In Griechenland gibt es fünf Hotspots, in denen die Verfahren von Schutzsuchenden, die über die Ostägäis in die EU einreisen, gesammelt abgewickelt werden sollen. Zwar wird in den Medien regelmäßig über die Bedingungen in den Hotspots berichtet, jedoch lag bislang der Fokus auf dem Aufnahmezentrum, der sich auf der Insel Lesbos befindet. Dort wird vergleichsweise viel Unterstützung, insbesondere auch von größeren NGOs wie dem Danish Refugee Council oder Norwegian Refugee Council, angeboten. Andere Hotspots wie auf der ostägäischen Insel Chios werden dabei medial und professionell vernachlässigt. Wir waren mit einer Gruppe Angehöriger von Refugee Law Clinics aus Deutschland im Juni 2016 auf Chios, um Rechtsinformationen anzubieten – auch um diese Lücke zu füllen. Einige der hierbei auftretenden Probleme, die sich als Folge großflächiger Desinformation erwiesen, sollen im Folgenden aufgezeigt werden.
Auf den ostägäischen Inseln wird derzeit der EU-Türkei-Deal auf Grundlage des bereits zuvor implementierten Hotspot-Konzeptes umgesetzt. Der EU-Türkei-Deal sieht unter anderem die Rückführung irregulärer Migrant*innen aus Griechenland in die Türkei vor, wobei die Hotspots der Steuerung außergewöhnliche Migrationsströmungen dienen sollen. Die Asylverfahren mit hohen bzw. niedrigen Erfolgsaussichten sollen beschleunigt stattfinden, damit die Umverteilung der Personen in andere europäische Staaten bzw. die Rückführung in Dritt- oder Herkunftsstaaten entsprechend zügig stattfinden kann. Die Kombination beider Konzepte führt dabei zu deutlichen Unklarheiten über den Ablauf der Verfahren und die rechtlichen Maßstäbe, die angewendet werden sollen. Dies liegt einerseits daran, dass rechtsunverbindliche Konzepte und EU-Sekundärrecht auseinanderklaffen, andererseits an mangelnden Ressourcen, die zur Umsetzung des EU-Türkei-Deals zur Verfügung gestellt werden. Leidtragende sind die Schutzsuchenden, die nach wie vor die ostägäischen Inseln erreichen, wenngleich die Neuankünfte unmittelbar nach Abschluss des Deals deutlich nachgelassen haben (vgl. für Zahlen hier).
Auf Chios befinden sich derzeit beinahe 2500 Schutzsuchende. Große NGOs treffen erst sukzessive ein, eine entsprechende Vernetzung, insbesondere hinsichtlich juristischer Unterstützung, ist erst im Aufbau. Es fehlte und fehlt an Infrastruktur, an einer validen Darstellung der rechtlichen Grundlage für die Schutzsuchenden und Rechtsanwender*innen und des Ablaufs des in den Hotspots stattfindenden Verfahrens.
Ursprüngliches Ziel unseres Aufenthalts in Chios war es, möglichst schnelle „Nothilfe“ in Form von Beratungen über Verfahrensrechten, Fristen etc. für Schutzsuchende zu leisten. Da es für den Ablauf in den Hotspots keine transparente und erprobte Behördenpraxis gibt, sollte der Großteil unserer Arbeit nun zunächst darin bestehen, die gravierendsten Unterschiede zwischen „law in the books“ und „law in action“ herauszuarbeiten. Im Folgenden geben wir ein Überblick darüber.
Rechtlicher Rahmen
Das Hotspot-Konzept sieht vor, dass das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), Frontex und Europol eng mit dem Mitgliedsstaat kooperieren. Dies führt dazu, dass sich auf der Insel eine Vielzahl rechtlicher Akteur*innen befinden. Maßgeblich für die Durchführung des Asylverfahrens ist griechisches Recht. EASO hat (formal rechtlich) nur unterstützende Befugnisse (vgl. Art. 2 Abs. 6 der Verordnung (EU) 439/2010). Zuständig ist daher der Greek Asylum Service (GAS) auf Grundlage des erst im April 2016 in Kraft getretenen Gesetzes 4375, das einige Regelungen der EU-Asylverfahrensrichtlinie (AsylVerfRL) übernimmt. Diese sieht in Art. 43 (Art. 60 Gesetz 4375) die Möglichkeit eines Grenzverfahrens und in Art. 33 (Art. 54 Gesetz 4375) eine vorgeschaltete Zulässigkeitsprüfung vor. Sofern der Antrag unzulässig ist – etwa weil die Türkei ein sicherer Drittstaat für die*den Antragssteller*in ist (Art. 38 AsylVerfRL, Art. 56 Gesetz 4375) oder die Person dort bereits einen Status nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) innehat („erster Asylstaat“, Art. 35 AsylVerfRL, Art. 54 Gesetz 4375) – ist eine weitergehende Prüfung entbehrlich, Griechenland nicht mehr zuständig und die Person kann in die Türkei rücküberführt werden.
Im Kern ist dies die Prüfung, die im Hotspot zurzeit (äußerst schleppend, nicht wie geplant beschleunigt) durchgeführt wird. Vereinfacht formuliert: Um den EU-Türkei-Deal umzusetzen, soll die Türkei für alle eingereisten Personen entweder als erster Asylstaat oder als sicherer Drittstaat verstanden werden, was in der Praxis von der griechischen Widerspruchsbehörde bisher nicht mitgetragen wird.
(Vermeintlicher) Ablauf des „Admissibility-Interviews“
Nach einem Debriefing und Screening durch Frontex (zum Ablauf auch hier, S. 12-13) und einer EURODAC-Registrierung soll im Admissibility-Interview mit den Schutzsuchenden über die Zulässigkeit des Antrags entschieden werden. Nach der Logik des EU-Türkei-Deals müsste sich das Interview auf Fragen zur Türkei beschränken, um die Möglichkeit der Rückführung zu eruieren. Tatsächlich ist der Inhalt des Interviews aber unklar und die Praxis wenig kohärent. Zum Teil berichteten uns Schutzsuchende von 20-minütigen, zum Teil von dreistündigen Interviews. Ein*e Mitarbeiter*in EASOs informierte auf persönliche Nachfrage bei einem Treffen:
„The admissibility interview is about everything – where the person is from, why they left the country, what was the way they took etc. This is a basic asylum interview.”
Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu klärende Fragen betreffen aber nicht everything, sondern einzig die Zulässigkeitskriterien aus Art. 54 Gesetz 4375. Es ist für uns schwer vorstellbar, dass darüberhinausgehende Fragen bspw. über Fluchtgründe, die Zuständigkeitsentscheidung nicht beeinflussen. Denn die schlecht personell ausgestatteten Behörden EASO und GAS dürften kein Interesse daran haben, sich mit entscheidungsunerheblichen Fragen zu beschäftigen. Zumindest jedoch kann eine solche zusätzliche, nicht entscheidungsrelevante Befragung, die Zulässigkeitsentscheidung unbewusst beeinflussen.
Fraglich ist auch, ob die Entscheidungen inhaltlich von der zuständigen griechischen Behörde getroffen und nicht nur von ihr unterschrieben werden. Denn EASO ist nur befugt, unterstützend zur Seite zu stehen, die Letztentscheidungskompetenz liegt beim GAS. Aussagen von Schutzsuchenden über Interviews, die zu maßgeblichen Teilen von EASO-Beamt*innen geführt wurden, zeigen eine Gefahr der Kompetenzüberschreitung durch EASO an. Diese Gefahr resultiert auch aus dem personellen Verhältnis von EASO- zu GAS-Mitarbeiter*innen, das derzeit bei 1:1 liegt. Solche Bedenken teilt etwa auch PRO ASYL. Dies wiederspricht zumindest nicht dem Selbstverständnis des*r bereits zitierten EASO-Mitarbeiters*in: „we have very experienced asylum experts […]. Greek law is a side issue.“
Asylgesuch
Was die Personen, die seit Monaten in den Lagern ausharren, stark beschäftigt, ist die Möglichkeit einer Umverteilung in einen anderen EU-Staat – sei es über das Umverteilungsprogramm (Relocation) oder die Zusammenführung mit Familienmitgliedern. Aufgrund der restriktiven und aussichtlosen Bedingungen im Hotspot und auch anderswo in Griechenland, will jedoch kaum eine schutzsuchende Person in Griechenland bleiben. Mitunter hat dies zur Folge, dass auf griechischen Registrierungsbögen im Feld „I would like to apply for asylum in Greece“ „No“ angekreuzt wird – im Glauben, es gäbe dann noch die Möglichkeit, in einem anderen Mitgliedstaat der EU einen Antrag stellen zu können. Ohne einen Antrag gestellt zu haben, besteht aber jederzeit die Gefahr der Rückführung in der Türkei. Währenddessen haben viele der Schutzsuchenden, mit denen wir Kontakt hatten, ebenfalls keinen Asylantrag gestellt, was bisher ohne negative Konsequenzen war.
Im Kontrast zur Heranziehung des Registrierungsbogens könnte vielmehr bereits das Anlanden von Personen an der griechischen Küste als Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des Art. 2 litera h der Qualifikationsrichtlinie verstanden werden (dazu auch hier, S. 27-28).
Familienzusammenführung
Angesichts der demographischen Zusammensetzung der Hotspots mit beinahe 60 % Frauen und Kindern liegt nahe, dass viele Personen Familienangehörige in anderen Mitgliedsstaaten haben. Für die Familienzusammenführung bestehen zwei Wege: Eine Dublin-Überstellung auf Grund der Art. 8-10 der Dublin-III-Verordnung oder eine Beantragung nationaler Visa zur Familienzusammenführung bei der zuständigen Botschaft des entsprechenden EU-Mitgliedsstaates.
Für die Familienzusammenführung nach Deutschland muss das Asylverfahren des Familienmitgliedes in Deutschland abgeschlossen und ein Aufenthaltstitel bereits erteilt sein (vgl. §§ 29 ff. des Aufenthaltsgesetzes), der zum Familiennachzug berechtigt. Drei Monate nach der Erteilung muss in Deutschland eine fristwahrende Anzeige erfolgen, mit der das Begehren des Familiennachzuges angezeigt wird. Dazu muss ein Termin bei der Botschaft im Aufenthaltsstaat beantragt werden. Die Termine bei der deutschen Botschaft in Athen liegen nach unseren Erfahrungen 6-9 Monate in der Zukunft. Die Dokumente (vgl. für eine Liste etwa hier), die hierbei vorgelegt werden müssen, sind teilweise nur mit hohem finanzielle Aufwand oder teilweise gar nicht zu erlangen.
Mit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals vergab die deutsche Botschaft in Athen zudem keine Termine mehr an Antragssteller*innen, die sich in den Hotspots befinden. Die Personen wurden vielmehr an deutsche Auslandsvertretungen in der Türkei verwiesen. Eine äußerst fragwürdige Praxis, von der aber offenbar Abstand genommen wurde – zumindest ist der Hinweis kürzlich von der Website der deutschen Auslandsvertretung in Griechenland entfernt worden.
Die Dublin-Überstellung erschien daher der weniger beschwerliche Weg der Familienzusammenführung Die Dublin-III-Verordnung normiert Zuständigkeiten von Mitgliedsstaaten, legt also fest, in welchem EU-Mitgliedsstaat das Asylverfahren durchzuführen ist. Teilweise wurde daher angenommen, die Verordnung vermittele keine subjektiven Rechte, sodass Antragssteller*innen nicht bspw. über den Klageweg gegen eine unrichtige Anwendung dieser Kriterien vorgehen könnten. Dieser Interpretation hat der Europäische Gerichtshof jedoch kürzlich widersprochen (Az. C-63/15 und C-155/15 jeweils vom 07.06.2016). Dennoch laufen starre Fristen (drei Monate, vgl. Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung) für die Überstellung, deren Überschreiten die Zuständigkeit – jedenfalls nach geltendem Recht – auf den Aufenthaltsstaat (hier: Griechenland) übergehen lässt. Daher ist Schutzsuchenden nicht zu raten, sich allein auf eine mögliche Dublin-Überstellung zu verlassen.
Zwar kann nach Art. 54 Abs. 1 lit. b Gesetz 4375 im Rahmen des Admissibility-Verfahrens auch die Dublin-Prüfung durchgeführt werden. Ob Griechenland in allen Fällen die Dublin-Zuständigkeitsregelungen vorrangig anwendet, oder sich offenhält, das Konzept des sicheren Drittstaates gemäß Art. 3 Abs. 3 Dublin-III-Verordnung vorrangig anzuwenden, ist jedoch unklar und nicht geregelt. Tatsächlich befinden sich diverse Personen im Hotspot auf Chios, die alle notwendigen Papiere beisammenhaben, teilweise reisen die Angehörigen eigens an. Teilweise nehmen Akteur*innen auf der Insel an, dass die Dublin-Prüfung erst mit formaler Asylantragsstellung durchgeführt werde – und die würde in Athen stattfinden. Immerhin wurde auf den Registrierungsbögen zwischenzeitlich eine Box zu Familienangehörigen in anderen EU-Staaten angelegt und Schutzsuchende berichteten von Interviews, die einzig um diesen Themenkomplex kreisen. Ein Fall der Überstellung ist uns indes nicht bekannt.
Für die Familienzusammenführung lässt sich also festhalten: Die Anwendbarkeit der Dublin-III-Verordnung sowie der Zeitpunkt der Prüfung des zuständigen Mitgliedsstaates ist unklar; für nationale Visa sind die bürokratischen Hürden enorm hoch. Die Wahrnehmung des Rechtes auf Familieneinheit aus Art. 8 Europäischen Menschenrechtskonvention wird stark erschwert.
Relocation
Die Möglichkeit der Umverteilung in andere Staaten der EU ist im Lichte des EU-Türkei-Deals zu sehen. Wenn die Europäische Kommission annimmt „all new irregular migrants crossing from Turkey to the Greek islands as of 20 March 2016 will be returned to Turkey”, dann schließt das jedoch die Möglichkeit einer Umverteilung innerhalb der EU aus. Dem entsprechen auch Informationen, die den Schutzsuchenden auf Chios von Mitarbeiter*innen des UNHCR gegeben wurden. Die Beschlüsse des Europäischen Rats zur Umverteilung (zunächst 40.000, dann weitere 120.000) unterscheiden jeweils nicht zwischen Personen, die (nicht) unter den EU-Türkei-Deal fallen. Das könnte jedenfalls als juristisches Argument für eine Umverteilungsmöglichkeit derjenigen, die nach dem 20. März angekommen sind, in Anschlag gebracht werden. Eine solche Umverteilungsmöglichkeit widerspricht aber dem Konzept des EU-Türkei-Deals.
Dennoch gibt es dahingehend weitere widersprüchliche Informationen. So informierte uns der EASO-Pressesprecher zur Anwendbarkeit: „it is applicable for all in principle“. Ein*e weiterer*e EASO-Beamter*in differenzierte auf Nachfrage:
„20th of March is the milestone that differentiates the refuge population […] refugees who have entered Europe after that day are subjects to the EU-Turkey agreement. Those that are admissible could afterwards apply for relocation […].”
Die Kommission gibt indes relativ klar die Richtung vor und schlägt dem Europäischen Rat die Umwidmung eines Großteils der ursprünglich für Relocation (Umverteilung innerhalb der EU) vorgesehenen Plätze in Resettlement-Kontingente (Aufnahme von Syrer*innen aus der Türkei nach Europa im Rahmen des EU-Türkei-Deals) vor. Wird dies beschlossen, so stehen weniger Plätze für Umverteilung aus den Hotspots zur Verfügung.
Ausblick
Inhalt und Ablauf des Admissibillity-Verfahrens, Möglichkeiten und Voraussetzungen der Familienzusammenführung, Zugang zu Relocation – die für die Betroffenen wichtigsten Fragen sind weitgehend unklar, was für sie auch zu Entscheidungsunsicherheiten hinsichtlich des weiteren Vorgehens führt. Häufig wird in Erwägung gezogen, in die Türkei, gar ins Heimatland zurückzukehren oder illegal weiterzureisen. Unabhängig davon, ob staatliche und europäische Akteur*innen wegen fehlender Koordination tatsächlich wider besseren Wissens fehlerhafte und widersprüchliche Informationen an Schutzsuchende geben, den grundlegenden Ablauf des Verfahrens verbindlich festzulegen, ist keine Mammutaufgabe.
Das Maß der Desinformation ist somit zumindest den Institutionen anzulasten, ob sie es nun fahrlässig oder bewusst herbeigeführt haben, zumal etwa Art. 12 Abs. 1 lit. a AsylVerfRL den Weg vorgibt: „[Antragsteller werden] über den Verlauf des Verfahrens und über ihre Rechte und Pflichten während des Verfahrens sowie darüber informiert, welche Folgen es haben kann, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen […]“. Wenn diesen Anforderungen nicht nachgekommen wird, werden die Aufnahmezentren zu Orten der Ungewissheit und der Hoffnungslosigkeit.