Globale Trends zu Flucht und Asyl im Jahr 2022

Von Ulrike Krause und Marcus Engler

Es ist mittlerweile zur Tradition geworden, dass UNHCR anlässlich des Weltflüchtlingstags am 20. Juni den sogenannten Global Trends-Bericht veröffentlicht. Darin gibt die Organisation Einblicke in die globalen Fluchtentwicklungen des Vorjahres. Der aktuelle Bericht über 2022 ist erschienen und legt deutlich dar, dass die Zahl der Menschen auf der Flucht abermals angestiegen ist und nun bei 108,4 Mio. Geflüchteten weltweit liegt. Mehr als die Hälfte der Menschen, die über Landesgrenzen geflohen sind und als Flüchtlinge gelten, stammen als 3 Ländern: Syrien, Ukraine und Afghanistan. Die meisten Geflüchteten leben in Ländern mit geringem oder mittlerem Einkommensniveau. Der Zugang zu dauerhaften Lösungen hat sich erneut verschlechtert und ist auf ein drastisch niedriges Niveau gesunken.

 

Seit nun zwanzig Jahren erscheint der Global Trends-Bericht, in dem das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) einen Überblick über die Entwicklungen des globalen Fluchtgeschehens jeweils des Vorjahres dargelegt. In unserem Beitrag diskutieren wir die zentralen Entwicklungen und ordnen sie im Kontext der längerfristigen Trends ein. Dafür knüpfen wir an unsere Beiträge zu den globalen Trends im FluchtforschungsBlog aus den Vorjahren an (siehe die Beiträge über die Entwicklungen in 2021, 2020, 2019, 2018, 2017, 2016 und 2015 oder die Reihe Globale Trends).

 

Überblick über globale Entwicklungen im Jahr 2022

Die besorgniserregenden Entwicklungen der Vorjahre setzen sich fort. UNHCRs aktueller Global Trends-Bericht verdeutlicht, dass die Zahl der geflüchteten Menschen weltweit weiter angestiegen ist. Seit nun elf Jahren besteht dieser Trend. Während 2012 auf 45,2 Mio. Geflüchtete verwiesen wurde, waren es Ende 2022 108,4 Mio. Geflüchtete. Seit 2012 hat sich die Zahl der Geflüchteten also mehr als verdoppelt (siehe Diagramm unten). Im Vergleich zu 2021 mit 89,3 Mio. Geflüchteten ist eine Zunahme um 19,1 Mio. Menschen zu verzeichnen. Dies ist laut UNHCR die umfangreichste Zunahme innerhalb eines Jahres, die bisher registriert worden ist.

Der Bericht enthält Informationen zu verschiedenen rechtlichen ‚Kategorien‘ von Geflüchteten, darunter Flüchtlinge, Asylsuchende, Binnenvertriebene und andere Menschen, die internationalen Schutz benötigen. Mit Blick auf diese ‚Kategorien‘ ist eine Änderungen erkennbar: in den Berichten über die Entwicklungen in 2019, 2020 und 2021 wurde auf ‚Venezuelans displaced abroad‘ – also geflüchtete Menschen aus Venezuela – als separate Gruppe verwiesen. Aufgrund variierender rechtlicher und praktischer Schutzbedingungen in lateinamerikanischen Ländern wurde die Kategorie entwickelt. Dass sie nun nicht mehr im Bericht über die Entwicklungen in 2022 enthalten ist, bedeutet keinesfalls, dass Lösungen für alle Geflüchteten aus Venezuela gefunden wurden. Vielmehr wurden sie in der nun umfassenderen neuen ‚Kategorie‘ zu anderen Menschen, die internationalen Schutz benötigen, erfasst. Diese Kategorie nimmt geflüchtete Menschen außerhalb von Herkunftsländern auf, die Schutzbedarfe haben und (noch) nicht als Flüchtlinge oder Asylsuchende registriert sind (vgl. S. 4 im Bericht). Derzeit fallen überwiegend Geflüchtete aus Venezuela unter diese Kategorie.

Schließlich müssen wir anknüpfend an unsere Kritik aus den Vorjahren bemängeln, dass der aktuelle Global Trends-Bericht weiterhin nicht Geflüchtete berücksichtigt, die ihre Herkunftsregionen aufgrund von Klima- und Umweltveränderungen, Armut und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit verlassen mussten.

Quelle: UNHCRs Website.

 

Zum Ende des vergangenen Jahres waren die meisten Geflüchteten – wie in den Vorjahren – Binnenvertriebene, also Menschen, die innerhalb ihres Herkunftslandes auf der Flucht sind. Ihre Zahl belief sich Ende 2022 auf 62,5 Mio. Menschen, was etwa 58% aller Geflüchteten entspricht. Im Vergleich zu 2021 ist dies eine Zunahme um über 5 Mio. Menschen (53,2 Mio.) und stellt gegenüber 2012 sogar mehr als eine Verdopplung (28,8 Mio.) dar. Die Situation der Binnenvertriebenen ist oft besonders prekär und unsicher. Da sie innerhalb ihrer Herkunftsländer fliehen, genießen sie keinen völkerrechtlichen Schutz, sondern der Schutz liegt in der Verantwortung der jeweiligen Staaten, von denen einige jedoch zur Flucht der Menschen beitragen. Für die internationale Gemeinschaft gestaltet es sich nach wie vor schwierig, humanitäre Unterstützung im benötigten Maß zu leisten.

Des Weiteren verzeichnet der Bericht rund 35,3 Mio. Flüchtlinge, also Menschen, die über internationale Grenzen geflohen sind und in anderen Ländern Schutz gesucht haben. Auch ihre Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr (27,1 Mio.) um mehr als 8 Mio. Menschen angestiegen und hat sich gegenüber 2012 (10,5 Mio.) mehr als verdreifacht. Der deutliche Anstieg ist v.a. auf die Fluchtbewegungen aus der Ukraine zurückzuführen. Diese Gruppe umfasst 29,4 Mio. Flüchtlinge unter dem Mandat des UNHCR sowie 5,9 Mio. palästinensische Flüchtlinge, die unter das Mandat des Hilfswerks der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) fallen.

Auch die Zahl von Asylsuchenden, deren rechtlicher Status noch nicht endgültig festgestellt wurde, ist angestiegen und belief sich 2022 auf 5,4 Mio. Menschen (2021: 4,6 Mio.).

Neu geht der Global Trends-Bericht wie erwähnt auf andere Menschen, die internationalen Schutz benötigen (englisch: other people in need of international protection), ein. Es handelt sich überwiegend um Menschen aus Venezuela. Ihre Zahl beläuft sich auf 5,2 Mio. Menschen, wobei anzunehmen ist, dass die Dunkelziffer von Menschen mit Schutzbedarfen deutlich höher ist.

Im Verlauf des Berichts wird zudem auf 4,4 Million staatenlose Menschen verwiesen, die aber nicht in der Gesamtzahl der Geflüchteten enthalten sind. Bei dieser Gruppe handelt es sich um de jure und de facto Staatenlose, d.h. Menschen, die keine Staatsangehörigkeit besitzen (de jure) oder diese formal zwar haben, sie aber nicht anerkannt wird oder die Menschen keinen staatlichen Schutz erhalten (de facto). Durch unzureichende oder gar fehlende Erfassung in vielen Ländern ist anzunehmen, dass die Zahl der staatenlosen Menschen – insbesondere der de facto Staatenlosen – deutlich höher ist.

Traditionell beruhen die Zahlen in den Global Trends-Berichten auf Statistiken zum Ende des Vorjahres – nicht zuletzt, weil die Aufarbeitung der Statistiken einige Monate dauert. Um auch aktuelle Zahlen aufnehmen zu können, hat UNHCR  – wie andere Organisationen auch – ein sogenanntes Nowcasting-System entwickelt. Damit können Schätzungen auf Basis von vorläufigen Daten erstellt werden. Die Abweichungen zu den bereinigten Daten sind sehr gering. Die jeweils monatlich aktualisieren Daten finden sich online im Datenportal sowie im sogenannten Refugee Data Finder. Daten bis einschließlich Mai 2023 finden sich auch dem aktuellen Bericht. Demnach sind die Zahlen weiter gestiegen und für Ende Mai UNHCR schätzt die Gesamtzahl der Geflüchteten auf 110 Millionen.

 

Demografische Aufteilung in binären Strukturen

Im Bericht werden nicht nur Informationen über unterschiedliche rechtliche ‚Kategorien‘, sondern auch über demographische Zusammensetzungen der Gruppen dargelegt. Bereits auf Seite 3 im Bericht werden demografische Angaben anhand von Alter- und Geschlechtsstrukturen von Geflüchteten (in grün und blau markiert) im Vergleich zur Weltbevölkerung (in grau markiert) mit dem nachstehenden Diagramm abgebildet.

Quelle: UNHCR (2023), S. 3.

 

Eine ähnliche Abbildung enthält der Bericht auch mit Fokus auf als Flüchtlinge kategorisierte Menschen (S. 18), während Angaben zu binnenvertriebenen und staatenlosen Menschen nur erklärt werden (vgl. S. 27 und 46). Anhand der Abbildungen und Erläuterungen wird gezeigt, dass die meisten geflüchteten Menschen im Alter von 18 bis 59 sind, gefolgt von Menschen im Alter von 0 bis 17 Jahren.

Einhergehend mit unseren letzten Beiträgen über Entwicklungen in 2019, 2020 und 2021 müssen wir auch hinsichtlich des aktuellen Global Trends-Berichts kritisieren, dass demographische Informationen wieder ausschließlich in binären Geschlechterstrukturen angegeben werden. Dies reproduziert Heteronormativität und vernachlässigt queere Menschen. LGBTQIA+ Personen (lesbische, schwule, bisexuelle, transgender, queere, intergeschlechtliche, asexuelle oder -gender und weitere Personen) werden nicht einmal im Bericht erwähnt. Dies stellt eine höchst problematische Fortführung vorheriger Praktiken in der Berichterstattung dar, denn gemäß dem Bericht existieren die Menschen schlicht nicht.

 

Regionale Entwicklungen der Herkunfts- und Aufnahmeländer

Mit Blick auf Menschen, die über Landesgrenzen hinweg geflohen sind und als Flüchtlinge gelten, setzt sich der Trend der vergangenen Jahre auch 2022 fort. Die meisten Menschen sind innerhalb ihrer Herkunftsregionen geflohen und haben sich daher in benachbarten Staaten zu ihren Herkunftsländern aufgehalten (70%). Die überwiegende Mehrheit (76%) der Flüchtlinge ist in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen und 20% in sogenannte „am wenigsten entwickelten Ländern“ geflohen.

Die primären Herkunfts- und Aufnahmestaaten von Geflüchteten haben sich in den letzten Jahren kaum verändert. Eine Ausnahme ist die Ukraine, die nun eines der quantitativ bedeutsamsten Herkunftsländer ist (Ende 2022: 5,7. Mio. Geflüchtete). Im Detail sind Ende 2022 mit 52% mehr als die Hälfte der als Flüchtlinge kategorisierten Menschen aus Syrien, der Ukraine und Afghanistan geflohen. Weitere primäre Herkunftsstaaten sind wie in den Vorjahren Venezuela, Südsudan, Myanmar, die Demokratische Republik Kongo, Sudan, Somalia und Zentralafrikanische Republik (siehe S. 3, 19). Zuflucht und Schutz suchten die meisten Menschen in der Türkei, Iran, Kolumbien, Deutschland, Pakistan, Uganda, Russland, Sudan, Peru und Polen (siehe S. 21).

Unter binnenvertriebenen Menschen zeichnen sich ähnliche Entwicklungen ab. Regional befanden sich die meisten binnenvertriebenen Menschen in Ländern im Mittleren und Nahen Osten, in Ost- und dem Horn von Afrika sowie in Lateinamerika. Anhand der statistischen Anhänge (Tabelle 4) des Berichts ist erkennbar, dass 2022 meiste Binnenvertriebenen in Kolumbien, Syrien, der Ukraine, der Demokratischen Republik Kongo, Jemen, Sudan, Nigeria, Afghanistan, Somalia, Äthiopien und Burkina Faso waren.

Diese Übersicht verdeutlicht, dass die meisten geflüchteten Menschen aus und in Länder im ‚globalen Süden‘ geflohen sind – ein Trend, der seit Jahrzehnten anhält. Dieser Trend steht im Gegensatz zur verbreiteten Wahrnehmung in westlichen Staaten, dass die meisten Menschen in europäischen Ländern Zuflucht suchen würden. Darüber hinaus deuten diese Angaben an, dass weiterhin in erster Linie gewaltsame Konflikte zur Flucht von Menschen beitragen, die häufig über viele Jahre anhalten andauern (siehe nächster Abschnitt).

 

Langwierige Aufnahmesituationen und dauerhafte Lösungen

Flucht wird primär als Übergangssituation verstanden, jedoch zeigen globale Entwicklungen, dass geflüchtete Menschen häufig für viele Jahre in Aufnahmeregionen und -ländern verbleiben müssen. UNHCR definiert diese langwierigen Situationen (englisch: protracted refugee situations) gemeinhin als jene, in denen mindestens 25.000 Flüchtlinge der gleichen Nationalität für mindestens fünf Jahre im Exil sind.

Gemäß UNHCRs aktuellem Global Trends-Bericht befanden sich 2022 67% (23,3 Mio.) aller als Flüchtlinge kategorisierten Menschen und anderen Menschen, die internationalen Schutz benötigten, in solchen langwierigen Situationen. Insgesamt verweist UNHCR auf 57 Situationen in 37 Ländern (S. 22). Auf den ersten Blick scheint dies eine Minderung der Zahlen darzustellen, da sich 2021 etwa 74% (15,9 Mio.) in langwierigen Situationen befanden. Von einer tatsächlichen Abnahme kann allerdings nicht ausgegangen werden – vielmehr lässt sich die geringere prozentuale Zahl 2022 auf den hohen Anstieg neu vertriebener Menschen zurückführen.

Höchst kritisch ist, dass UNHCR im aktuellen Bericht einhergehend mit dem vorherigen von langwierigen Situationen „in a given low- or middle-income host country“ spricht (S. 22, zum Vorjahresbericht S. 20). Diese Verengung wird in globalen Policies nicht vorgenommen und sie produziert eine problematische strukturelle Andersstellung der Staaten. Gar gegensätzlich dieser Verengung treten auch in westlichen Staaten langwierigen Situationen auf. Hinzu kommt, dass die Lage von Binnenvertriebenen weltweit und ihre Dauer in Aufnahmeregionen nicht ausgewiesen ist.

Langwierige Situationen stehen im Gegensatz zur erwarteten Kurzfristigkeit von Flucht und Aufnahme von Geflüchteten mit einer baldigen Lösungsfindung. Für die Menschen bedeutet dies, dass sie über viele Jahre hinweg in unsicheren und ungewissen Verhältnissen im Exil leben. Dies liegt in erster Linie daran, dass gewaltsame Konflikte in der Regel lange andauern und eine Rückkehr der Menschen in Herkunftsländer nicht möglich ist. Beispiele dafür sind die gewaltsamen Konflikte in Afghanistan und der Demokratischen Republik Kongo, die seit Jahrzehnten andauern.

Folglich resultieren langwierige Aufnahmesituationen unmittelbar von der unzureichenden Umsetzung von dauerhaften Lösungen für Geflüchtete. Neben der freiwilligen Rückkehr in Herkunftsstaaten und -regionen gelten die lokale Integration in Asylländern mit Aussicht auf ein dauerhaftes Bleiberecht sowie die Umsiedlung bzw. das Resettlement in sichere Drittstaaten als dauerhafte Lösungen. Diese dauerhaften Lösungen treffen ausschließlich auf als Flüchtlinge kategorisierten Menschen zu. Binnenvertriebene können lediglich zurückkehren, haben aber keine Möglichkeit, Zugang zu Umsiedlung zu erhalten.

Der aktuelle Global Trends-Bericht zeigt höchst prekäre Entwicklungen. Nur ein sehr geringer Anteil aller Flüchtlinge weltweit hatte 2022 Zugang zu einer dieser drei dauerhaften Lösungen.

  • 339.300 Menschen kehrten in 38 Länder zurück – eine Abnahme um 21% zu 2021 (S. 38-39).
  • 114.300 Menschen siedelten in sichere Drittstaaten um – ein gewisser Anstieg zu 2021 (S. 39-40).
  • 50.800 Menschen wurden in 23 Ländern eingebürgert, eine Abnahme von 10% zu 2021 (S. 40-41).

 

Diese Zahlen attestieren der internationalen Gemeinschaft ein anhaltend ungenügendes, wenn nicht gar miserables, Engagement in der Bereitstellung von dauerhaften Lösungen für geflüchtete Menschen. Insgesamt hatten nur 504.400 Menschen weltweit Zugang zu einer dauerhaften Lösung. Vor dem Hintergrund der 29,4 Mio. Flüchtlinge unter dem Mandat des UNHCR beläuft sich dies auf nur 1,2% – ein neues eklatantes Tief im Vergleich zu den Vorjahren (2021: 2,6%, 2020: 1,5%, 2019: 2,4%, 2018: 3,7%, 2017: 4,2%, 2016: 4,4% und 2015: 2,1%).

Um die Prekarität der Lage hervorzuheben, betont UNHCR im Bericht: „For each refugee that returned or was resettled in 2022, there were 16 new refugees“ (S. 36).

 

Abschließende Gedanken

Wir schreiben nun seit sieben Jahren diese Beiträge zu den Global Trends Berichten und uns bleibt nur abermals zu betonen, dass auch der aktuelle Bericht höchst besorgniserregende Entwicklungen verdeutlicht. Millionen von Menschen müssen aufgrund diverser Gefahren ihre Herkunftsorte verlassen und anderswo Schutz suchen und die signifikante Mehrheit hat jahrelang kein Zugang zu dauerhaften Lösungen. Sie leben allzu oft in prekären, gewaltgeprägten und ungewissen Verhältnissen.

Die im Bericht dargelegten Zahlen legen die prekären Trends zweifelsohne dar, aber einhergehend mit unseren vorherigen Beiträgen über die Entwicklungen in 2019, 2020 und 2021 möchten wir noch einmal betonen, dass solche Statistiken Grenzen haben und mit Bedacht genutzt werden müssen. Denn die Zahlen geben zwar einen quantitativen Überblick und sind relevant für Entscheidungstragende in Politik und humanitärer Hilfe, um etwa Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen zu planen. Jedoch können solche Zahlen nur limitierte Einblicke bieten. Sie sagen kaum etwas über lokale Gegebenheiten oder Wahrnehmungen der Menschen aus. Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass es hier um Individuen geht. Gerade bei ‚großen Zahlen‘ besteht die Gefahr, dass nur die ‚Millionen‘ Aufmerksamkeit erhalten, aber jedes Individuum zählt. Dass Individuen aufgrund der selektiven Natur von Statistiken auch vollkommen ignorieren werden können, haben wir anhand der LGBTIQA+ Geflüchteten gezeigt. Laut dem Bericht existieren keine queeren Geflüchteten. Daher mögen solche Zahlen auf den ersten Blick als harte, unumstößliche und gar objektive Fakten erscheinen, jedoch sind sie tatsächlich vage und mitunter schwer nachvollziehbar.

UNHCR unternimmt im Bericht den Versuch, die Prekaritäten der Menschen zu erklären, und betont mehrfach die großen Herausforderungen im globalen Flüchtlingsschutz. Dafür geht UNHCR auch auf Trends wie die hohe Inflation und steigende Kosten ein. Diese führen nicht nur dazu, dass sich die Lebensgrundlage von vielen Menschen weltweit verschlechtert, sondern auch dazu, dass humanitäre Organisationen zunehmend an Grenzen geraten.

Vor diesem Hintergrund ist der jüngste Beschluss des Rats der EU am 8. Juni 2023 zur Neuordnung der europäischen Asylpolitik noch beschämender. Anstatt Menschenrechte in den Mittelpunkt zu stellen, adäquate Schutzstrukturen zu schaffen, Mechanismen der internationalen Zusammenarbeit zu festigen und Lösungen zu suchen, würde dieser Beschluss bei einer Umsetzung noch schwierigere Bedingungen für fliehende Menschen erzeugen. Zudem unterminiert er die internationale Verantwortungsteilung im Flüchtlingsschutz und widerspricht drastisch den Selbstverpflichtungen, die die internationale Gemeinschaft und so auch europäische Staaten etwa in der New Yorker Erklärung von 2016 und im Globalen Flüchtlingspakt von 2018 eingegangen sind. Damals hatten die Staaten ein bedarfsgerechtes Engagement im Flüchtlingsschutz zugesagt, doch davon ist heute wenig zu sehen. Die Tatsache, dass Staaten in der Aufnahme und im Schutz von Geflüchteten auch proaktiv handeln können, wird nicht nur durch historische Beispiele wie die Evakuierung der sogenannten ‚Boatpeople‘ aus Südostasien belegt, sondern auch durch die jüngsten Maßnahmen zur Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine in Europa. Es ist dringend erforderlich, dass sich Staaten anstatt der Suche nach weiteren Abwehrpolitiken und Restriktionsmöglichkeiten vielmehr den menschenrechtsbasierten Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen für Geflüchtete zuwenden. Internationales Recht, wie die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 in der Fassung des Protokolls von 1967 darlegt, sollte schlicht endlich eingehalten werden.

Im Dezember 2023 findet das zweite Globale Flüchtlingsforum statt. Das Forum wurde eingerichtet, um die Umsetzung des Globalen Flüchtlingspakts sicherzustellen. Auch wenn politische Restriktionen derzeit weitreichend sind, bleibt zu hoffen, dass die Debatten unter den Staaten im Forum zu einer Trendwende hin zu intensivierten Schutzpolitiken beitragen. Sehr wahrscheinlich ist das jedoch leider nicht.

 

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