Feldforschung, Gefahren und Schadensminimierung

Vorschlag für eine Do No Harm-Analyse zur Schadensminimierung

Der aktuelle „Feldforschungs-Boom“ in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Feldern sollte mit forschungsethischen Fragen einhergehen. Während ich in einem früheren Beitrag Flüchtlinge als Forschungsgegenstand hinterfragt habe, gehe ich nun auf Gefahren für Forschende und Teilnehmende im Feld ein und schlage eine Do No Harm-Analyse zur Schadensminimierung vor.

 

Die Erforschung von Flucht, Flüchtlingsschutz und Lebensbedingungen von Flüchtlingen findet nicht selten im Zusammenhang mit Feldforschung statt. Dabei können empirische Erhebungen im Feld einerseits als Stärke der Flüchtlingsforschung gesehen werden, durch die tiefgreifende Einblicke und Erkenntnisse gewonnen werden. Andererseits nimmt die Anzahl dieser Vorhaben zu und es kann durchaus kritisch hinterfragt werden, ob Feldforschung zur Beantwortung der jeweiligen Forschungsfragen immer notwendig ist, ob Forschende die notwendigen Kenntnisse besitzen und ob Gefahren und Schadensminimierung ausreichend berücksichtigt werden. Dem letzten Aspekt widme ich mich in diesem Beitrag.

 

Zwei Perspektiven auf Gefahren

Susanne Buckley-Zistel betont in ihrem Artikel »Ich bin dann mal weg«, dass „[i]m Feld zu forschen […] eine extrem bereichernde, wenn auch mitunter schwierige Angelegenheit“ (S. 315) sein kann. Das deutet bereits Gefahren in der Feldforschung an: Forschungsprojekte können in gefährlichen Kontexten stattfinden, die sich selbstverständlich auf Forschende und Teilnehmende beziehen. Darüber hinaus können WissenschaftlerInnen Gefahren durch Projekte für Teilnehmende hervorrufen. Auf beides gehe ich im Folgenden ein.

Forschungsvorhaben in der Zwangsmigrations- und Flüchtlingsforschung finden häufig in instabilen und gefährlichen Kontexten statt. Sie können diverse alltägliche Herausforderungen wie Transport- und Unterkunftsmöglichkeiten, physische Sicherheitsrisiken und psychische Belastungen für Forschende bergen. Diese alltäglichen Herausforderungen stellen aber gleichzeitig die Lebensbedingungen für die an der Forschung teilnehmenden Personen dar, die nicht selten im Mittelpunkt der Studien stehen.

Flüchtlinge sind oft vor und aus Regimen geflohen, in denen sie Gewalt und Rechtsverletzungen ausgesetzt waren, wobei sie auch in Asyl- und Aufnahmeländern mit diversen rechtlichen Restriktionen, anhaltender Gewalt und strukturellen Unsicherheiten konfrontiert sind. Durch die Teilnahme an Forschungsprojekten können physische Sicherheitsgefahren entstehen, wenn bspw. in Konfliktgebieten mit bestimmten Personen gesprochen wird oder Veröffentlichungen unautorisiert Namen und Fotos von Flüchtlingen enthalten. Dies belegt das nachstehende Zitat eines Flüchtlings in Bangladesch:

„At times we are too scared to take part even if we want to, because of what will happen after they [die Forschenden] have gone. (Rohingya refugee, Bangladesh, 2007)“

Bei Asylgesuchen geht es für die Personen nicht nur darum, Begründungen zu geben, sondern in gewisser Weise auch darum, die ‚richtigen‘ Antworten zu geben, denn ‚falsche‘ Antworten können drastische Folgen wie Ablehnung, Ausweisung oder Inhaftierung haben. Durch diese Erfahrungen kann das Konzept einer freiwilligen Teilnahme an Forschungsprojekten für viele Personen unbekannt oder ungewohnt sein, sodass sie sich zur Teilnahme verpflichtet fühlen oder auf verbesserte Lebensbedingungen hoffen können. Hingegen können Teilnehmende durch (zu) persönliche Fragen eingeengt und beängstigt werden, was das folgende Zitat von weiblichen Flüchtlingen in Thailand verdeutlicht:

„They asked us to lead them to women who had been raped so they could record their stories. ‘Tell us what happened – how did you feel?’ Women were so upset after the interviews, we did not know what to do.

Die Frauen waren mit inadäquaten Fragen konfrontiert und verärgert über das Vorgehen der Forschenden, was ernstzunehmend ist. Psychologische Studien betonen, dass viele Opfer von Kriegen und Vertreibung traumatisiert sind, was Folgestörungen hervorrufen kann. Solch unsensible Interviews können zu Retraumatisierungen beitragen.

Diese Herausforderungen sollen kein grundsätzliches Plädoyer gegen Feldforschung sein. Ich möchte vielmehr die vielfältigen Dilemmata aufzeigen, die durch Feldforschung entstehen können. Es ist unabdingbar, dass Forschende für Kontexte und Zielgruppen passende Methoden wählen und entsprechende Fähigkeiten zur Anwendung der Methoden besitzen. Es ist ebenso unabdingbar, dass Forschende Teilnehmende nicht als reine Informationsquellen und somit Forschungsobjekte degradieren, sondern ihre frei- und bereitwillige Teilnahme sicherstellen. Dies bedarf Vertrauen, wobei sich misstrauisches und vorsichtiges Vorgehen für viele Personen in Flüchtlingssituationen zur Überlebensstrategie entwickelt und Forschende Vertrauen in Umfeldern des Mistrauens aufbauen müssen, um Daten erheben zu können.

 

Schadensminimierung als Leitprinzip

Diese Gefahren und Kontextbedingungen sind bei der Planung und Durchführung der Vorhaben einzukalkulieren und Methoden und Ansätze zu wählen, die zu den Zielgruppen und Kontexten passen sowie negative Einflüsse auf Personen und Umfeld vermeiden. Bereits 1980 schrieb Joan Cassell davon, dass Schäden durch Feldforschung stets zu reduzieren sind.

In examining noblesse-oblige fieldwork, […] incidents and relationships have to be weighed on individual bases. In each case, however, the fact that an interaction or procedure would result in few harms would not be sufficient to have it judged ethically adequate. In making such judgments, it is more the quality of the interaction than the results that must be scrutinized. (S. 35)

In den Folgejahren entwickelte sich Do No Harm in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Feldforschung zur goldenen Regel bzw. zum Leitprinzip. Es zielt darauf ab, durch die Feldforschung keine Schäden zu verursachen und keine Gefahren für die Teilnehmenden zu produzieren.

Einige WissenschaftlerInnen kritisieren mittlerweile allerdings, dass der normative Do No Harm-Leitsatz für die Feldforschung nicht ausreicht. Denn Forschende können gutgemeinte, aber letztlich leere Bestrebungen verfolgen und Teilnehmende Risiken aussetzen, sodass sie ihren ethischen Verantwortungen nicht gerecht werden. Daraus geht die Forderung hervor, dass explizite Nutzen für Teilnehmende aus der Forschung entstehen sollten, indem agency und die Kapazitäten der Personen gefördert werden. Ich schließe mich der Kritik an, dass es nicht ausreicht, lediglich an den guten Willen von WissenschaftlerInnen zu appellieren. Do No Harm als normatives Leitprinzip bietet Forschenden nur eine persönliche moralische Abwägungsgrundlage, aber keine Mechanismen zur Umsetzung und Anwendung.

 

Do No Harm-Analyse

Um mögliche positive und negative Wirkungen von Vorhaben vor und während der Feldforschung mit dem Ziel der systematischen Schadensminimierung zu untersuchen, bedarf es einer strukturierten und (selbst-)kritischen Vorbereitung sowie Durchführung. Dafür schlage ich anstelle des Leitprinzips vor, eine Do No Harm-Analyse durchzuführen. Mary Anderson entwickelte Do No Harm als Analyserahmen für Projekte der internationalen Zusammenarbeit, um Bedingungen auf Mikroebene mit konfliktbedingten trennenden und verbindenden Faktoren (englisch: dividers, connectors) zu untersuchen. Trennende Faktoren können zu Konflikten und Gewalt beitragen und verbindende Faktoren friedensfördernd wirken. Die Berücksichtigung dieser Faktoren ist allerdings auch für eine unbefangene Forschung und Schadensminimierung relevant.

Um das Konzept für Forschungsprojekte nutzbar zu machen, habe ich den ursprünglichen Analyserahmen von Anderson angepasst, sodass Forschungsprojekte systematisch hinsichtlich diverser Fragen (Warum, wo, was, wann, mit wem, von wem und wie) mit Bezug zu Kontext und Methoden reflektiert werden. Daraus ergibt sich das nachstehende, von Anderson (1999: 74) abgewandelte Schaubild:

dnh

© Krause 2016

Mit Hilfe einer solchen Do No Harm-Analyse können sich WissenschaftlerInnen mit den Zielen des Forschungsprojekts sowie den Bedingungen im Feld grundlegend auseinandersetzen und die Wirkung der Feldforschung abwiegen. Entlang der Fragen setzen sie sich systematisch und strukturiert mit den Kontexten, Zielgruppen und Bedingungen sowie Spannungsfaktoren auseinander, wodurch sie ein adäquates Forschungsdesign mit passenden Methoden erarbeiten können. Somit ist die Do No Harm-Analyse vor allem für die Planungsphase relevant ist. Da im Zuge des Forschungsprozesses möglicherweise weitere, bislang unberücksichtigte Gegebenheiten aufkommen, bietet es sich an, die Analyse während der Feldforschung zu wiederholen und das Forschungsdesign bei Bedarf anzupassen.

 

Quo Vadis?

Feldforschung kann also nicht nur in gefährlichen Umfeldern stattfinden, sondern Forschungsprojekte können auch Gefahren für Teilnehmende hervorrufen. Mit Hilfe einer Do No Harm-Analyse können WissenschaftlerInnen Bedingungen und Kontexte vor und während der Feldforschung analysieren, Wirkungen abwägen und letztendlich Schäden minimieren.

Zusätzlich zu methodischen und wissenschaftstheoretischen Fragen sind vor allem auch kritische Reflexionen der Forschenden über ihre Fähigkeiten und ihrer eigenen Rolle im Feld nötig, um Möglichkeiten und Grenzen zu rahmen. Denn das wissenschaftliche Arbeiten besteht nicht daraus, irgendwie mit Personen (in Notlagen) zu sprechen, um Erkenntnisse zu generieren. Vielmehr sind persönliche Fähigkeiten, Kenntnisse und Sensibilität für die Zielgruppen Grundlagen dafür, dass die wissenschaftliche Arbeit überhaupt durchgeführt werden kann und dass Schäden vermieden werden. Und es liegt in der Verantwortung der Forschenden, adäquate Methoden für die Datenerhebung zu wählen, erlernen, reflektieren und üben, mit den Daten sensibel umzugehen und im Forschungsprozess selbstkritisch zu bleiben. Dazu gehört auch, Feldforschung nicht als interessengeleitete Besichtigung von Not, Elend und Leid, abenteuerlustige Suche nach Grenzerfahrungen und Selbstfindungsphasen oder pure Neugier auf fremde exotische Länder durchzuführen. Feldforschung darf nur dann durchgeführt werden, wenn es für die jeweiligen Forschungsfragen unabdingbar ist und die Forschenden die Kompetenzen dafür besitzen.

 

Der Beitrag ist im Rahmen des  Forschungsprojekts „Genderbeziehungen im begrenzten Raum. Bedingungen, Ausmaß und Formen von sexueller Gewalt an Frauen in kriegsbedingten Flüchtlingslagern“ entstanden, das am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg durchgeführt und durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung unterstützt wird, bei der ich mich hiermit vielmals bedanke.

 

Photo Credits:

(c) Titelbild und Schaubild: Ulrike Krause nach Mary Anderson (1999), siehe Krause, Ulrike (2016), ‘Ethische Überlegungen zur Feldforschung. Impulse für die Untersuchung konfliktbedingter Flucht‘, CCS Working Paper Series, Nr. 20, S.4-5.

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