In den vergangenen Tagen sind vermutlich über tausend Menschen im Mittelmeer ertrunken, als in kurzer Folge zwei Boote untergingen. Neu ist daran nichts außer der großen Zahl an Menschen auf diesen einzelnen Booten. Bei der bislang aufsehenerregendsten Katastrophe dieser Art ertranken 2013 vor Lampedusa über 300 Menschen. Sie war Anlass für Italien, das bis dato vor allem durch illegale Pushback-Aktionen nach Libyen und die Kriminalisierung der Seenotrettung aufgefallen war, Ende 2013 die Operation „Mare Nostrum“ ins Leben zu rufen. Unglücklich benannt, rettete sie innerhalb eines Jahres zehntausende Menschenleben. Dann, fand Italien, war die EU dran – die jedoch lediglich bestehende Frontex-Operationen zum Grenzschutz in den italienischen Küstengewässern aufstockte, Bootsflüchtlinge auf Hoher See dagegen wieder ihrem Schicksal überließ.
Der dringliche Ruf nach einem der Gefahrenlage angemessenen Seenotrettungssystem ist absolut berechtigt und richtig. Die Rettung aus Seenot ist eine uralte völkerrechtliche Pflicht, die in mehreren internationalen Konventionen niedergelegt ist. Die Such- und Rettungskonvention (SAR) verpflichtet ihre 105 Vertragsstaaten (darunter auch die EU-Staaten) überdies, geeignete Such- und Rettungsdienste in ihren Küstengewässern bereitzuhalten und mit anderen Staaten zur Abdeckung der Such- und Rettungszonen in internationalen Gewässern zu kooperieren. Es geht hier also keineswegs nur um freiwilligen Humanismus, sondern um völkerrechtliche Verpflichtungen.
Dies als Unterstützung für Schlepper anzuprangern, ist so zynisch wie irreführend. Hätte die Abwesenheit von Rettungsdiensten irgendeine Auswirkung auf die Seemigration, wäre sie nach dem Ende von „Mare Nostrum“ drastisch zurückgegangen. Das Gegenteil ist allerdings der Fall: Die von Frontex erfassten „illegalen Grenzübertritte“ im zentralen Mittelmeer im dem ersten Quartal 2015 (10.237) sind fast identisch mit jenen von 2014 (10.799), als „Mare Nostrum“ noch lief. Wer glaubt, keine andere Chance zu haben (oder dies weiß), nimmt die Gefahr in Kauf und setzt sich trotzdem in ein Boot. Menschenleben auf hoher See nicht zu retten, ist als Vorgehen gegen Schlepper etwa so effektiv wie das Verbot von Betäubungsmitteln bei der Bekämpfung des internationalen Rauschgifthandels: Die Nachfrage lässt sich durch Sanktionen kaum beeinflussen, und solange sie existiert, gibt es auch ein Angebot. Das Angebot wird nur umso teurer und unsicherer, je schwieriger es zu sichern ist.
Viele jener Menschen, die ihr Leben im derzeit tödlichsten Gewässer der Welt riskieren, haben Anspruch auf internationalen Schutz: Über 80% aller Schutzsuchenden aus Syrien und über 60% derer aus Eritrea werden als Flüchtlinge oder als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt. Um jedoch den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu erreichen, müssen sie sich in die Illegalität begeben: Praktisch alle Herkunftsstaaten von Flüchtlingen unterliegen im Rahmen des Schengen-Regimes der Visumspflicht, und Visa zur Schutzsuche gibt es nicht. (Selbst Termine in der deutschen Botschaft sind für Syrienflüchtlinge nach wie vor offenbar nur gegen Geld zu haben.) Also gibt es für diese Menschen zwei Möglichkeiten. Sie können versuchen in einem heimatnahen Land Schutz zu finden – doch die nordafrikanischen Staaten bieten oftmals keine Sicherheit. Oder sie wagen den Weg nach Europa über die Türkei oder das Mittelmeer. Das geht nur mit Schleppern.
Denn die Routen sind im Laufe der Zeit immer gefährlicher geworden – ein Erfolg insbesondere der spanischen Grenzkontrollpolitik, wie z.B. Sonja Buckel gezeigt hat. Die Meerengen von Otranto und Gibraltar waren schon riskant, aber noch mit Fischerbooten überwindbar; die 100km nach Málaga, Almería und Granada waren schon gefährlicher, und inzwischen ist es die so oft tödliche Route Libyen-Italien, die etwa 300km beträgt. In Westafrika waren die 120km zwischen Marokko und den Kanarischen Inseln anfangs ebenfalls noch mit den cayucos überwindbar; die vermehrten Kontrollen in Kooperation mit Marokko und Frontex führten zu Überfahrten von bis zu 800km aus Mauretanien, Senegal oder den Kap Verden.
Die Schlepper gehören dabei nicht immer der internationalen organisierten Kriminalität an oder gar dem IS. Manchmal sind es auch einfach Fischer, die auch wegen europäischer Schleppnetzfischerei sonst keine Lebensgrundlage mehr finden – auch dass lässt sich bei Buckel nachlesen. Doch natürlich ist es kriminell, auf ein viel zu kleines Boot 700 oder gar 950 Menschen zu zwängen, die überwiegend nicht schwimmen können, und sie nicht einmal mit Schwimmwesten auszustatten.
Das ganze ist vertrackt – alles hängt mit allem zusammen, einfache Lösungen gibt es nicht. Ja, es stimmt, möglicherweise begeben sich noch mehr Menschen auf die anstrengende und teure Reise, wenn sie nicht mehr ihr Leben riskieren müssen. Denn die Resettlement-Programme, mit denen die EU-Mitgliedstaaten Flüchtlinge aus Krisenregionen herausholen, reichen längst nicht aus. Menschen von der Reise abhalten zu wollen, ist freilich auch keine Lösung.
Erstens haben sie ein Recht auf Ausreise – jeder Mensch hat das Recht, jedes Land zu verlassen, einschließlich des eigenen, das steht schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und seitdem in vielen bindenden Menschenrechtsverträgen, auch im 4. Protokoll zur EMRK. Mit diesem Recht korrespondiert zwar keine Einreisefreiheit in ein anderes Land, diese ist bei der Ausreise auf See aber zunächst auch nicht betroffen. Und sobald Schutzberechtigte die europäische Grenze erreichen, gilt das Refoulementverbot; dieses verbietet die Zurückweisung in Verfolgung, Folter oder ähnliche schwere Gefahrensituationen und erfordert jedenfalls eine hinreichend sorgfältige Prüfung des Schutzbedürfnisses. Dies gilt auch beim Aufbringen auf Hoher See, das hat der EGMR im Fall der italienischen Pushbacks klargestellt. Die Ausreisefreiheit gilt zwar nicht schrankenlos, doch sie kann auch nicht einfach so verweigert werden.
Zweitens verschließt eine Politik, die flüchtende Menschen vor sich selbst schützen will, die Augen davor, dass ein Verbleiben in der Region häufig keine Option ist. Flüchtlinge sind dort vielfach von willkürlichen Verhaftungen, Misshandlung, Ausbeutung, Obdachlosigkeit bedroht. Gerade für Kinder sind solche Situationen katastrophal. Natürlich wäre es schön, nicht monate- oder jahrelang auf der Flucht sein zu müssen, nicht das Ersparte für Schlepper aufbrauchen zu müssen, nicht sein Leben auf See riskieren zu müssen, nah bei der Heimat bleiben zu können. Doch das ist eben meist keine Alternative. Es ist eher das Wunschdenken jener, die diese Menschen nicht bei sich aufnehmen wollen, sondern lieber andere Länder in der Zuständigkeit sehen, qua Nachbarschaft zum Beispiel. Hier regiert nicht Humanität, sondern eher das St. Florians-Prinzip: „Heiliger Sankt Florian / Verschon’ mein Haus / Zünd’ and’re an!“ (ein Zitat, das ich Anna Lübbe verdanke, die es in einem bald erscheinenden Aufsatz zum Verteilungsprinzip verwendet).
Wer nicht will, dass Schlepper profitieren, muss legale Zugangswege zu schützendem Asyl schaffen – und damit überlasteten Aufnahmestaaten in Krisenregionen diejenige Solidarität leisten, die die Präambel der Flüchtlingskonvention einfordert. Das erfordert ein grundlegendes Umdenken; die soeben verabschieden Maßnahmen der EU sind hier allenfalls ein Anfang. Denn Menschen bleiben nicht in Regionen, in denen sie keine Zukunft sehen. Selbst die Berliner Mauer hat nicht alle von dem Versuch abgehalten, ihr Leben dabei zu riskieren, die DDR zu verlassen. Die Menschen werden weiter versuchen, ins schützende Europa zu gelangen, auch wenn es lebensgefährlich ist. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt. Was würden Sie tun?
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Verfassungsblog erschienen.