Immer wieder stellen Politikerinnen und Politiker sowie Personen des öffentlichen Lebens fragwürdige Behauptungen in den Raum, die durch Medien aufgegriffen und teils zu Stammtischparolen werden. Häufig werden Stereotype über Asylsuchende gefördert, die als Fakten dargestellt werden, doch im besten Fall nicht viel mehr als Annahmen sind. Sie erfahren allerdings große Aufmerksamkeit und können weitreichende Konsequenzen haben.
Was sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu solchen Behauptungen? Im sechsten Teil unserer Serie ‘Flüchtlingsforschung gegen Mythen’ (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4 und Teil 5) kommentieren Mitglieder des Netzwerks Flüchtlingsforschung wieder typische Aussagen, um mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse Mythen aufzuklären.
- „Der Asyltourismus muss beendet werden.“
Dr. Markus Söder, Bayerischer Ministerpräsident, in: Twitter, 14.06.2018
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Kommentiert von Dr. Constantin Hruschka
Verschiedene Medien haben bereits darauf hingewiesen, dass der Begriff des Asyltourismus schon früher von Politikern der CSU verwendet wurde. Trotzdem hat die Verwendung durch den bayerischen Ministerpräsidenten eine neue Qualität, da die Bekämpfung des „Asyltourismus“ zur Begründung europarechtswidriger Grenzkontrollmaßnahmen herangezogen wurde, während früher andere Länder oder die EU mit diesem Begriff zum Handeln aufgefordert wurden.
Was ist mit „Asyltourismus“ gemeint? Es geht um das Weiterwandern von Personen, die in Europa Schutz suchen, von den Ersteinreisestaaten in andere Staaten der Europäischen Union. Dies ist (bisher) nicht verboten und auch eine Asylantragstellung in mehreren Ländern ist möglich. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) erwartet eine solche Weiterwanderung sogar, da das Dublin-Verfahren, das die Verantwortung für die Antragsprüfung einem bestimmten Staat zuweist, genau von solchen Weiterwanderungen („Sekundärbewegungen“) ausgeht. Solche Weiterwanderungen nach einem gestellten Asylantrag zu verhindern, ist das explizite Ziel der von der EU-Kommission angestoßenen Reform der Dublin-Verordnung, die bisher allerdings aus verschiedenen Gründen – nicht zuletzt wegen der systemimmanenten Unausgewogenheit der Verantwortungsverteilung in Europa – nicht wirklich vorangekommen ist.
Aus Sicht der Asylsuchenden ist es ohnehin vor allem ein System, dass auf Abschreckung ausgerichtet ist und für die betroffenen Personen Situationen der Prekarität und Unsicherheit hervorruft. Studien wie etwa von ECRE und UNHCR haben gezeigt, dass das Dublin-System die Personen in eine Art blockierten Zwischenzustand („left in limbo“) versetzt, in dem das eigene Leben angehalten ist oder zumindest scheint („lives on hold“). Angesichts dieses Befundes wäre es notwendig, den Personen zu ermöglichen, was das Dublin-System eigentlich bewirken soll – den Zugang zu einem Asylverfahren, in dem der Schutzbedarf inhaltlich geprüft wird. Genau ein solcher Zugang wird aber mit den Maßnahmen verhindert, die im Kontext der „Beendigung des Asyltourismus“ gefordert werden.
Durch die Verknüpfung des Wortes „Asyl“ mit dem Wort „Tourismus“ versucht der bayerische Ministerpräsident, Bilder einer quasi freien Ortswahl nach (vermeintlichen) Attraktivitätsgesichtspunkten bei den Asylsuchenden zu suggerieren. Gleichzeitig stellt er implizit die Schutzbedürftigkeit der asylsuchenden Personen in Frage. Angesichts der realen Zustände beispielsweise in Ungarn, Griechenland oder Italien, die in den letzten Jahren, bei strikter Anwendung der Dublin-Verordnung für einen Großteil der Asylverfahren zuständig gewesen wären, sind allerdings ernsthafte Zweifel angebracht, ob diese Staaten überhaupt willens und in der Lage sind, ihre Verpflichtungen innerhalb des GEAS zu erfüllen. Ohne eine substantielle Unterstützung und Entlastung der Länder, die für die Asylverfahren zuständig sind, ist eine Verhinderung der Weiterwanderung höchst unsolidarisch gegenüber den Partnerländern im Dublin-Raum.
Eine solche Politik vermindert die Effizienz des Systems anstatt zu einer Lösung beizutragen. Oder um es mit den Worten des Generalanwalts Bot aus seinen Schlussanträgen in der Rechtsache C-231/17 zu sagen:
„Diese Rechtssache zeigt, dass das Dublin-System in Wirklichkeit ein System nationaler Asylsysteme und kein gemeinsames europäisches Asylsystem ist, und dass der mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführte Mechanismus zur Aufteilung der Verantwortlichkeiten auf technischen und administrativen Regeln beruht, die ohne Rücksicht auf die damit verbundenen menschlichen Auswirkungen und materiellen und finanziellen Kosten aufgestellt wurden, was die Effizienz des Dublin-Systems untergräbt und dem Ziel eines gemeinsamen europäischen Asylsystems zuwiderläuft.“
Eine Reform des GEAS ist überfällig und muss unter Einbezug der Perspektive aller beteiligten Länder und der Sichtweise der betroffenen Personen erfolgen, wenn sie wirksam und effizient sein soll. Dazu tragen weder Grenzkontrollen noch die sprachliche Delegitimierung der Freizügigkeit bestimmter Personengruppen bei. Erforderlich wäre ein gemeinsam abgestimmtes europäisches Vorgehen, das den Zweck des Dublin-Verfahrens in den Mittelpunkt rückt, statt „die technischen und administrativen Regeln“ zum Selbstzweck zu erklären.
- „In den AnkER-Zentren wollen wir die Asyl-Verfahren nicht nur schneller, sondern auch sicherer durchführen. Sie sind notwendig.“
Horst Seehofer, Bundesminister des Innern, in: Tweet vom 28.05.18 des Bundesinnenministeriums mit Bezug auf die Sendung „Berlin direkt“ (ZDF) vom 27.05.18 (vollständiges Interview, Video abrufbar bis 27.05.19)
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Kommentiert von Dr. Miriam Schader
In diesem Zitat wird behauptet, AnkER-Zentren trügen zu ‚schnelleren‘ und ‚sicheren‘ Asylverfahren bei und seien notwendig. Doch wäre dem so?
‚Schneller‘?
Eine solche Unterbringung könnte die Verfahrensdauer durchaus verkürzen, insofern in den AnkER-Zentren wie in Transitbereichen der Flughäfen beschleunigte Verfahren angewandt würden. Das nach §18 Asylgesetz beschleunigte „Flughafenverfahren“ führt jedoch oftmals dazu, dass Asylbewerber*innen nicht ausreichend Zeit zur Verfahrensvorbereitung bleibt. In Kombination mit den kurzen Rechtsbehelfsfristen im Asylprozessrecht gefährdet dies die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren. Auch würden durch eine auf Quantität fokussierte schnellere Bearbeitung Asylbescheide potentiell noch fehleranfälliger, Verfahren also nicht kürzer, sondern aufgrund der zu überprüfenden Bescheide langwieriger. Freilich ließe sich ein Teil der Verfahren durch mehr und besser geschultes Personal beschleunigen, dies steht jedoch in keinem notwendigen Zusammenhang mit der Unterbringungsform.
‚Sicherer‘?
Welche oder wessen Sicherheit ist hier gemeint? Geht es dem Bundesinnenminister um Rechtssicherheit? Wenn in den AnkER-Zentren, wie im Koalitionsvertrag (S. 105.) festgehalten, BAMF, Ausländerbehörden und Justiz eng zusammenarbeiten sollen, gefährdet dies vielmehr die Trennung zwischen Exekutive und Judikative. In den bayerischen Zentren ist zudem NGOs und Anwälten zufolge bereits jetzt eine unabhängige Verfahrensberatung nur eingeschränkt möglich.
Geht es dann um mehr Handlungssicherheit für Behörden? Derzeit regeln EU-Richtlinien, Bundes- und Landesgesetze, Verordnungen und Erlasse, wer wofür zuständig ist. Handlungsunsicherheit entstand 2015 und 2016 für Behörden vor allem durch die schlecht vorbereitete (obwohl erwartbare) Ankunft einer deutlich gestiegenen Zahl Asylsuchender in kurzer Zeit. AnkER-Zentren änderten in einer ähnlichen Situation hieran wenig, denn auch sie wären in ihrer Aufnahmekapazität beschränkt. Sie stellten daher keine ausreichende Vorbereitung auf eine Situation wie 2015/16 dar, die den Behörden mehr Sicherheit böte.
Geht es also um innere Sicherheit? Zur Idee der AnkER-Unterbringung gehört, dass die dort Untergebrachten die Zentren nicht beliebig verlassen können sollen. Doch neben der Frage nach der Rechtmäßigkeit einer solchen Einschränkung der Bewegungsfreiheit ist offen, wie dies überwacht werden sollte. Ob eine noch stärkere Kontrolle Asylsuchender in AnkER-Zentren überhaupt einen Einfluss auf die Sicherheit der Gesamtbevölkerung haben könnte, ist zudem fraglich, denn Statistiken zufolge geht von diesen keine größere Gefahr aus (siehe etwa Angaben des Bundeskriminalamts). Jedoch können gerade die geplanten AnkER-Zentren aufgrund ihrer Größe und ihrer Konnotation leicht Ziele rassistischer Gewalttaten gegen Geflüchtete werden.
Oder ist mehr Sicherheit für Asylbewerber*innen gemeint? Über die erhöhte Gefahr rassistischer Angriffe hinaus wären die geplanten AnkER-Zentren als Massenunterkünfte mit bis zu 1500 Bewohner*innen kaum dazu geeignet, die dort untergebrachten Menschen vor Übergriffen seitens anderer Bewohner*innen oder Mitarbeiter*innen der Betreiber oder des Sicherheitsdienstes zu schützen. Auch die politischen Debatten legen nicht nahe, dass es vorrangig um das Wohl der Geflüchteten ginge.
Sind AnkER-Zentren dennoch notwendig?
Außer mit Effizienz und Sicherheit wird die Einführung dieser Zentren vielfach mit einer potentiellen Entlastung der Kommunen legitimiert. Entlastet würden diese insofern, als Asylbewerber*innen, die nicht bleiben dürfen, nicht zuvor in einer Kommune aufgenommen würden. Jedoch wird eine große Zahl derjenigen, die in den AnkER-Zentren untergebracht werden sollen, einen positiven Bescheid erhalten. Nach Monaten der AnkER-Isolation – ohne Zugang zu Sprach- und Integrationskursen, zum Arbeitsmarkt, womöglich auch nicht zu Regelschulen und Kitas – müssten die Kommunen dann mit erheblichem Mehraufwand auffangen, was durch diese Form der Erstunterbringung verpasst oder gar zerstört wurde.
Sicher kein notwendiges, aber ein hinreichendes Instrument scheinen AnkER-Zentren eher für eine Politik zu sein, die die Debatte über Asyl und Zuwanderung anheizen und auf Abschreckung und Repression als Mittel der Migrationssteuerung und der „Integrationspolitik“ setzt.
- „Italien hat immer Menschenleben gerettet und wird sich niemals zurückziehen. Es sind andere, die beginnen müssen, Verantwortung zu übernehmen.“
Danilo Toninelli, Verkehrsminister Italiens, in einem Interview mit dem Radio Capital, in: Tagesschau, 13.06.2018
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Kommentiert von Lena Riemer
Die Aussage von Italiens Verkehrsminister Toninelli entstand im Zusammenhang mit dem Aquarius-Vorfall: Das Rettungsschiff Aquarius hatte 629 geborgene Geflüchtete an Bord, ihm wurde aber die Einfahrt in einen italienischen Hafen verweigert. Daraufhin entfachte der seit langem andauernde Streit zwischen einigen EU-Mitgliedstaaten erneut zu der Frage, welches Land wie viele Asylsuchende aufnehmen soll und wie Ungleichgewichte bei der Verteilung ausgeglichen werden können. Es geht bei dem Vorfall also um Solidarität zwischen EU-Mitgliedsstaaten, aber auch darum, ob Italien geltendes Recht verletzt hat.
Die Aussage von Toninelli stimmt insofern, dass Italien seit Jahren einen Großteil der ankommenden Geflüchteten aufgenommen und Menschenleben gerettet hat. Während der einjährigen, größtenteils durch Italien finanzierten und durchgeführten Operation Mare Nostrum wurden beispielsweise mehr als 130.000 Menschen gerettet. Jedoch wurde Italien vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen rechtswidriger Rückführungen verurteilt. Gegen Italiens andauernde Praxis, Zurückdrängungen mit Hilfe der Libyscher Marine durchzuführen, wurde kürzlich ebenfalls eine Klage eingereicht.
Auch stimmt, dass die Verantwortung für Asylsuchende häufig bei Italien verlieben ist, nicht zuletzt weil das Relocation-System der EU schlecht funktioniert hat. Um die oft prekäre Situation vieler Asylsuchender in Italien zu verbessern und die Seenotrettung auf dem Mittelmeer auf mehrere Schultern zu verteilen, ist es nötig, dass andere Mitgliedsstaaten der EU beginnen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Rechtlich ist dies in der Solidaritätsklausel des Art. 80 S. 1 AEUV verankert. Diese Norm legt für die EU-Asyl- und Flüchtlingspolitik und deren Umsetzung eine gerechte Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter EU-Mitgliedstaaten, auch in finanzieller Hinsicht fest.
Die Schuldfrage ist komplexer. Ob die grundsätzliche Schließung der italienischen Häfen für Rettungsschiffe, die Geflüchtete an den nächst sicheren Hafen bringen wollen, internationales Recht verletzt, ist umstritten. Bereits 2017 drohte Italien, seine Häfen für jedes ankommende Rettungsschiff zu schließen, das sich weigert, einen Verhaltenskodex für private Seenotretter zu unterzeichnen. Hingegen sehen das UN-Seerechtsübereinkommen und das Völkergewohnheitsrecht vor, dass Schiffen, die in Not geraten sind, Hilfe geleistet werden muss, und dass Gerettete an einen „Ort der Sicherheit“ zu bringen sind – d.h. ein Ort, an dem ihr Leben und ihre Sicherheit garantiert und ihre Grundbedürfnisse erfüllt sind. Diese Regelungen werden durch das 1979 verabschiedete internationale Übereinkommen über Seenotrettung (SAR-Konvention) ergänzt.
Aus diesen Quellen ergibt sich jedoch grundsätzlich keine Pflicht eines Küstenstaates, den Zugang zu seinem nationalen Hafen zu gewähren. Besteht eine Notsituation, d.h. wenn eine Gefahr für das Leben von Besatzungsmitgliedern oder Passagieren droht, greift das völkergewohnheitsrechtliches Nothafenrecht. In Anbetracht der Tatsache, dass sich auf der Aquarius 11 Kleinkinder, 123 unbegleitete Minderjährige und mehr als 80 Frauen, darunter sieben Schwangere aufhielten, das Schiff überfüllt und dessen Kapazitätsgrenze überschritten war, hätte das Nothafenrecht gegriffen. Daher hätte Italien die Schutzsuchenden nicht abweisen dürfen.
- „You wouldn’t believe how bad these people are. These aren’t people, these are animals, and we’re taking them out of the country at a level and at a rate that’s never happened before“
Donald Trump, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, in: New York Times, 16.05.2018
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Kommentiert von Prof. Dr. Bastian Vollmer
Das Zitat von Donald Trump zeigt deutliche Abwertungen von Geflüchteten und Migrant_innen. Seit Jahrzehnten setzen sich Wissenschaftler_innen intensiv mit solchen politischen Rhetoriken auseinander. Sie analysieren die praktischen Auswirkungen der tierähnlichen Darstellungen und politischen Dämonisierungen sowie die damit geschaffene ‚Politik der Angst‘ und möchten mit ihren Studien Einfluss auf Politik und politische Diskurse nehmen.
Aktuell haben Stigmatisierung und Dämonisierung von Geflüchteten und Migranten_innen in politischen Stellungnahmen neue Dimensionen erreicht, aber, wie es scheint, ohne jegliche Konsequenzen. Die sprachlichen Abwertungen durch Politiker_innen werden polit-strategisch instrumentalisiert, um bestimmte Interessen zu vertreten und Ziele zu erreichen. Die fortschreitende Versicherheitlichung von Flucht und Migration ist ein bekanntes Problem. Die komplexen Phänomene von Flucht- und Migrationsprozessen werden auf die Dimension der Sicherheit reduziert und übersimplifiziert. Es werden Gefahren und Bedrohungen in den Vordergrund gestellt und für politische Maßnahmen der Abwehr und Aufwertung des Sicherheitsapparats legitimiert. Gleichzeitig werden Geflüchtete und Migrant_innen auf direktem rhetorischen und sensorischen Weg mit einer imaginären Bedrohung in Verbindung gebracht, die zwar keine Rechtfertigungsbasis besitzt, aber politische Relevanz hat. Die Menschen werden sprachlich dämonisiert. Fortlaufend negative diskursive Konstruktionen werden gebildet, um entsprechend der politischen Interessen zusätzlich Ängste zu produzieren und Versicherheitlichung bzw. Verunsicherheitlichung voranzutreiben.
Besonders besorgniserregend ist aber die Frage nach der zukünftigen Entwicklung von Migrationsdiskursen. Einst hätten diese Aussagen Trumps zu einem gesellschaftlichen Aufschrei und zu Empörung geführt, wobei momentan kaum Konsequenzen zu beobachten sind. Natürlich ändern sich Diskurse. Die Frage ist aber, wie sie sich ändern und welche Implikationen diese Änderungen mit sich bringen. Dies ist überaus wichtig, denn Diskurse haben einen starken Einfluss darauf, wie Phänomene und soziale Realitäten beschrieben und somit auch potentiell wahrgenommen werden. Durch diese Änderungen entwickeln sich womöglich neue Normen und sprachliche Standards.
Wenn Äußerungen der Stigmatisierung und Dämonisierung von Geflüchteten und Migranten_innen in der eventuell neuen Konstellation politischer Diskurse „normalisiert“ werden, wirkt dies auch auf die zukünftige Ausrichtung nationaler oder regionaler Migrationsregime. Angesichts der momentanen Lage, wie Trump es vorführt, scheinen Migrationsdiskurse in einem prekären Zustand zu sein und die Folgen für die Entwicklung zukünftiger Migrationsregime sind nicht absehbar. Dies verdeutlicht die Dringlichkeit eines Kurswechsels. Es wird zunehmend wichtiger, Narrative zu entwerfen und zu mobilisieren, die diesen scheinbar neuen Dimensionen politischer Diskurse entgegenwirken, um katastrophale Entwicklungen zu verhindern und die Rechte von Geflüchteten und Migrant_innen in den Mittelpunkt zu setzen.
- „In the world we live in today, internet connectivity and smart phones can become a lifeline for refugees, providing an essential means for them to give and receive vital information, communicate with separated family members, gain access to essential services, and reconnect to the local, national and global communities around them.“
Filippo Grandi, Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, in: UNHCR News, 14.09.2016
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Kommentiert von Prof. Dr. Nadia Kutscher
Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge thematisiert in seinem Statement eine Beobachtung, die auch in deutschen Medienberichten eine Rolle spielt: viele Geflüchtete verfügen über Smartphones und sind auf Internetzugang angewiesen. Eine Reihe empirischer Studien aus den vergangenen drei Jahren zeigt, welche Bedeutung digitale Medien für Geflüchtete haben.
Auf der Flucht dienen Smartphones und Internet der Orientierung auf dem Land- und Seeweg, dem Herbeirufen von Hilfe in Notfällen (z.B. in Seenot auf dem Mittelmeer) sowie der Kontaktaufnahme mit Schleppern, um die nächsten Fluchtetappen zu organisieren. Nach der Ankunft im Aufnahmeland übernehmen digitale Medien eine wichtige Funktion beim Kennenlernen der Aufnahmegesellschaft, indem über Sprachlern- und Übersetzungs-Apps die Sprache angeeignet und durch Youtube-Filme, Nachrichten-Apps und Suchmaschinen Informationen über Alltag und Kultur erschlossen werden. Zudem können Geflüchtete teils schwer seriöse Auskünfte auffinden, sodass sie durch digitale Medien vertrauenswürdigen Informationen suchen.
Von zentraler Bedeutung ist jedoch der Kontakt mit Familie und Freunden über soziale Netzwerkdienste und mobile Medien, der für viele Geflüchtete auf unbestimmte Zeit die einzige Option der Begegnung und Kommunikation darstellt. Zudem ermöglichen digitale Medien in die pädagogische Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, dass Fachkräfte in sozialpädagogischen Einrichtungen auf diesem Weg Kontakt zu den abwesenden Eltern (im Herkunftsland oder in anderen Regionen) herstellen und diese in Hilfeprozesse einbeziehen können.
Entgegen der Annahme, dass alle Geflüchteten über digitale Medien verfügen und diese versiert nutzen, sind je nach Ressourcenlage (finanzielle Mittel, Bildungsgrad, soziale Beziehungen und Infrastruktur im Herkunftsland) sowohl Medienerfahrungen und -fähigkeiten als auch die Möglichkeit, über digitale Medien den Kontakt zu halten, unterschiedlich. Während in einigen Herkunftsregionen Telefon und Internet nicht verfügbar sind, sodass teils jahrelang keinerlei Kontakt zu Angehörigen möglich ist, wird oftmals auch im Aufnahmeland unzureichende Internetverfügbarkeit etwa in Flüchtlingsunterkünften die Verwendung digitaler Medien eingeschränkt. Zudem macht es Analphabetismus (ohne Unterstützung und abgesehen von Bildern und Sprachnachrichten) nahezu unmöglich, über diesen Weg zu kommunizieren. Letztlich ist Smartphonebesitz abhängig von finanziellen Ressourcen der Geflüchteten, wobei viele junge Geflüchtete ihr gesamtes Taschengeld opfern, um über Prepaid-Guthaben zeitweise Kontakt mit ihren Familien herstellen zu können.
Die Nutzung digitaler Medien bietet nicht nur Möglichkeiten, sondern kann auch Gefahren für Geflüchtete bergen. Soziale Medien verfolgen generell eine Transparenzlogik, durch die BenutzerInnen identifizierbar sind, sich vernetzen und miteinander in den Austausch treten. Neben der Suche nach Familienangehörigen können politisch Verfolgte auch von Verfolgern ausfindig gemacht werden. Dies widerspricht Schutzanforderungen, die neben grundlegenden Datenschutzfragen Privatsphäre erfordern.
- „Bei allem was wir tun, […] müssen wir deutsche und europäische Interessen gemeinsam vertreten. Deshalb wollen wir nicht unilateral, nicht unabgesprochen und nicht zu Lasten Dritter agieren.“
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin, in: Tagesschau, 18.06.2018
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Kommentiert von Prof. Dr. Ulrike Krause und Dr. Marcus Engler
Richtig ist, dass internationale Kooperation und Verantwortungsteilung zentral ist im globalen Flüchtlingsregime und vielfältige Interesse einbezogen werden müssen. Dabei ist die von der Bundeskanzlerin betonte multilaterale, abgesprochene Vorgehensweise historisch begründet. Der Erste und Zweite Weltkrieg führten zur Ermordung Millionen von Menschen und zu weitreichenden Fluchtbewegungen, auf die Staaten ohne hinreichende Kooperationen häufig restriktiv reagierten. Um zukünftig ähnliche Erfahrungen menschlichen Leids, fehlenden Schutzes oder der Abwehr von Flüchtlingen an Landesgrenzen zu vermeiden, sah sich die internationale Gemeinschaft in den 1940er und frühen 1950er Jahren in der Pflicht, den Schutz von Flüchtlingen und ihre Rechte zu internationalisieren. Dafür wurde 1950 das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) gegründet und 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet. Die Notwendigkeit der internationalen Kooperation und Verantwortungsteilung verstärkt die New Yorker Erklärung zu Flucht und Migration von 2016 abermals.
Obwohl WissenschaftlerInnen seither immer wieder unzureichende Zusammenarbeit von Staaten und ihre ungenügende Verantwortungsteilung kritisiert haben, gehört beides zu den Grundpfeilern des Flüchtlingsschutzes, global wie regional. Auch auf europäischer Ebene soll das Gemeinsame Europäische Asylsystem zum zwischenstaatlichen Tragen von Verantwortungen im Schutz von Geflüchteten beitragen, wobei einige der vorherigen Kommentare in diesem Beitrag Schwachstellen diskutieren. Der aktuelle Doppelkonflikt über die weitere Ausgestaltung der Flüchtlingspolitik zwischen CDU und CSU einerseits und zwischen verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten andererseits birgt aber die Gefahr, zu Lasten ‚externer Dritter‘ zu gehen. Bei diesen Dritten handelt es sich vor allem um Geflüchtete, aber auch um außereuropäische Aufnahme- und Transitstaaten. Beide müssten den Preis einer weiteren Abschottungs- und Externalisierungspolitik Europas zahlen.
Denn entgegen weit verbreiteter Annahmen kommen immer weniger Flüchtlinge nach Deutschland und Europa. Wie aus dem gerade von UNHCR publizierten Bericht ‚Global Trends: Forced Displacement in 2017‘ hervorgeht, sind die weltweiten Zahlen von Geflüchteten Ende 2017 auf 68,5 Mio. gestiegen. 85% aller Flüchtlinge befinden sich in Entwicklungsländern fernab Europas, da die meisten in Nachbarländer fliehen und somit in ihren Herkunftsregionen bleiben. In der Bundesrepublik waren Ende 2017 zwar 970.400 Flüchtlinge registriert, der sechsthöchste Wert weltweit und Platz eins unter den Industriestaaten. Setzt man die Zahl der Flüchtlinge aber in Relation zu Wirtschaftskraft (Platz 59 weltweit) oder Bevölkerung (Platz 17), relativieren sich die vermeintliche ‚Belastung‘ der Bundesrepublik im globalen Vergleich wie auch die politischen (rechtswidrigen) Forderungen der CSU nach Zurückweisungen an Landesgrenzen.
In der politischen und medialen Diskussion in Deutschland werden derzeit die historischen Erfahrungen, die aktuellen globale Entwicklungen sowie die völker- und europarechtlichen Verpflichtungen weitgehend ausgeblendet. Die steigenden Zahlen von Flüchtlingen machen wirksame internationale Kooperationen und Verantwortungsteilungen jedoch dringend erforderlich, wobei eine Abkehr zum Rückfall in die Zeit vor der Gründung des internationalen Flüchtlingsregimes bedeutet könnte. Erfahrungen aus der Vergangenheit, in denen Staaten gemeinsam Vereinbarungen zum Flüchtlingsschutz getroffen haben, verdeutlichen, dass es anstatt nationaler Alleingänge die internationale Zusammenarbeit ist, die zu Schutz und Lösungen für Geflüchtete beiträgt.
Redaktion: Prof. Dr. Ulrike Krause