setzen wir uns auf nationaler und internationaler Ebene dafür ein, dass die Perspektiven von Geflüchteten in politischen Diskussionen berücksichtigt werden, um sinnvolle und positive Veränderungen für die betroffenen Communities bewirken zu können und die Politik für die Menschen, die sie betrifft, inklusiver, reaktionsfähiger und wirkungsvoller zu gestalten. Darüber hinaus verbinden wir drittens Politik, Praxis und Forschung: Wir setzen gelebte Erfahrungen in konkrete Vorschläge um und leiten Feedback aus den Communities an Behörden und Forschung weiter. Wir stellen kein repräsentatives Parlament für alle Geflüchteten dar und ersetzen keine NGOs oder Rechtsberatung. Wir sind ein Beratungsgremium, das versucht, die Politik wirksamer, menschlicher und verantwortungsbewusster gegenüber den betroffenen Menschen zu gestalten.
Shaden Sabouni: Ich sehe unsere Arbeit als Brücke zwischen gelebter Realität und Politikgestaltung. Ausgehend von meiner Forschungstätigkeit und persönlichen Erfahrungen möchte ich Perspektiven einbringen, die die alltäglichen Herausforderungen widerspiegeln, denen Geflüchtete in den Bereichen Bildung, Familienleben und Integration gegenüberstehen. Für mich liegt die Stärke des RAB darin, Räume zu schaffen, in denen diese Erfahrungen nicht nur Gehör finden, sondern auch aktiv Entscheidungen beeinflussen können, die sich auf unsere Communities auswirken.
FluchtforschungsBlog: Welche politischen Ziele verfolgt das RAB und welche waren bisher die größten Erfolge des Gremiums?
Wandaa: Unser politisches Ziel ist einfach zu formulieren, aber schwer umzusetzen: bedeutungsvolle Teilhabe. In der Praxis bedeutet dies eine frühzeitige Einbindung in die Strategie- und Gesetzgebung, und nicht nur kurzfristige Konsultationen, sowie die Schaffung klarer Feedback-Schleifen und öffentlicher Transparenz darüber, was sich aufgrund der Beiträge von Geflüchteten geändert hat.
Bis heute hat das RAB mehrere wichtige Meilensteine erreicht. Wir haben als Teil der deutschen Delegation an der 75. und 76. Plenarsitzung des Exekutivkomitees (EX-COM) des UNHCR und den damit verbundenen Prozessen teilgenommen und stehen in regelmäßigem Dialog mit dem BMZ, dem Auswärtigen Amt, dem Bundeskanzleramt, dem BAMF und anderen wichtigen Institutionen. Durch öffentliche Beiträge auf Konferenzen, in Interviews und Briefings haben wir dazu beigetragen, die fachliche Expertise von Geflüchteten im politischen Umfeld Deutschlands zu verankern.
Dies sind Stufen, nicht das Ziel. Der wirkliche Erfolg wird dann eintreten, wenn die Ministerien selbst fragen: „Wie können wir die Beteiligung von Geflüchteten von Anfang an in diesen Prozess einbauen?“ und es dann auch tatsächlich tun.
Sabouni: Für mich bedeutet sinnvolle Teilhabe, dass Geflüchtete nicht als passive Empfangende von Entscheidungen behandelt werden, sondern als aktive Mitwirkende mit wertvollen Perspektiven. Innerhalb des RAB sehe ich unseren wachsenden Einfluss darauf, die Teilhabe systematischer zu gestalten, indem wir sicherstellen, dass das Wissen von Menschen mit eigener Fluchterfahrung von Anfang an in die nationale Politik einfließt. Eine wichtige Errungenschaft war bisher der Aufbau von Vertrauen und Dialog zwischen Entscheidungsträger:innen und Fachleuten, wodurch sich die Kommunikation von „über Geflüchtete“ zu „mit Geflüchteten“ verlagert hat.
FluchtforschungsBlog: Wie blickt das Board auf die deutsche Debatte zum zehnten Jahrestag des langen Sommers der Migration 2015? Was wünscht sich das Board von Politik und Medien hinsichtlich der Rezeption und des Framings?
Wandaa: Die öffentliche Debatte schwankt zwischen Nostalgie und Ermüdung. Einige erinnern sich an 2015 als einen Höhepunkt moralischen Mutes, andere bezeichnen es als Fehler. Keine dieser Sichtweisen hilft uns dabei, heute besser zu gestalten. Wir schlagen vor, 2015 als einen Moment des Lernens zu betrachten. Es zeigte Stärken wie gemeinschaftliche Solidarität und schnelle Improvisation, aber auch Schwächen wie fragmentierte Systeme, langsame Anerkennung von Kompetenzen und ungleiche Unterstützung für Frauen und Minderjährige. Auch Geflüchtete sollten ihre Geschichte erzählen können, da die Medien uns immer noch weniger zitieren als über uns berichten. Es ist auch wichtig, eine entmenschlichende Darstellung zu vermeiden; Wörter wie „Wellen”, „Flut” oder „Belastung” lehren die Öffentlichkeit, Menschen als Bedrohung und nicht als Nachbar:innen zu sehen. Schließlich sollte der Fokus auf Evidenz und Ergebnissen liegen. Wir müssen zeigen, was funktioniert: Sprachkurse in Verbindung mit Arbeitsstellen, Anerkennung von Qualifikationen, Zugang zu psychologischer Betreuung und lokale Teilhabe. Das sind vielleicht langweilige Schlagzeilen, aber sie sind entscheidend für das Leben der Menschen. Der zehnte Jahrestag sollte kein Gedenken sein, sondern eine Fortschrittsbilanz mit Hausaufgaben.
Sabouni: Ich stimme dir zu! Wenn ich auf das Jahr 2015 zurückblicke, sehe ich einen Moment, der sowohl die Geflüchteten als auch Deutschland tiefgreifend und nachhaltig verändert hat. Für viele von uns war es nicht nur ein politischer Wendepunkt, sondern auch eine persönliche Veränderung – ein Moment des Verlusts und des Neuanfangs. Was ich mir jetzt wünsche, ist eine Auseinandersetzung, die über Jubel oder Schuldzuweisungen hinausgeht und zu Reflexion und Verantwortung führt. Der zehnte Jahrestag ist eine Gelegenheit, anzuerkennen, wie viel Geflüchtete zur deutschen Gesellschaft beigetragen haben und wie sich Politik und Narrative noch weiterentwickeln können, um diese gemeinsame Erfahrung zu reflektieren.
FluchtforschungsBlog: Wie bewertet das Board die flüchtlings- und integrationspolitischen Entwicklungen in Deutschland der letzten Jahre, insbesondere in Hinblick auf die Wanderungsbewegungen 2015/2016?
Sabouni: Deutschland hat seit 2015 wichtige Fortschritte bei der Verbesserung des Zugangs zu Bildung, Aufenthaltsrecht und Teilhabe erzielt. Viele lokale Initiativen haben gezeigt, wie Inklusion funktionieren kann, wenn sie mit Ressourcen und Vertrauen unterstützt wird. Aber es gibt immer noch strukturelle Hindernisse, vor allem dort, wo die Systeme immer noch von einem kurzfristigen Aufenthalt statt einer langfristigen Integration ausgehen. Aus meiner Sicht gibt es noch viel zu tun, vor allem bei der Anerkennung von Qualifikationen, der Gewährleistung eines fairen und nachhaltigen Zugangs zum Arbeitsmarkt und der Stärkung psychologischer und sozialer Unterstützungssysteme. Integration kann nicht gelingen, wenn die Berufserfahrung und das emotionale Wohlbefinden der Menschen übersehen werden. Gleichzeitig ist es entscheidend, eine breitere Akzeptanz von Diversität zu fördern – sie nicht als Herausforderung, sondern als Stärke zu sehen, die die Gesellschaft bereichert.
FluchtforschungsBlog: Welche Änderungen wünscht sich das RAB, damit die Arbeit des Boards an Einfluss gewinnt?
Sabouni: Um die Wirkung des RAB zu verstärken, sind drei Dinge wesentlich: Erstens, stabile Strukturen und langfristige Finanzierung – Beteiligung kann nicht auf freiwilligem oder kurzfristigem Engagement beruhen. Das Fachwissen von Geflüchteten benötigt institutionelle Unterstützung und Anerkennung. Zweitens, direkter Zugang zu Entscheidungsprozessen – Beratungsbeiträge sind am wirksamsten, wenn sie die Ebenen erreichen, auf denen politische Maßnahmen konzipiert werden, und nicht nur, wenn sie umgesetzt werden. Drittens, Sichtbarkeit und Feedback-Schleifen – wenn Empfehlungen aufgegriffen werden (oder nicht), sollte dies transparent kommuniziert werden. Das fördert die Rechenschaftspflicht und zeigt, dass die Stimmen von Geflüchteten wichtig sind. Darüber hinaus glaube ich auch, dass eine bessere Kommunikation über unsere Arbeit – sowohl gegenüber der Öffentlichkeit als auch gegenüber Gemeinschaften von Geflüchteten – das Vertrauen, die Sichtbarkeit und die langfristige Bedeutung verstärken würde.
Wandaa: Einfluss wächst, wenn Partizipation strukturiert, konsistent und angemessen unterstützt wird. Die Arbeit von RAB würde am meisten davon profitieren, wenn sie in regelmäßige Beratungs- und Ko-Gestaltungsprozesse mit Ministerien eingebettet wäre, sodass unsere Beiträge von Anfang an in Strategien einfließen und nicht erst am Ende des Entscheidungsprozesses berücksichtigt werden. Um ein solches Mitwirken effektiv zu gestalten, sind institutionelle Kontinuität und technische Kapazitäten unerlässlich. Geflüchtete-Berater:innen bringen oft neben ihren beruflichen und persönlichen Verpflichtungen auch ihr Fachwissen ein. Wenn sichergestellt wird, dass sie über die Zeit, die Ausbildung und die logistischen Mittel verfügen, um sich sinnvoll zu beteiligen, werden die Beratungsprozesse für alle Seiten zielgerichteter und produktiver. Schließlich würde die Einrichtung klarer Kommunikationskanäle und Feedbackschleifen zwischen dem Board und öffentlichen Institutionen dazu beitragen, die Umsetzung der Empfehlungen in politische Ergebnisse nachzuverfolgen. Diese Transparenz würde Vertrauen schaffen und den tatsächlichen Wert der Beteiligung von Geflüchteten für eine evidenzbasierte Politikgestaltung aufzeigen.
FluchtforschungsBlog: Welche Politiken sollten auf der lokalen, nationalen, europäischen und globalen Ebene umgesetzt werden, um spürbare Verbesserungen für Geflüchtete zu erreichen?
Sabouni: Sinnvolle Verbesserungen für Geflüchtete erfordern koordinierte Maßnahmen auf allen Ebenen. Zum einen die lokale Ebene: Stärkung von Integrationsmaßnahmen wie Sprach- und Berufsausbildung, Einbindung der lokalen Gemeinschaft, Unterstützung der psychischen Gesundheit und Anerkennung bereits erworbener Fähigkeiten und Qualifikationen. Kommunen sollten befähigt werden, maßgeschneiderte Unterstützung für unterschiedliche Bedürfnisse anzubieten. Zum anderen die nationale Ebene: Gewährleistung einer kohärenten Asyl-, Arbeits- und Bildungspolitik, die inklusiv, transparent und zugänglich ist. Förderung einer langfristigen Integration anstelle von kurzfristigen oder auf Notfälle ausgerichteten Maßnahmen. Darüber hinaus die europäische Ebene: Harmonisierung der Asylstandards, gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen den Staaten und Erleichterung der Mobilität für Arbeit, Studium und Familienzusammenführung. Investitionen in grenzüberschreitende Programme für Bildung, Ausbildung und psychische Gesundheit. Schließlich die globale Ebene: Förderung der internationalen Zusammenarbeit in den Bereichen Vertreibung, Schutz und humanitäre Hilfe. Die Stimmen der Geflüchteten sollten im Mittelpunkt globaler Verhandlungen und politischer Rahmenbedingungen stehen, einschließlich der Initiativen des UNHCR und multilateraler Abkommen.
Auf allen Ebenen muss darauf geachtet werden, Qualifikationen anzuerkennen, das psychische Wohlbefinden zu fördern und inklusive Gesellschaften zu schaffen, die Diversität wertschätzen. Praktische Maßnahmen wie die Verknüpfung von Sprachunterricht mit Beschäftigung oder die Unterstützung lokaler Beteiligungsinitiativen mögen geringfügig erscheinen, führen jedoch zu echten, greifbaren Verbesserungen im Leben von Geflüchteten.
FluchtforschungsBlog: Was sind aus der Sicht des Boards zentrale Hindernisse, die Verbesserungen für die Lebenssituationen von Geflüchteten in Deutschland verhindern?
Sabouni: Damit das RAB Einfluss gewinnen kann, muss unsere Arbeit in politische Strukturen eingebettet sein, mit Ministerien, Forschenden und lokalen Akteur:innen zusammenarbeiten und sowohl der Öffentlichkeit als auch den Communities der Geflüchteten klar kommuniziert werden. Verbesserungen erfordern koordiniertes Handeln: lokal (Ausbildung, psychische Gesundheit, Anerkennung von Qualifikationen), national (inklusive Politik), europäisch (harmonisierte Asyl- und Mobilitätspolitik) und global (Stimmen der Flüchtlinge in der internationalen Politik). Nur dann können Geflüchtete uneingeschränkt teilhaben und echte Verbesserungen in ihrem Leben erfahren.
Wandaa: Der prekäre Status und die langsamen Verfahren schaffen eine tiefe Unsicherheit, die die Planung und die psychische Gesundheit zerstören und Familien in der Sozialhilfe gefangen halten, selbst wenn sie arbeiten wollen. Fragmentierung erschwert die Situation zusätzlich, da die Regeln je nach Bundesland, Behörde und Programm unterschiedlich sind, sodass die Menschen sich im bürokratischen Labyrinth verlieren, während Fachleute bei dem Versuch, sich darin zurechtzufinden, ausbrennen. Der ungleiche Zugang benachteiligt weiterhin Frauen, Alleinerziehende, ältere Menschen und Menschen mit Traumata, die mit größeren Hindernissen beim Erwerb von Sprachkenntnissen, bei der Ausbildung und bei der Arbeitssuche konfrontiert sind. Auch die öffentliche Debatte spielt eine wichtige Rolle: Wenn Geflüchtete hauptsächlich als Risiko oder Kostenfaktor dargestellt werden, gehen die Institutionen in die Defensive, und defensive Systeme helfen niemandem. Diese Probleme sind nicht unvermeidlich, sondern vielmehr das Ergebnis bewusster Entscheidungen. Wenn wir Anreize und Verfahren neugestalten, werden sich bessere Ergebnisse einstellen.
FluchtforschungsBlog: Wie kann der Austausch zwischen Politik, Praxis und Forschung hinsichtlich der deutschen Flüchtlings- und Integrationspolitik verbessert werden?
Wandaa: Die gemeinsame Erarbeitung von Wissen ist unerlässlich; Geflüchtete sollten Teil von Forschungsteams sein und nicht nur in Fußnoten erwähnt werden, und sie sollten für ihr Fachwissen bezahlt werden. Außerdem sollte es kurze Feedback-Schleifen geben. Ein mögliches Modell könnten vierteljährliche 90-minütige Workshops sein, in denen eine Ministeriumseinheit ein aktuelles Problem vorstellt, eine Stadt praktische Erfahrungen teilt und ein kleines Forschungsteam Daten beisteuert. Gemeinsam entscheiden sie sich für eine Änderung, die innerhalb von 60 Tagen getestet werden soll, und berichten im folgenden Quartal darüber. Ebenso wichtig ist es, Forschungsergebnisse in nutzbare Formate zu übersetzen. Die Finanzierung von zweiseitigen Policy Notes, die akademische Erkenntnisse in praktische Schritte mit klaren Kosten, Zeitplänen und Risiken umsetzen, würde Wissen weitaus besser umsetzbar machen. Schließlich sollten offene Daten mit starken Datenschutzvorkehrungen zur Standardpraxis werden, damit anonymisierte Verwaltungsdaten ausgetauscht und zur Identifizierung von Engpässen sowie zur Erprobung von Verbesserungen genutzt werden können.
Sabouni: Der Austausch kann verbessert werden, indem strukturierte, kontinuierliche Kommunikationskanäle geschaffen werden, über die sich alle Beteiligten gegenseitig über ihre jeweiligen Standpunkte informieren. Politische Entscheidungsträger:innen sollten Forschende und Praktiker:innen frühzeitig in den Entscheidungsprozess einbeziehen und nicht erst in der Umsetzungsphase um Feedback bitten. Forschungsergebnisse sollten in praktische, umsetzbare Empfehlungen umgesetzt werden, während Praktiker:innen reale Einblicke in die Machbarkeit und Auswirkungen liefern können. Regelmäßige Foren, gemeinsame Workshops und transparente Feedback-Schleifen stellen sicher, dass politische Maßnahmen evidenzbasiert, kontextsensitiv und auf gelebte Erfahrungen abgestimmt sind. Aus meiner Sicht findet der effektivste Austausch statt, wenn Geflüchtete selbst Teil dieser Dialoge sind und so Theorie, Praxis und Politik mit Erfahrungen aus erster Hand verbinden.
FluchtforschungsBlog: Wo seht ihr Lücken in der (deutschsprachigen) Fluchtforschung?
Wandaa: Partizipation und Macht bleiben bislang wenig erforschte Bereiche. Zwar gibt es zahlreiche Beschreibungen zu Einstellungen und Arbeitsergebnissen, doch es bedarf weiterer Forschung dazu, wie sich Institutionen tatsächlich verändern, wenn Geflüchtete an Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Ein weiterer Forschungsbedarf besteht hinsichtlich geschlechtsspezifischer Integrationswege – es mangelt nach wie vor an detaillierten Studien dazu, wie Kinderbetreuung, Hausarbeit und die Unsicherheit hinsichtlich Aufenthaltsgenehmigungen die Ergebnisse von Frauen beeinflussen und welche systemischen Lösungen diese Barrieren auf institutioneller Ebene beseitigen könnten. Im Bereich der psychischen Gesundheit existiert zwar fundierte klinische Forschung, aber es gibt kaum Erkenntnisse darüber, wie alltägliche bürokratische Routinen wie Termine, Briefe und Fristen Stress und Traumata auslösen oder verringern können. Es fehlen auch Längsschnittstudien außerhalb der Großstädte, obwohl viele Geflüchtete in ländlichen Gebieten oder Kleinstädten leben. Letztendlich gibt es zu wenige vergleichende Politikbewertungen, die verschiedene Programme nebeneinander prüfen und eine Kosten-Nutzen-Analyse durchführen, um zu bestimmen, welche Ansätze nachweislich am wirksamsten sind. Kurz gesagt: Partizipation sollte als Mechanismus und nicht als Slogan untersucht werden, und wir sollten messen, was sie verändert, welche Kosten sie verursacht, wie schnell sie wirkt, welches Vertrauen sie schafft und welche Ergebnisse sie mit sich bringt.
FluchtforschungsBlog: Wie sieht für das Board „Erfolg” in zehn Jahren aus?
Wandaa: Erfolg bedeutet nicht, dass es keine Migration mehr gibt. Erfolg ist ein System, das berechenbar, schnell und fair ist, in dem neu Ankommende planen können, in dem Städte die nötigen Ressourcen erhalten, um ihre Aufgaben zu erfüllen, in dem Geflüchtete als Partner:innen in die Gestaltung einbezogen werden und in dem wir Politik anhand der Ergebnisse beurteilen und nicht anhand von Schlagzeilen. Wenn Deutschland ein solches System aufbaut, wird es kostengünstiger, resilienter und demokratischer sein.
Sabouni: Erfolg bedeutet, dass Geflüchtete als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft eingebunden werden und Zugang zu Bildung, sinnvoller Beschäftigung und sozialer Unterstützung erhalten, die ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechen. Entscheidend ist, dass die Einschätzung, ein Geflüchteter sei „nicht integriert“, niemals als persönliches Versagen angesehen werden darf, sondern als Lücke oder Versagen des Systems – beispielsweise aufgrund unzureichender Sprachprogramme, mangelnder Anerkennung von Qualifikationen oder fehlender maßgeschneiderter Unterstützung. Wahrer Erfolg besteht in einer Gesellschaft, in der sich Politik, Institutionen und Gemeinschaften an unterschiedliche Bedürfnisse anpassen, Integrationsprogramme wirksam und inklusiv sind und Diversität als Stärke geschätzt wird.