Ehrenamtliche Flüchtlingshilfe ist in erster Linie getragen von den Beziehungen zwischen Geflüchteten und bürgerschaftlich Engagierten. Die Corona-Pandemie verändert das Beziehungsgefüge auch in diesem Feld. Der folgende Beitrag betrachtet diese Beziehungen in reziprozitätstheoretischer Perspektive und zeigt Chancen und Risiken für die Arbeit in der Flüchtlingshilfe auf.
Das Corona-Virus hat innerhalb kurzer Zeit unseren Alltag massiv verändert, wobei widersprüchlich scheinende Tendenzen zu beobachten sind: Einerseits werden Zusammenhalt und Verantwortungsbewusstsein beschworen, das überwältigende Engagement und die spürbare Sorge füreinander betont. Andererseits gehen wir auf Abstand, tragen Masken und beschränken unsere sozialen Kontakte. Es scheint paradox: Solidarität drückt sich in sozialer Distanz aus, sie zeigt sich aber auch im zivilgesellschaftlichen Engagement und der großen Hilfsbereitschaft. Einmal mehr wird deutlich, dass Zeiten der Krise auch Zeiten des Engagements und der Solidarität sind.
Im Kontext der Corona-Pandemie ist allerdings ein neues Geben und Nehmen zu beobachten. Zu den Gruppen mit hohem Engagement zählen die über 60-Jährigen – nun gelten sie als Risikogruppe, die besonders gefährdet und schutzbedürftig ist. Anstatt zu geben und anderen zu helfen, sollen sie jetzt zu Hause bleiben, Hilfen annehmen und sich in Selbstfürsorge üben. Das betrifft auch den Bereich der Flüchtlingshilfe: Zahlreiche ältere Engagierte sind hier aktiv, um Geflüchtete auf vielfältige Weise zu unterstützen sowie auf deren oftmals prekäre Situation politisch und in den Medien aufmerksam zu machen. All das war durch den Corona-Lockdown nicht mehr in gleicher Weise möglich. Welche Folgen hat diese Situation für das zivilgesellschaftliche Engagement für Geflüchtete sowie für die Beziehungen zwischen Engagierten und Geflüchteten?
Reziprozität: Vom Geben und Nehmen in Sorge-Beziehungen
Wir betrachten die Beziehungen zwischen Engagierten und Geflüchteten als Sorge-Beziehungen und nähern uns diesen Fragen mit Bezug auf Theorien zur Gabe und Reziprozität. Verkürzt gesagt, geht es in reziprozitätstheoretischen Ansätzen um Gaben, um Geschenke und freiwillige Leistungen insbesondere im Care-Bereich, die wir anderen Menschen geben und die typischerweise auch Ehrenamtliche erbringen. Wenngleich diese Gaben meist altruistisch motiviert sind und freiwillig erfolgen, sind sie doch mit (mindestens zwei) Erwartungen verbunden: Die andere Person nimmt die Gabe an und die gebende Person erhält eine angemessene Gegengabe (vgl. etwa Simmel (2016), Mauss (2013), Sahlins (1972), Gouldner (1984) und Bourdieu (2015)). Diese Gegengaben, die Stöckinger (2020: 225) auch als „Formen des Nehmens“ beschreibt, können in (1) Hilfeleistungen und Fürsorgetätigkeiten, z.B. Mithilfe im Haushalt; (2) Dankbarkeit (eher immaterielle/emotionale Wertschätzung); (3) materiellen Erwiderungen, z.B. Bezahlung und (4) (innere) Zufriedenheit der gebenden Person selbst bestehen. Die Gegengaben können zudem zeitlich verzögert und von anderen Personen als den Nehmenden gewährt werden. Theorien der Reziprozität prognostizieren nun, dass Sorge-Beziehungen zwischen reinem Geben und reinem Nehmen liegen können. Für stabile, dauerhafte Beziehungen wird postuliert, dass diese eine möglichst gut austarierte Balance voraussetzen. Erfolgt keine Gegengabe, gleichviel durch wen oder wann diese gewährt wird, dann kann es zu Enttäuschungen kommen, die Beziehung ist nicht länger ausbalanciert und es besteht das Risiko, dass sie beendet wird.
Bezogen auf die Sorge-Beziehungen zwischen Engagierten und Geflüchteten bedeutet das: Engagierte gewähren vielfältige Unterstützungsleistungen, wobei ihr Engagement von unterschiedlichen Motiven getragen und mit Erwartungen verbunden ist. Wenn diese nicht erfüllt werden, wenn auf das Geben kein Nehmen und keine Gegengabe folgen, dann droht der Abbruch der Beziehung, wie wir in unserer Studie zeigen konnten. Die Geflüchteten ihrerseits möchten oftmals etwas zurückgeben, um für Ausgewogenheit zu sorgen, sie sehen sich aber zunächst nicht in der Lage, eine angemessene Gegengabe anzubieten. Es kommt auch vor, dass ihre Gaben von den Engagierten nicht als solche erkannt und/oder abgelehnt werden, etwa die häufigen Einladungen zum Essen oder teure Geschenke. Die wahrgenommene fehlende Balance kann zum Rückzug der Geflüchteten führen. Die Balance in der Sorge-Beziehung ist immer auch ein bisschen ‚wacklig‘ und aktuell durch die veränderten Rahmenbedingungen infolge der Pandemie besonders gefährdet, weil Geben und Nehmen eingeschränkt sind oder gar nicht mehr stattfinden können.
Zivilgesellschaftliches Engagement in Zeiten der Corona-Pandemie
Wie eingangs beschrieben, wird mit Verweis auf Corona Solidarität gefordert und die tatsächlich große Hilfsbereitschaft gelobt. Aber es gibt Unterschiede im Ausmaß der Solidarität, wie unter anderem Younso/Ziegler 2020 zeigen: Nach deren Einschätzung gibt es einerseits eine aktive Zivilgesellschaft, die sich solidarisch verhält, spontane Hilfen gewährt und auf Freiheitsrechte verzichtet, um Risikogruppen zu schützen. Andererseits sei eine fehlende Solidarität mit Geflüchteten zu beobachten, die sich beispielsweise in der Art ihrer Unterbringung und ihrer (Nicht-) Aufnahme zeige. Das neue „Wir-Gefühl“ beziehe sich demnach vor allem auf die unmittelbare Nachbarschaft, die „eigene Gemeinschaft“ und weniger auf Geflüchtete. Hinzukommen unseres Erachtens aber weitere Aspekte, die das Engagement derzeit erschweren oder ganz unmöglich machen und damit auch das Beziehungsgefüge verändern: So gehören gerade diejenigen, die Geflüchtete unterstützen und Sorge-Beziehungen aufgebaut haben, aufgrund ihres Alters mehrheitlich zu den Corona-Risikogruppen. Sie sollen nicht nur soziale Kontakte vermeiden, sondern auch lernen, weniger zu geben und mehr anzunehmen, also vorgeblich „egoistisches Verhalten“ zeigen, das ist für viele ungewohnt.
Für alle Engagierten war das Betreten von Gemeinschaftsunterkünften über einen längeren Zeitraum verboten, und auch jetzt bestehen noch Einschränkungen. Besuche von geflüchteten Familien in Privatwohnungen waren lange Zeit nicht möglich, wenngleich die Kinder schulische Unterstützung bräuchten und häusliche Konflikte leicht eskalieren. Hier wurden z.T. kreative Lösungen gefunden, etwa die regelmäßige Lieferung von Materialien und Anleitungen zur Beschäftigung von Kindern in Gemeinschaftsunterkünften, Treffen außerhalb der Wohnungen oder telefonische Beratungsangebote. Aber ein großer Teil des Engagements ruhte und ruht auch weiterhin. Dieses Ruhen-Lassen des Engagements fällt aktiven Menschen außerordentlich schwer und es verstärkt die Ohnmachtserfahrungen in der Krise. Die erlebte Handlungsunfähigkeit kann sich negativ auf die physische wie psychische Gesundheit der Engagierten auswirken und so das weitere Engagement einschränken.
Wir beobachten zudem, dass Sorge-Beziehungen zwischen Engagierten und Geflüchteten zugunsten anderer Solidaritätsbeziehungen, die in der Krise als gewichtiger eingeschätzt werden, aufgegeben werden. Das vielerorts zu verzeichnende hohe Engagement stellt nach unserer Einschätzung auch einen Ersatz für unfreiwillig eingestelltes Engagement u.a. in der Flüchtlingshilfe dar. Außerdem waren viele „Held*innen“ des Langen Sommers der Migration schon vor der Krise müde (Breithecker 2018), die erzwungene Unterbrechung könnte das ohnehin rückläufige Engagement für Geflüchtete nochmals beschleunigen. Denn die Corona-Krise stellt sich auch als tiefgreifende Orientierungs- und Sinnkrise dar, die bei Engagierten zur einer Neuorientierung führen kann – und zu der Erkenntnis: Es geht auch ohne Engagement.
Was bedeutet das für die Reziprozität der Beziehungen zwischen Engagierten und Geflüchteten? Einerseits können Engagierte infolge der Corona-Pandemie nicht im gewohnten Maß geben, d.h. viele Unterstützungsleistungen nicht erbringen, andererseits sind sie auch von den Gegengaben, z.B. vom Dank der Geflüchteten und interkulturellen Begegnungen abgeschnitten. Auch die innere Zufriedenheit, die sozialen Kontakte zu anderen Engagierten und die Anerkennung durch Dritte fehlen. Zugleich ist den Engagierten bewusst, dass während des Lockdowns ein besonderer Unterstützungsbedarf bestand und auch jetzt noch besteht: So ist infolge der Schulschließungen zu befürchten, dass Schüler*innen und Auszubildende mit Fluchthintergrund „abgehängt“ werden, da meist die Voraussetzungen für erfolgreiches Home-Schooling (keine Ausstattung mit WLAN, Tablets, Drucker etc.) und selbstständiges Lernen fehlen. Das Fehlen der gerade jetzt notwendigen Unterstützung kann dazu beitragen, dass die Arbeit der Ehrenamtlichen nun eine größere Wertschätzung erfährt – analog zur größeren Wertschätzung für Care-Arbeitende in der Corona-Krise generell.
Die Pandemie eröffnet den meist jungen Geflüchteten die Möglichkeit, aktiv zu werden und ihrerseits Unterstützung anbieten: Sie können Einkäufe erledigen, Masken nähen, Kontakte z.B. über WhatsApp aufrechterhalten und damit die Vereinsamung gerade älterer Engagierter reduzieren. Durch diese Hilfen, diese Gaben für Ehrenamtliche können sie nun ihrerseits Gegengaben wie z.B. Dankbarkeit, Wertschätzung und innere Zufriedenheit zu erhalten.
Ausblick: Die Balance neu finden
Die zur Bekämpfung der Corona-Pandemie ergriffenen Maßnahmen, insbesondere die Reduktion sozialer Kontakte und persönlicher Begegnungen können also die Beziehungen zwischen Engagierten und Geflüchteten erheblich verändern. Das Engagement war und ist gar nicht oder nur eingeschränkt möglich, zugleich sind ältere Engagierte häufiger die Adressat*innen von Hilfsangeboten. Die Pandemie eröffnet für Geflüchtete die Möglichkeit, dass eine aktive Rolle einnehmen und Engagierte unterstützen. Während sie zuvor eher die Nehmenden waren, können sie jetzt die vormals auf die Zukunft angelegten Gegengaben gewähren. Diese Veränderungen bedeuten auch, dass die Balance in den Sorge-Beziehungen neu gefunden werden muss. Was ist hier zu erwarten? Und wie können sich im Bereich der Flüchtlingshilfe neue Verhaltensmuster und geändertes soziales Handeln etablieren?
Die Krise eröffnet die Chance, in den Beziehungen zwischen Geflüchteten und Engagierten ein neues Geben und Nehmen zu etablieren. Dazu bedarf es entsprechender Aushandlungsprozesse und auf beiden Seiten der Bereitschaft, das eigene Verhalten zu ändern sowie neue Rollen zu übernehmen. Das kann gelingen, wenn die Bindungen tragfähig sind. Dort, wo die Beziehungen schon vorher wenig austariert waren, werden Rückzug und Hilflosigkeit dominieren. Da, wo durch vielfältige persönliche Begegnungen gute Beziehungen entstanden sind, bleiben diese trotz Social Distancing bestehen.
Es besteht die Gefahr, dass nach dem Ende der Corona-Krise viele ihr Engagement nicht fortsetzen werden. Ein Teil wird sich anderen Aktivitäten widmen, andere werden sich ganz zurückziehen. Darin liegt ein erhebliches Risiko für Organisationen und Initiativen, die auf bürgerschaftlichem Engagement basieren. Daher ist es essentiell, dass zivilgesellschaftliche Organisationen gerade jetzt die Engagierten in den Blick nehmen. Sie sollten viel daransetzen, ihre Mitglieder „bei der Stange zu halten“, Motivationsarbeit leisten, Angebote zum Austausch und zur (virtuellen) Begegnung machen, damit diese sich auch weiter für Geflüchtete engagieren und damit einen wesentlichen Beitrag für eine erfolgreiche Integrationsarbeit leisten.
Dieser Blogbeitrag ist Teil der Reihe Folgen von COVID-19 für Flucht und Geflüchtete auf dem FluchtforschungsBlog.