Zurecht werden Flüchtlingsfragen in vielen Disziplinen diskutiert, denn neben juristischen spielen hier auch psychologische und soziologische aber auch tagespolitische Problembeschreibungen und Lösungsansätze eine Rolle. Überraschend ist jedoch das fast völlige Fehlen demokratietheoretischer Beiträge zu der Debatte, wo doch die Frage der politischen Exklusion und den daraus resultierenden Kämpfen um Inklusion ein Thema mit einer langen Tradition darstellt. Die Politische Theorie im Allgemeinen und die Demokratietheorie im Besonderen könnten mit vielen wichtigen Aspekten zur Debatte beitragen, aber sie schweigt weitestgehend. Ich möchte dieses Schweigen nun brechen und mit vier demokratietheoretischen Perspektiven ein anderes Licht auf die Flüchtlingsthematik werfen und danach fragen: Was sagen uns demokratietheoretische Konzepte über uns und die Flüchtlingsfrage?
Erstens, der demokratietheoretische Blick auf die Debatten der Europäischen Union (EU) über Flüchtlinge (und deren vermeintliche Gefahren für die EU) kann das Framing der bisherigen Debatte verschieben oder ergänzen. Die von Flüchtlingsaktivisten artikulierte Forderung nach ihrer Anerkennung als gleichwertige Menschen würde in den Kontext vorhergehender Kämpfe um Anerkennung und Inklusion gestellt. Zudem verweist die demokratietheoretische Perspektive darauf, dass Flüchtlinge (entweder die bereits als Flüchtlinge anerkannten oder auch diejenigen, die Abgeschoben werden, noch bevor geklärt werden kann, ob sie den juristischen Titel des Flüchtlings „zurecht“ in Anspruch nehmen) nicht die erste Bevölkerungsgruppe sind, die ihre Anerkennung einfordern. Vor ihnen haben dies die Arbeiter, die Afroamerikaner in den USA und die Frauen in vielen Ländern getan. Das demokratische Kernargument der Gleichheit aller Menschen haben sie dabei auf ihrer Seite. Und Demokratietheoretiker wie John Stuart Mill sowieso, denn für ihn war klar, dass eine Demokratie den Herausforderungen der Gegenwart nur dann begegnen kann, wenn sie sich den Inklusionskämpfen stellt, und dabei die Perspektiven aller Betroffenen im Parlament gehört werden können.
Zweitens, mit der Forderung nach Anerkennung geht die Frage der Repräsentation einher, ebenfalls ein traditionelles Thema der Demokratietheorie, das inzwischen mit innovativen Konzepten aufwarten kann. So lässt etwa Iris Marion Youngs Repräsentationskonzept die durchaus komplexe Frage danach zu, wie Repräsentation in einer modernen Massendemokratie mit transkulturellen Kommunikationsherausforderungen und historischen Altlasten gelingen kann. Sie schlägt vor, Repräsentation nicht mehr (wie in der Repräsentationstheorie häufig üblich) als die Vertretung von Identitäten zu verstehen, sondern als die Artikulation von Perspektiven, Meinungen und Interessen. Durch die Repräsentation von (historisch gewachsenen) Perspektiven erhofft sie sich ein tieferes Verständnis für die Unterschiedlichkeit der Perspektiven; etwa von afroamerikanischen Bevölkerungsgruppen und weißen Bevölkerungsgruppen in den USA auf politische Prozesse und Entscheidungen, die die Ungleichheit zwischen diesen Gruppen fortschreiben oder aufbrechen können. Durch die Repräsentation von Meinungen oder Werten sollen die öffentlichen Debatten über Werte angeregt werden. Young verweist jedoch auch auf die Gefahren von Repräsentation, die sie vor allem in Formen der Missrepräsentation sieht. Sie kann dort entstehen, wo für eine Person oder eine Gruppe gesprochen wird, ohne mit diesen Personen geredet oder ohne sie verstanden zu haben. Diese Stolpersteine der Kommunikation können insbesondere dann ins Gewicht fallen, wenn der soziale und/oder kulturelle Hintergrund der Interagierenden sehr unterschiedlich ist. Mit Youngs Repräsentationskonzept werden dank der Sensibilität für Unterschiede Überlegungen dazu möglich, wie Flüchtlinge auf nationaler oder europäischer Ebene angemessen repräsentiert werden können. Es werden dadurch aber auch die kommunikativen Schwierigkeiten deutlich, die eben nicht nur in der Entscheidung liegen, wer als Flüchtling gelten soll und auch nicht nur in der Frage, wie ihre Repräsentation institutionell eingebunden werden soll (Wahlrecht oder beratende Funktion über einen Flüchtlingsrat etc.), sondern auch in der Frage, wie die sprachlichen und epistemischen Hindernisse in der transkulturellen Kommunikation überwunden werden können. So dass Helfende nicht in die Rolle der „Eltern“ schlüpfen und das Machtungleichgewicht reproduzieren. Spivak übt bspw. Kritik an einer falsche Menschenrechtspolitik und einem falschen Menschenrechtsaktivismus.
Drittens, im Rückgriff auf Hannah Arendt lässt sich u.a. zeigen, wie sehr die Flüchtlinge durch ihre Exklusion aus jeglicher politischen Gemeinschaft in ihrer Möglichkeit eingeschränkt werden, sich zu artikulieren und sich über diese Artikulation als Mitglied einer Gemeinschaft zu fühlen. Arendt war in einem bestimmten Sinne Hermeneutikerin. Sie ging nämlich davon aus, dass das Individuum um sich selbst in seiner Zeit verstehen zu können, auf die Kommunikation mit anderen angewiesen ist und erst dadurch sich selbst in seinem Kontext verstehen kann. Wenn man diese Annahme ernst nimmt, dann brauchen wir EuropäerInnen die Kommunikation mit den Flüchtlingen ebenso sehr, wie sie die Kommunikation mit uns. Dabei würde uns dann vielleicht auch auffallen, wie selten die Momente in unseren modernen Massendemokratien geworden sind, in denen es in Debatten wirklich um Probleme und deren Verständnis und im Anschluss daran, um deren Lösung geht. Und uns würde auffallen, wie häufig es um die inszenierte Selbstdarstellung von Akteuren geht, die in unendlichen Wiederholungsschlaufen nichts Neues sagen.
Viertens, man kann auch mit Laclau und Mouffe fragen, ob wir EuropäerInnen – die wir in der privilegierten Position der Inkludierten sind – im Sinne einer lebendigen Demokratie nicht die Pflicht haben, unsere demokratische Substanz unter Beweis zu stellen, indem wir darauf achten, dass unsere demokratischen Institutionen nicht zu unflexiblen Herrschaftsinstrumenten werden. Denn Laclau und Mouffe gehen davon aus, dass Demokratien einen großen Teil ihrer Legitimation daraus ziehen, dass das demokratische Spiel ein unabgeschlossenes Spiel ist und prinzipiell jede Bevölkerungsgruppe die Vorherrschaft (eben immer nur für eine gewisse Zeit) erlangen kann und dann von der nächsten Bevölkerungsgruppe abgelöst wird. Das ‚Spiel‘ besteht also im demokratisch eingehegten Kampf um die Vormachstellung und wird dadurch vorangetrieben, dass es immer Bevölkerungsgruppen gibt, die die Vormachtstellung erreichen möchten. Dies, so Laclau und Mouffe ist auch so lange möglich, wie es der vorherrschenden Gruppe nicht gelingt, die politischen Strukturen zu starren, naturalisierten Herrschaftsstrukturen zu verfestigen.
Und wir können (jetzt aber gegen Laclau und Mouffe) fragen, ob wir nicht verpflichtet sind, uns dafür einzusetzen, dass im demokratischen Spiel um die Vorherrschaft alle Mitspieler auch mal die Gewinner sein können und nicht immer dieselben verlieren. Letztlich bräuchten wir dazu jedoch ein Solidaritätsverständnis, das die tradierten Orientierungslinien der Linken wie die Solidarität unter den ArbeiterInnen verlässt und neue Orientierungslinien (Mouffe würde es Äquivalenzketten nennen) sucht. Möglicherweise wäre die gemeinsame Sorge um das demokratische Potenzial unserer Institutionen dafür ja ein erster Anhaltspunkt. Wir könnten die Bereitschaft signalisieren, unsere Privilegien zumindest hinterfragen zu lassen, und kämen dann über die Frage, wer wir EuropäerInnen eigentlich sind und sein wollen, vielleicht zu einer Antwort auf die Frage, wie wir mit Flüchtlingen und ihrem Schutz umgehen wollen. Das zum Gegenstand öffentlicher und privater Debatten zu machen, würde einen guten Demokraten oder eine gute Demokratin auszeichnen. Bisher scheinen wir auf EU- und Staatenebene auf diese Fragen aber keine Antwort und schlimmer noch: keinen Raum für deren öffentliche Debatte zu haben.