Die EU-Migrationspolitik bewegt sich seit jeher zwischen Logiken selektiver Offenheit und Abschottung. Seit dem Sommer der Migration befindet sie sich in einer Konjunktur, in der sich Strategien einer stärkeren Europäisierung mit einer forcierten Renationalisierung konfrontiert sehen. In diesem Kontext entfalten sich aus den politischen Kämpfen und Rechtskämpfen widersprüchliche Dynamiken.
Der Sommer der Migration 2015 markierte einen bedeutsamen Wendepunkt der europäischen Migrationspolitik: Die Asyl- und Migrationspolitik rückte ins Zentrum der europapolitischen Debatten und zerstörte bei Teilen der bürgerlichen Öffentlichkeit die immer noch vorhandene Illusion, dass die Nationalstaaten ihre Grenzen in Bezug auf Geflüchtete souverän kontrollieren können. Denn mit dem Wegfall der Binnengrenzkontrollen und dem Integrationsschub, den der Binnenmarkt für die politische Ökonomie Europas bedeutete, setzte sich die Rationalität durch, wonach Grenzkontrollen nur noch an den Außengrenzen stattfinden sollen. Das hatte die Europäisierung der Asyl- und Migrationspolitik zur Folge. Ab den 2000er Jahren gaben EU-Richtlinien und Verordnungen die wesentlichen Normen des Migrationsrechts vor. Nationales Recht musste diesen Vorgaben entsprechen. Dies war, staatstheoretisch betrachtet, eine erstaunliche Entwicklung und sorgt bis heute für politischen Streit.
Die Europäisierung der Migrationspolitik
In den 2000er Jahren entstanden nicht nur europäische Apparate wie die Grenzschutzagentur Frontex oder die EU-Asylagentur, sondern zugleich ein Grenzregime, welches die Kontrollen fernab des EU-Territoriums externalisierte. Eine Folge davon war, dass gewaltsame Pushbacks und auch der tausendfache Tod von Geflüchteten sich vor den Grenzen Europas ereigneten, im Mittelmeer, in der Wüste, in Lagern auf dem afrikanischen Kontinent und in der Ukraine, jedenfalls weit weg von der europäischen Öffentlichkeit. Neben dieser externen Externalisierung gab es auch eine innereuropäische Externalisierung: Durch die Dublin-Verordnung von 2003 („Dublin II“, ab 2013 Dublin-III) die vorsieht, dass vorrangig der Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, dessen Territorium die Flüchtenden zuerst betreten hatten, gerieten die Staaten an den EU-Außengrenzen unter Druck. Die südlichen Mitgliedsstaaten schlossen Abkommen mit nord- und westafrikanischen Staaten, in denen jene sich verpflichteten – gegen hohe Geldzahlungen – die Menschen von der Flucht abzuhalten und in Lager zu verbringen. So entstand in den 2000er Jahren ein externalisiertes Lagersystem entlang der Außengrenzen. Weil die Gewalt an den Grenzen lange Zeit unsichtbar blieb, bis Journalist:innen, NGOs und Geflüchtete diese „Blackbox“ öffneten, stand die Migrationspolitik im neuen Staatsprojekt Europa nicht derart im Zentrum der europapolitischen Verwerfungen wie beispielsweise der Umgang mit der Finanz- und Wirtschaftskrise. Weil zugleich der Druck auf die europäische Gerichtsbarkeit noch nicht so stark war wie in den heutigen Debatten, konnten Menschenrechtsbeschwerden vor hohen europäischen Gerichten zunehmend erfolgreich sein und das neue europäische Migrationsrecht wurde allmählich liberaler, verglichen mit dem alten nationalen „Ausländerrecht“.
Mit dem Sommer der Migration avancierte die Migrationspolitik jedoch zu einem Hauptkonfliktfeld der EU-Politik. Die brutalen Reaktionen auf den „Arabischen Frühling“ setzten eine millionenfache Fluchtbewegung in die Nachbarländer sowie in die EU in Gang. Dort wurden die Geflüchteten zunächst von einer beispiellosen „Willkommensbewegung“ begrüßt. Doch dann kam der Winter der Reaktion. Der Schock, den die offensichtliche Prekarität der Grenze insbesondere bei rechten Kräften in den Zentrumsstaaten auslöste, führte zu einer ersten Renationalisierungsbewegung. Die erste und vergleichsweise stabilste Phase der Europäischen Migrationspolitik – trotz ihres stets krisenhaften Potentials – kam damit 2015 an ihr Ende.
Krise und Konjunkturen
Die Europäische Migrationspolitik verläuft in Konjunkturen, in denen Krisen jeweils den Beginn einer neuen Phase einläuten. Ihre Krisenhaftigkeit resultiert aus zwei miteinander verbundenen strukturellen Konflikten: zum einen aus dem asymmetrischen Verhältnis zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, denn Migration ist ein Seismograf für globale soziale Ungleichheit; und zum anderen aus der inneren Spaltung des europäischen Integrationsprojekts, das durch ungleiche Lebensverhältnisse in der EU und eine starke Dominanz der EU-Kernstaaten gegenüber den Staaten an den Außengrenzen geprägt ist. Der Sommer 2015, in dem sich auch die “griechische Staatsschuldenkrise“ ereignete, hat diese strukturellen Konflikte sichtbar gemacht. Beide Konfliktkonstellationen verhindern jedoch systematisch eine gemeinsame europäische Politik, die nachhaltig stabil ist. Die einzige Einigung, die möglich zu sein scheint, ist die der zweifachen Externalisierung: an die Außengrenzstaaten der EU und in den globalen Süden. Die Vorstellung, Migration „wie einen Wasserhahn“ auf- und abdrehen zu können – eine von der Migrationsforschung längst widerlegte Annahme – wird dabei mit immer neuen Steuerungsphantasien reformuliert.
Beyond Summer 2015
Der Wiederaufbau des Grenzregimes nach 2015 reaktualisierte diesen Steuerungsanspruch. So wurde etwa die Frontex-Verordnung innerhalb eines Jahres novelliert. Aus der „Grenzschutzagentur“ wurde die „Europäische Grenz- und Küstenwache“, die erstmals über eine eigene grenzpolizeiliche Reserve verfügte. Zudem setzten die EU-Staaten noch stärker auf die Externalisierungsstrategien. Backhaus u.a. kamen 2017 zu dem Ergebnis, dass inzwischen drei europäische „Abwehrzonen“ den afrikanischen Kontinent durchkreuzen: „Die erste dieser Abwehrzonen zieht sich durchs zentrale Mittelmeer. Die zweite reicht von der Mittelmeerküste bis in die Sahara. […] Die dritte Zone erstreckt sich bis hinein in die Herkunfts- und Transitländer der Flüchtlinge, bis nach Niger zum Beispiel.“ Gleichzeitig versuchte die EU-Kommission durch den „EU-Türkei-Deal“ die Fluchtroute über die Türkei zu schließen. Durch den „hot-spot“-Ansatz etablierten sich beschleunigte Grenzverfahren in Italien und Griechenland, die die Blaupause für das neue GEAS darstellen sollten. An dem grundsätzlichen Konstruktionsfehler des GEAS, die Verantwortung für die Flüchtlingsaufnahme an die Außengrenzen zu verschieben, änderte sich jedoch nichts. Der Kommission gelang es lediglich, einen Notfallumverteilungsmechanismus in Gang zu setzen, gegen den Staaten wie Ungarn oder Polen heftig opponierten und ihre Asylsysteme weit über die Grenze der Rechtsstaatlichkeit hinaus demontierten (zu einer Analyse des ungarischen Asylsystems, vgl. Pichl 2021).
Neben den repressiven Politiken beherrschte zugleich ein Diskurs über Fluchtursachenbekämpfung die politische Öffentlichkeit. Dieser Diskurs mobilisierte entwicklungspolitische Gelder und Projekte. Das grundlegende Problem dieses Ansatzes war allerdings seine „internalistische Perspektive“: die Ursachen wurden einseitig „vor Ort“ identifiziert – nicht in der internationalen Arbeitsteilung, den Handelsbeziehungen, den Nachwirkungen des Kolonialismus oder in dem vor allem im globalen Norden verursachten Klimawandel. Daher blieb er auch wirkungslos. Immerhin zirkulierte er jedoch die Idee, dass die Ursachen von Flucht und Migration und nicht nur die bloße Abwehr im Zentrum der Debatten stehen müssten.
Die EU-Kommission und vor allem die (rechts-)konservativen Kräfte stilisierten die Migrationspolitik nach 2015 zu einem entscheidenden Faktor für die Zukunft der EU. Die Kommission fürchtete eine Erosion der Schengener Binnenfreizügigkeit und das Erstarken autoritärer Kräfte in der EU. Sie brachte daher im September 2020 eine grundlegende Reform des GEAS auf den Weg („New Pact on Migration and Asylum“), die Verschärfungen beim Rechtsschutz von Asylsuchenden vorsah sowie eine erhebliche Ausweitung von Inhaftierungen und restriktiven Drittstaatskonzepten. Durch diesen Ansatz übernahm sie Forderungen von rechten Kräften in der Migrationspolitik und scheiterte dennoch zunächst an den unterschiedlichen Interessenlagen zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Parallel ließen sich im juridischen Feld Rückschläge im Bereich der menschenrechtlichen Rechtsprechung verzeichnen. Der EGMR wendete sich durch einige Leitentscheidungen partiell von seiner Rechtsprechung zu Push-Backs (illegalen Zurückweisungen) und zum Zugang zu Asylverfahren ab und übernahm stärker die migrationsabwehrenden Positionen der Nationalstaaten. Diese Konjunktur nach dem Sommer 2015 war daher von konfliktiven Suchbewegungen nach einer „europäischen Lösung“ geprägt.
Europäischer Asylkompromiss und offene Grenzen
Der „Schock“ des Sommers der Migration wirkte bei den konservativen Kräften, für die die Souveränität über die Grenzen politisch identitätsstiftend ist, lange nach und kulminierte in dem Mantra: „2015 darf sich nicht wiederholen“. Doch keine sieben Jahre später geschah ironischerweise genau das. Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine flohen Ukrainier*innen und Drittstaatsangehörige in die EU-Staaten. Aktuell zählt der UNHCR 6.346.300 Geflüchtete aus der Ukraine in Europa, davon über eine Million in Deutschland. Allerdings gilt für ukrainische Staatsangehörige seit 2017 Visafreiheit in der EU. Dies ging einerseits auf den Wunsch der EU zurück, die Ukraine stärker an Europa zu binden und eine Öffnung des Arbeitsmarktes zu forcieren, war aber andererseits auch ein Zugeständnis dafür, dass die Ukraine lange Zeit ebenfalls ein wichtiger Baustein in der migrationspolitischen Externalisierungsstrategie war. Die EU finanzierte beispielsweise Gefängnisse in der Ukraine, in die Geflüchtete verbracht wurden. Hinzu kam die Erfahrung mit der administrativen Überforderung der unterfinanzierten Aufnahmeinfrastrukturen im Sommer 2015. Deswegen aktivierten die Mitgliedstaaten erstmals seit ihrem Inkrafttreten die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz aus dem Jahr 2001 und nahmen die Ukrainer*innen unbürokratisch außerhalb des Asylverfahrens auf. Der Sommer 2015 hatte sich gewissermaßen wiederholt – überraschenderweise war das aber kein Thema, denn die geopolitische Frontstellung gegenüber Russland und die rassistisch konnotierten doppelten Standards bei der Flüchtlingsaufnahme überdeckten dies.
In starkem Kontrast zu dieser Entwicklung verschärfte sich gleichzeitig die tradierte Politik der Grenzkontrolle und Externalisierung. Es gelang sogar die grundlegende Überarbeitung des GEAS und damit die kurzzeitige Überwindung der nationalstaatlichen Blockaden, trotz massiven Widerstands aus den Reihen der pro-migrantischen Zivilgesellschaft. Auch die deutsche Bundesregierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag von 2021 (S. 112) noch Kritik an den GEAS-Plänen der Kommission erahnen lassen, schwenkte aber im April 2023 auf die Linie der Kommission ein, und sowohl Rat als auch Parlament beschlossen die gravierendsten Asylrechtsverschärfungen der letzten dreißig Jahre. Nicht zufällig begann der aufgeheizte flüchtlingspolitische Diskurs, der schließlich in das neue GEAS mündete, mit einem von der postfaschistischen italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni initiierten Grenzspektakel im Sommer 2023. Wer in diesem Sommer seinen Urlaub außerhalb der EU verbrachte, rieb sich bei der Heimkehr verwundert die Augen: War das bestimmende Thema zuvor noch die Inflation oder die Klimakrise, gab es wenige Wochen später nur noch ein Thema: Migration.
More Borders, More Nations?
Die Kommission verbindet mit dem GEAS nicht nur eine Rettung Schengens, sondern auch eine noch stärkere Europäisierung der Migrationspolitik, indem zentrale Regelungen von Richtlinien in Verordnungen überführt werden. Das heißt, sie werden ohne eigenes nationales Gesetz unmittelbar anwendbar. Doch direkt nach dem Beschluss über das GEAS beschreiten viele Mitgliedstaaten nationale Alleingänge, die alle außerhalb des neuen Rechtsrahmens stattfinden. Italien hat mit dem sogenannten Albanien-Modell eine eigene Form der Externalisierung aufgebaut, die jedoch rechtlich stark und durchaus erfolgreich bekämpft wird. Litauen, Finnland und Polen haben entgegen den europäischen Vorgaben Push-Backs legalisiert. Polen stellt sogar infrage, inwieweit die Genfer Flüchtlingskonvention noch als Maßstab des EU-Asylrechts fungieren soll. 15 EU-Mitgliedstaaten drängen bei der Kommission darauf, mehr Handlungsspielräume für Drittstaatskonzepte wie das „Ruanda-Modell“ zu erhalten – obwohl selbst die britische Regierung dieses über 800 Millionen teure Konzept aufgegeben hat. Die neue deutsche Bundesregierung führt seit Mai 2025 zudem auch Zurückweisungen von Asylsuchenden an den Landgrenzen durch und kalkuliert den Bruch mit dem Europarecht strategisch mit ein. CDU/CSU setzen sich zudem in ihrem Grundsatzprogramm für eine komplette Auslagerung aller Asylverfahren außerhalb Europas ein. „Migration“ wird zum Meisternarrativ: Egal welches gesellschaftliche Problem adressiert wird, es wird suggeriert, „dass Frieden und Sicherheit in Europa eine Frage des Grenzschutzes sei“.
Die Migrationspolitik bleibt auf allen Feldern umkämpft
Noch ist nicht ausgemacht wie diese Auseinandersetzung zwischen Renationalisierung und Europäisierung ausgeht und welche Potenziale für eine progressive Migrationspolitik sich noch mobilisieren lassen. Das hängt von den weiteren Entwicklungen und Kämpfen ab. Aus den Konjunkturen der Migrationspolitik lässt sich lernen, dass es keine deterministischen Entwicklungslogiken gibt. Mit Foucault könnte man sagen: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.“ Migrant*innen sind keine Objekte, sondern Subjekte in dieser Auseinandersetzung, in der verschiedene gesellschaftliche Kräfte miteinander um das Grenzregime ringen. Darüber hinaus sind massive Rechtskämpfe zu erwarten. Mit Unterstützung von PRO ASYL konnte beim Verwaltungsgericht Berlin beispielsweise schon ein erster erfolgreicher Beschluss gegen die Zurückweisungen der deutschen Bundespolizei errungen werden. Auch vor den europäischen Gerichten haben Rechtskämpfe zudem aktuell eine progressive Hochphase: Der EuGH hat im Jahr 2024 teilweise bahnbrechende Entscheidungen gefällt was den Schutz geflüchteter Frauen oder die Anwendung von Kriterien bei sicheren Herkunftsstaaten angeht. Der EGMR hat Anfang 2025 in einer Entscheidung die Dokumentation von NGOs bestätigt, dass Griechenland systematische Pushbacks durchführt und die Zurückschiebung einer türkischen Geflüchteten für menschenrechtswidrig erklärt. All diese Entscheidungen behindern nicht nur die nationalen Alleingänge der EU-Mitgliedstaaten, sondern stellen bereits juristische Maßstäbe für die menschenrechtliche Einhegung des neuen GEAS dar. Vereinzelt fordern Politiker*innen deswegen den Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und neun Staaten üben erheblichen Druck auf den EGMR in einem offenen Brief aus – und auch aus der politiknahen Rechtswissenschaft gibt es den Ruf nach einer Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle.
Gleichzeitig wird deutlich, dass Europa dringend auf Zuwanderung angewiesen ist. 400.000 Personen, so argumentieren Wirtschaftswissenschaftler*innen, braucht die deutsche politische Ökonomie pro Jahr, um den Wohlstand halten zu können. Die spanische Regierung hat auf die demographische „Population Crisis“ mit einer Einwanderungsreform reagiert und legalisiert den Aufenthalt von irregulär eingereisten Migrant*innen. Und zwei Drittel derjenigen, die im Sommer 2015 nach Deutschland flohen, arbeiteten bereits 7 Jahre später, 90% davon sozialversicherungspflichtig.
In den Konjunkturen der europäischen Migrationspolitik reagieren verschiedene Kräfte mit widersprüchlichen Interessen und Strategien im Kontext der globalen Ungleichheitsverhältnisse auf historische Ereignisse und prägen so das jeweils aktuelle Grenzregime. Der „Sommer der Migration“ war eines dieser Ereignisse. Er offenbarte nicht nur die Prekarität des Grenzregimes, sondern auch die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Verteidigung der Migrationsgesellschaft, in der wir schon längst zusammenleben.
Zitiervorschlag:
Buckel, Sonja; Pichl, Maximilian. Zwischen Offenheit und Abschottung: Über die widersprüchlichen Konjunkturen der europäischen Migrationspolitik nach dem Sommer der Migration. FluchtforschungsBlog, 25. Juni 2025, https://fluchtforschung.net/zwischen-offenheit-und-abschottung-ueber-die-widerspruechlichen-konjunkturen-der-europaeischen-migrationspolitik-nach-dem-sommer-der-migration/, DOI: 10.59350/fluchtforschung.14951.