10 Jahre nach dem langen Sommer der Migration – was bleibt? Das Erbe der Asylkrise von 2015 in der deutschen und europäischen Asylpolitik

Die EU und ihre Mitgliedstaaten erlebten im Sommer 2015 den bis dahin größten Zuzug von Flüchtenden ihrer Geschichte. Lösungsansätze, die diese Herausforderung auf Basis des Solidaritätsprinzips mit einer möglichst fairen Verteilung der Verantwortlichkeiten innerhalb der EU angehen sollten, waren nicht umsetzbar. Daraufhin nahm in der EU die Tendenz zu Restriktionen im Flüchtlingsschutz und Externalisierung der Verantwortlichkeiten zu, was nicht zuletzt in Reaktion auf rechtspopulistische Forderungen geschah. Dieser Beitrag geht der Frage nach dem asylpolitischen Vermächtnis des langen Sommers der Migration in Europa nach.

 

In der Woche zwischen dem 12. und 19. April 2015 sanken im Mittelmeer zwei Schiffe mit Flüchtenden, in denen über eintausend Menschen ums Leben kamen. Unmittelbar danach kamen die Ratsformationen der Europäischen Union (EU) in den Bereichen Innen- und Außenpolitik zusammen, um in einem Zehn-Punkte-Plan Sofortmaßnahmen zur Bewältigung der Krisensituation zu beschließen. Dies war der Auftakt zu den politischen Lösungsversuchen am Beginn des „langen Sommers der Migration“ bzw. der europäischen Krise der Asylpolitik. Spätestens seit der Katastrophe vor Pylos, bei der am 14. Juni 2023 ca. 500 Menschen starben und eine Verwicklung der griechischen Küstenwache wahrscheinlich ist, ist allerdings klargeworden, dass die EU das Sterben auf dem Mittelmeer mittlerweile mindestens achselzuckend hinnimmt, wenn nicht gar für ihre asylpolitischen Ziele billigend in Kauf nimmt.

Am 13. Mai 2015 stellte die Europäische Kommission in ihrer umfangreichen Migrationsagenda konkrete kurz- und langfristige Lösungen für die sich zuspitzende Situation an der südlichen Peripherie der EU vor. Aus heutiger Sicht ist das Dokument bemerkenswert, da die Kommission zum einen die Mitgliedstaaten deutlich ermahnte, ihren Verpflichtungen aus dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) nachzukommen; zum anderen aber auch erkannte, dass das Dublin-System aufgrund seiner Logik der Verantwortungszuweisung nicht funktionierte. Daher schlug die Kommission eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Neuorientierung des GEAS vor. Sie setzte eine eigene, weitgehend progressive asyl- und flüchtlingspolitische Agenda in deutlichem Kontrast zu den Interessen der Mitgliedstaaten, denen sie nach langem Zögern nun vermehrt Vertragsverletzungsverfahren androhte. Dabei stellte die Kommission unter anderem erstmals einen verbindlichen Umsiedlungsmechanismus zur Entlastung der besonders unter Druck stehenden Mitgliedstaaten vor – und entschied sich gegen die vom Europäischen Parlament vorgeschlagene Aktivierung der „Massenzustrom“-Richtlinie. In den folgenden Monaten erhöhte sich die Zahl der Flüchtenden in der EU noch einmal deutlich – erinnert sei hier an Angela Merkels „wir schaffen das“ und die Situation am Budapester Keleti-Bahnhof. Daraufhin wurde am 22.09.2015 im Rat der Beschluss zur zeitlich begrenzten, jedoch verpflichtenden Umsiedlung von 120.000 Menschen aus Griechenland und Italien in die weiteren Mitgliedstaaten gefasst.

 

Verantwortungsteilung und Solidarität im Zuge der Krise

Die Kommission hatte mit diesem Vorschlag ausdrücklich versucht, dem Prinzip der Solidarität und der fairen Verantwortungsteilung Geltung zu verschaffen. Dieses in Art. 80 AEUV verbriefte Gebot gilt für alle Maßnahmen in den Bereichen Asyl, Grenzkontrollen und Einwanderung. Es verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einhaltung der gemeinsam beschlossenen Rechtsnormen und politischen Ziele, was im Falle der Asylpolitik eben auch bedeutet, für eine gerechte Aufteilung der Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten zu sorgen. Dieses Ziel wird ganz grundsätzlich vom „Verursacherprinzip“ im Verantwortungszuteilungsmechanismus des GEAS untergraben. Der verpflichtende Umsiedlungsmechanismus sollte diesem Defizit zumindest zeitweise entgegenwirken.

Die ungarische Regierung weigerte sich, Nutznießerin dieses Vorhabens zu werden, da sie die Maßnahme rundheraus ablehnte. Zusammen mit Rumänien, der Slowakei und Tschechien votierte Ungarn gegen den Ratsbeschluss, dem sich Finnland enthielt. Was folgte, war eine bis dahin beispiellose Intransigenz der ablehnenden Mitgliedstaaten, der auch die neue rechtsnationale Regierung in Polen folgte. Ungarn, Tschechien und Polen fochten den Ratsbeschluss vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) an und setzten ihn in der Praxis nicht um. Der EuGH wies nicht nur die Klage gegen den Umsiedlungsbeschluss ab, sondern entschied später auch Vertragsverletzungsverfahren gegen die drei Verweigernden. Dabei wies das Gericht die Mitgliedstaaten mehrfach auf die Pflicht hin, das Solidaritätsprinzip in allen Maßnahmen der Asyl- und Grenzkontrollpolitik einzuhalten. Dazu muss man allerdings festhalten, dass die vorgesehenen Kontingente letztlich zu weniger als einem Drittel erfüllt wurden und so gut wie kein Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen vollständig nachkam.

Inmitten dieser Auseinandersetzungen versuchte die Kommission, das Dublin-System zu reformieren. Sie schlug einen Korrekturmechanismus vor, der bei einer Überlastung einzelner Mitgliedstaaten mit Asylsuchenden greifen sollte. Dabei konnte ein Mitgliedstaat einer pflichtgemäßen Übernahme von Geflüchteten mit einer Zahlung von 250.000€ pro Person entgehen. Diese Dublin-IV-Reform, die damals von einem noch weitergehenden Vorschlag des Europäischen Parlaments (der sogenannte „Wikström-Bericht“) flankiert wurde, scheiterte allerdings nach langem und zähem Ringen im Rat. In Kombination mit dem Scheitern des Umsiedlungsbeschlusses kann der Versuch einer fairen Verantwortlichkeitsteilung durch eine verpflichtende quotenbasierte Verteilung von Schutzbedürftigen seitdem als erledigt gelten. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass die Kommission in ihrem „Neustart“ der GEAS-Reform 2020 stark auf die Präferenzen der Mitgliedstaaten einging, inklusive derjenigen, die gerade vom EuGH für ihre Vertragsverletzung im Asylrecht verurteilt wurden. Das 2024 reformierte Asylsystem soll zwar einen Solidaritätsmechanismus mit Umsiedlungskontingent enthalten; ihre Verpflichtungen können Mitgliedstaaten allerdings auch mit der Zurverfügungstellung von Weiterbildungsmaßnahmen, finanziellen Leistungen oder Beiträgen zum gemeinsamen Grenzschutz erfüllen. Selbst dieser niedrigschwelligen Art der Verantwortungsteilung erteilten Polen, Ungarn und Tschechien gleich nach der Verabschiedung der Reform eine Absage. Das Solidaritätsprinzip in der EU, das durch den Konstruktionsfehler des „Verursacherprinzips“ in der Verantwortlichkeitszuteilung des GEAS nie eingehalten wurde, wird somit auch nach der neuesten Reform wohl nicht zur Geltung kommen. Die Entwicklungen seit 2015 haben die Solidaritätskrise im GEAS nicht etwa entschärft, sondern eine neue Qualität des Solidaritätsdefizits zwischen den Mitgliedstaaten hervorgebracht.

 

Quo vadis GEAS – Eine restriktivere Asylpolitik?

Während die fortschreitende Integration der Asylpolitik auf europäischer Ebene in den 1990er Jahren oftmals mit Restriktionen gleichgesetzt wurde, zeigt die Forschung, dass es seit dem Vertrag von Amsterdam (1999) eher zu Liberalisierungen gekommen war. Hierbei spielte einerseits eine Rolle, dass Mitgliedstaaten mit ausgebauten, funktionalen Asylsystemen wie Deutschland, Schweden oder Frankreich eine führende Position in den Verhandlungen im Rat der EU einnahmen und ein Interesse an der Verabschiedung von gemeinsamen Standards hatten, um Sekundärmigration zu verhindern. Andererseits wurden die Europäische Kommission und das Europäische Parlament, die oftmals liberalere Positionen vertraten als der Rat, durch fortschreitende Integration im Bereich Asyl gestärkt. Diese Liberalisierungen betrafen jedoch hauptsächlich Staaten mit weniger ausgebauten Asylsystemen, die zudem starke Probleme in der Umsetzung des GEAS aufzeigten.

Während die erste (2000-2005) und zweite (2008-2013) Phase des GEAS zunächst der Annahme gemeinsamer Minimalstandards und später gemeinsamer Standards auf einem relativ hohen Schutzniveau gewidmet waren, lag der Fokus im Asylreformprozess zwischen 2016 und 2024 anderswo: Die Stärkung der umstrittenen Grenzschutzagentur Frontex legte beispielsweise den Fokus auf den Bereich Grenzschutz und die Einführung von Asylverfahren an der Grenze, die durch geringere rechtliche Schutzstandards und mögliche Inhaftierung von Asylsuchenden gekennzeichnet sind, belegen den Trend zu einer tatsächlichen Absenkung des Flüchtlingsschutzes. Auch mit der Krisen- und Force Majeure-Verordnung in der jüngsten GEAS-Reform wurden Schutzstandards in Krisensituationen deutlich heruntergeschraubt. Die Richtlinien und Verordnungen zur Harmonisierung von Verfahren, Status und Aufnahmebedingen nehmen hingegen eine untergeordnete Rolle ein, wie auch die Resettlement-Verordnung. Das bedeutet für die Mitgliedstaaten nur sehr bedingt zusätzliche Verpflichtungen. Insgesamt haben Wissenschaftler:innen daher konstatiert, dass der in den 2000er und frühen 2010er Jahren vorherrschende liberale Trend in der Asylpolitik zunehmend einem restriktiven Trend weicht und dass mit Ausnahme des Europäischen Parlaments nun keine EU-Institution mehr dezidiert liberale Positionen in die Asylverhandlungen einbringt. Die zu beobachtende Tendenz ist, dass die EU sogenannte irreguläre Migration nun verstärkt jenseits ihrer Grenzen zu steuern sucht. Zusammen mit der deutlichen Stärkung von Frontex, den geplanten Grenzverfahren sowie der kürzlich von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Abschaffung des Verbindungskriteriums suggeriert dies, dass das Bild der sich abschottenden „Festung Europa“ im Jahre 2025 so aktuell ist wie vielleicht noch nie zuvor.

 

Der Rechtspopulismus und seine Rolle in der europäischen Asylpolitik

Einen wesentlichen Beitrag zu der dargestellten Restriktivierung der Asylpolitik auf europäischer Ebene haben rechtspopulistische Regierungen und Oppositionsparteien geleistet. Diese waren unter anderem im Zuge der seit 2008 anhaltenden Wirtschaftskrise in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten gestärkt worden, insbesondere in den Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei). Deren zuvor beschriebene kompromisslose Haltung im Bereich Flüchtlingsverteilung stellte einen klaren Bruch mit dem Verhalten vorheriger Regierungen in diesen Ländern in der Asylpolitik dar. Diese waren zumeist passiv gewesen und hatten keine starken Positionen in der Migrationspolitik vertreten. Doch auch Staaten mit nicht-populistischen Regierungen kamen zunehmend unter Druck von rechtspopulistischen Oppositionsparteien, wie die Fälle Schweden und Deutschland zeigen. Die deutsche CDU-Bundeskanzlerin, die zunehmend Druck von einer erstarkenden AfD sowie der bayerischen Schwesterpartei CSU erfuhr, bemühte sich zunächst um europaweite Flüchtlingsverteilung und verfolgte nach der Blockade durch die Visegrad-Staaten das EU-Türkei-Abkommen zur Beendigung der Flüchtlingszuwanderung über die Balkanroute.

In den Verhandlungen zur gescheiterten Dublin-IV-Reform zeigte sich, dass rechtspopulistische Regierungen formale und informelle europäische Normen brechen und Kompromisse oftmals komplett ablehnen. Es konnte gezeigt werden, dass rechtspopulistische Regierungen, deren Länder von einer solchen Reform sogar profitieren würden (hier: Italien), als Bremsklotz auftreten. Da sie elektoral von der Wahrnehmung einer „Flüchtlingskrise“ am meisten profitieren, blockieren sie aktiv Lösungen auf europäischer Ebene, um die Wahrnehmung einer Krise unter den Wähler:innen zu verfestigen.

Die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten ohne rechtspopulistische Regierung verfolgen zwei Strategien im Umgang mit Rechtspopulist:innen: Einerseits entwerfen und verabschieden sie Politiken, die den restriktiven Interessen ihrer Wähler:innen entsprechen. Diese laufen jedoch Gefahr, die Positionen von rechtspopulistischen Parteien zu normalisieren und führen erwiesenermaßen nicht zu einem Rückgang der Unterstützung dieser Parteien. Gleichzeitig versuchen sie aufzuzeigen, dass die EU in diesem Politikbereich aktiv ist und „Lösungen“ für das wahrgenommene „Problem“ der Migration bereithält. Manche Politiken haben dabei reine Symbolwirkung und sind erwiesenermaßen nicht in der Lage ihre deklarierten Ziele im Bereich der Migrationskontrolle zu erreichen (Beispiel: EU-Notfalltreuhandfonds für Afrika). Auch nationale Vorstöße, wie der 5-Punkte-Plan von Friedrich Merz vor der Bundestagswahl 2025 sowie die Verstärkung der Grenzkontrollen, inklusive teils rechtswidriger Zurückweisungen, entspringen dem Wunsch Stärke zu signalisieren. Das als „Problem“ wahrgenommene Thema Migration soll als „‚unter Kontrolle“ markiert werden, auch wenn die praktische Umsetzbarkeit, Rechtmäßigkeit und Funktionsfähigkeit solcher Maßnahmen fragwürdig sind.

 

10 Jahre nach der Krise – was bleibt?

Was bleibt also 10 Jahre nach dem langen Sommer der Migration in der EU-Asylpolitik zu konstatieren? Während es im Jahr 2015 noch einen großen und mächtigen Block aus Institutionen und Mitgliedstaaten in der EU gab, die eine humanitäre und menschenrechtsbasierte Asylpolitik verfolgten, ist davon im Jahre 2025 kaum noch etwas übrig. Von einer „Koalition der Willigen“ ist nichts mehr zu erkennen, auch nicht, wenn Mitgliedstaaten sozialdemokratisch oder grün regiert werden. Rechtspopulistische Extrempositionen, wie die Ungarns und Polens, sind mittlerweile europäischer Mainstream. Die asyl- und flüchtlingspolitische Präferenz in Europa liegt heute fast einhellig auf der Abwehr von ungewollter, „irregulärer“ Migration, was auch die Hinnahme von Europa- und Menschenrechtsverletzungen inkludiert.

Das dem GEAS inhärente Solidaritätsdefizit, welches im Laufe der Fluchtbewegungen 2015/2016 deutlich zutage getreten war, hat sich nicht vermindert, sondern eher noch verschärft. Insgesamt ist den Mitgliedstaaten mehr Ermessensspielraum bei der Umsetzung der gemeinsamen Asylpolitik eingeräumt worden, von dem sie im Sinne immer weiter gehender Restriktionen auch Gebrauch machen. Der Flüchtlingsschutz wurde und wird erodiert, um das allgemein akzeptierte, übergeordnete Ziel zu erreichen: irreguläre Migration in die EU zu verhindern. Die geplante Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten, Ausnahmegesetzgebungen zur Aufhebung des Asylrechts, errichtete Zäune, Pushbacks und Gewalt an den Grenzen, die mit einem humanitären und evidenzbasierten Ansatz nicht zu vereinbaren sind und damit auch gegen den Wertekanon der EU verstoßen, bezeugen diesen Trend.

Diese migrationspolitischen Ziele sind die Einlösung rechtspopulistischer Forderungen, die in Europa parteiübergreifend übernommen worden sind. Hintergrund dieser Entwicklung ist auch, dass unter vielen Entscheidungsträger:innen der Irrglaube zu bestehen scheint, damit rechten Parteien der Nährboden entziehen zu können. Dabei bezeugt die Forschung einen gegenteiligen Effekt, was sich auch an den europaweiten Wahlergebnissen ablesen lässt. Statt sich von rechtspopulistischen Parteien treiben zu lassen, sollten Regierungen ihren Wähler:innen gegenüber aufrichtig bleiben und Lösungen anbieten, die sich erfolgreich umsetzen lassen können, ohne menschenrechtliche und rechtsstaatliche Prinzipien weiter auszuhöhlen. Eine rein performative Politik, die Tatkraft zeigen soll, aber auf migrationspolitischen Mythen beruht, ist dafür nicht geeignet. Es existiert keine überzeugende empirische Basis für die intendierte Abschreckungswirkung vieler Instrumente (die Kürzung von Leistungen für Asylsuchende, Bezahlkarten, Restriktion von Familienzusammenführungen). Sie erschweren aber die Integration der hier legal aufhältigen Asylsuchenden und Migrant:innen. Da die Rückkehr abgelehnter Asylbewerber:innen in ihre Heimat regelmäßig auf absehbare Zeit nicht möglich ist, wäre es aber auch aufgrund des sich verschärfenden Arbeitskräftemangels geboten, Ressourcen stärker auf die Integration als auf die erwiesenermaßen ineffektive Abschreckung von ungewollten Migrant:innen und Asylsuchenden zu konzentrieren.

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