„Im großen Stil abschieben“: Mehr als performative Politik?

Bundeskanzler Olaf Scholz überraschte im “Spiegel” mit der Aussage: “Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben, …. Wir müssen mehr und schneller abschieben.” Die Ankündigung ist parteipolitisch motiviert, die strenge Akzentuierung will der politischen Rechten Angriffspunkte nehmen. Die tatsächliche Umsetzung wird aber vom Umgang mit den Einflussfaktoren der Nicht-Abschiebbarkeit von Ausreisepflichtigen abhängen. Eine Änderung des fluchtpolitischen Kurses bedeutet die bislang performative Aktion aber allemal.

 

Die deutsche Bundesregierung reiht sich in den verbreiteten europäischen Aktivismus, die irreguläre Migration mit allen möglichen Ankündigungen, Gesetzen, Pakten und Projekten zu verhindern, ein. In der Diktion schneller, schärfer und effizienter als bisher bzw. als andere Staaten abzuschieben, gewinnen restriktive, Gewalt nicht scheuende, die EMRK in Frage-stellende Maßnahmen an Bedeutung. Um die Einreise zu erschweren bzw. zu verunmöglichen werden innerhalb des Schengen-Raums, an den EU-Binnengrenzen, mehr Kontrollen und (illegale) Rückweisungen praktiziert. Sowohl EU-Institutionen als auch EU-Mitgliedsstaaten erwägen Screenings für beschleunigte Asylverfahren in Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen, mehr noch, Asylverfahren könnten zukünftig exterritorial administriert werden. So will etwa Italien in Albanien Asylverfahren durchführen. Dem Instrument der Abschiebung kommt im Kampf gegen die irreguläre Migration eine Schlüsselrolle zu. Bereits in den frühen 2000er Jahren brachte die Migrationsforschung den Begriff deportation turn in die akademische Debatte ein. In Deutschland legte der ehemalige Bundesinnenminister Seehofer (CSU) im Jahr 2018 einen Masterplan für eine restriktivere Migrationspolitik und mehr Abschiebungen vor, der aber aufgrund parteiinterner Positionsunterschiede nicht in vollem Umfang umgesetzt wurde.

Aktuell sind Abschiebungen, nicht nur in Deutschland, eine viel propagierte Maßnahme – ohne jedoch am Problem der irregulären Migration Gravierendes zu ändern. Kenan Malik beleuchtet im Guardian die Abschiebeschemata vor einer innenpolitischen Interessensfolie und ordnet diese dem Bereich der performativen Politik zu. Als Beispiel nennt er die Diskussion zu Abschiebungen von Großbritannien nach Ruanda, bei denen es sich um jährlich etwa 300 Menschen handeln dürfte – angesichts von 146.000 Personen in offenen Asylverfahren eine verschwindend kleine Zahl.

 

Der Gesetzesentwurf zur Verbesserung der Rückführung

Dem Spiegel-Interview von Bundeskanzler Scholz folgte rasch, am 11. Oktober 2023, von der Bundesinnenministerin der „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz)“. Die Genese geht auf den Flüchtlingsgipfel im Mai 2023 zurück als Kommunen und Länder Antworten auf die steigenden Asylantragszahlen einforderten. Das kommunizierte Ziel des im Kabinett bereits beschlossenen Entwurfs ist eine effizientere Durchsetzung der Ausreisepflicht. Der operative Hebel für mehr Abschiebungen sind rückführungsbezogene Regelungen im Aufenthalts- und Asylgesetz, insbesondere die schnellere Außerlandesbringung von Straftäter*innen und Gefährder*innen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit. Behörden und die Polizei erhalten mehr Befugnisse wie die Verlängerung des Ausreisegewahrsams, die Betretung von Räumen, der Entfall der Ankündigung von Abschiebungen (ausgenommen sind Familien mit Kindern), die Verhängung der Abschiebehaft bei Verstößen gegen Einreise- und Aufenthaltsverbote und erweiterte Methoden der Identitätsfeststellung (Handy auslesen etc). Seit 6. November 2023 ist der Entwurf Teil eines insgesamt 10 Punkte umfassenden Beschlusses zwischen Bundeskanzler und Regierungschef*innen der Länder zur zukünftigen Flüchtlingspolitik zwischen Humanität und Ordnung.

Der konkrete Gesetzesentwurf und die erweiterten Beschlüsse sind nicht unumstritten wie teils verhaltenes Schweigen der SPD und Reaktionen von NGOs, aber auch vom grünen Regierungspartner zeigen. Anderenhingegen geht der an CDU/CSU-Forderungen angelehnte Gesetzesentwurf nicht weit genug. Politische Befriedung ist also nicht in Sicht.

 

Schutzquote und Ausreisepflichtige

Auf welche asylrechtlichen relevanten Zahlen trifft das geplante Rückführungsverbesserungsgesetz? Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge lag im Jahr 2023 (Januar bis September) die Gesamtschutzquote für Menschen aller Herkunftsländer bei 52 Prozent; die Ablehnungsquote von Asylanträgen demnach bei 48 Prozent (Ende September 2023 waren insgesamt 203.958 Asylverfahren anhängig; Tendenz gegenüber Vorjahr stark steigend). Die für die Einordnung des Gesetzesentwurfs relevante Zahl ist weiters die der Ausreisepflichtigen und der tatsächlich zwangsweise außer Landes gebrachten Personen:

  • Ende August 2023 wurden 155.448 abgelehnte Asylanträge Von diesen besitzen 135.984 Personen eine Duldung (d.h. vorübergehende Aussetzung der Abschiebung wegen humanitärer oder persönlicher Gründe).
  • 464 abgelehnte Asylbewerber*innen gelten als unmittelbar ausreisepflichtig.
  • Im ersten Halbjahr 2023 wurden insgesamt 7.861 Menschen aus Deutschland abgeschoben.
  • Hinsichtlich der Abschiebung von Straftäter*innen: Im Jahre 2017 dürften ca. 1.200 Strafgefangene mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit aus dem Gefängnis heraus abgeschoben worden sein. Da der Gesetzesentwurf insbesondere Straftäter*innen nennt, ist diese Zahl geeignet, den erwartbaren Umfang an möglichen zusätzlichen Abschiebungen zu einzuschätzen.

Nicht-Abschiebbarkeit

Zwischen der Zahl an Ausreisepflichtigen und tatsächlich ausgewiesenen Menschen liegt also eine erhebliche Diskrepanz. Der britische Migrationsforscher Matthew J. Gibney bezeichnet die numerische Differenz zwischen der Anzahl behördlich abschiebbarer Menschen und den tatsächlich durchgeführten Abschiebungen als deportation gap. Der Begriff benennt ein politisches Phänomen, das in liberalen Demokratien durch eine Reihe von rechtlichen, humanitären und pragmatischen Gründen bedingt ist. Wir sprechen in Hinblick auf diese Gründe von Nicht-Abschiebbarkeit von ausreisepflichtigen Personen.

An dieser Stelle ist zu betonen, dass Abschiebbarkeit selbst ein Resultat migrationspolitischer und aufenthaltsrechtlicher Kontrollpolitik ist. Rechtliche und administrative Maßnahmen, wie beispielsweise mehr Staaten als sicher zu erklären, macht mehr Menschen ausreisepflichtig. Im individuellen Fall können aber auch in als sicher deklarierten Staaten humanitäre Gründe vorliegen, die einer Abschiebung entgegenstehen. Deshalb überrascht es nicht, dass gerade in Zeiten intensivierter Abschieberhetorik das Phänomen der Nicht-Abschiebbarkeit stärker präsent ist.

Die Gründe für Nicht-Abschiebbarkeit sind vielfältig. So können Abschiebungen aus Deutschland unter Einhaltung der Menschenrechte, insbesondere des Non-Refoulement-Prinzips, nicht in Länder mit einem Risiko von schweren Menschenrechtsverletzungen abgeschoben werden. Die grundrechtliche Achtung der Familien- und Privatsphäre wie sie in der EMRK (Artikel 8) festgehalten ist, ebenso wie der physische Zustand der Person (z.B. aufgrund einer schweren Krankheit) sind weitere zwingende Gründe, Abschiebungen auszusetzen. Abschiebungen sind auch aufgrund realpolitischer Rahmenbedingungen und praktischer Barrieren im großen Stil nicht möglich. Eine der Hauptursachen ist, dass Ausreisepflichtige die Mitwirkung verweigern können ebenso wie Herkunftsstaaten nicht mit Deutschland bei der Ausstellung von Einreisezertifikaten zusammenarbeiten, um ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen. Kurzum, es fehlen einige Rückübernahmeabkommen mit den Herkunftsländern der Migrant*innen. Bei der Forderung nach mehr Rückübernahmeabkommen ist aber zu beachten, dass ausgerechnet mit jenen Ländern, aus denen die meisten Schutzsuchenden kommen, wie Afghanistan und Syrien, Rückführungsabkommen aufgrund der Gewaltherrschaft ohnehin nicht möglich sind.

Dieses Bündel an Faktoren der Nicht-Abschiebbarkeit wird am deportation gap vermutlich auch zukünftig nicht sehr viel ändern. Und dass die Durchsetzung von Abschiebungen bzw. Rückschiebungen letztlich nur um den Preis menschenrechtlicher Standards die politisch erwarteten Effekte bringt, zeigt das Beispiel Ungarn. Weshalb aber dennoch ein Rückführungsverbesserungsgesetz?

 

Performative Politik mit konkreten Konsequenzen

Abschiebungen haben, auch wenn sie in der Durchführung kostspielig sind, für Nationalstaaten eine immens hohe Symbolkraft. Nach dem Migrationsforscher Steven Castles ist die Anwesenheit von ausreisepflichten Personen eine Erinnerung daran, dass der Staat in der Grenzpolitik Handlungsfähigkeit vermissen lässt. Die durchgesetzte Ausreise steht folglich für die staatliche Souveränität und Autorität zu entscheiden, wer im eigenen Territorium leben darf.

Mit konsequenten polizeilichen Außerlandesbringungen verknüpfen Regierungen eine Reihe von – wissenschaftlich nicht bestätigten – konkreten Zielen und Erwartungen wie, dass potentielle Migrant*innen vom Weg ins EU-Territorium abgeschreckt werden könnten. Gleichzeitig richtet sich eine strenge Abschieberhetorik an die wählende Bevölkerung, dass Regierungen die Wahrung der nationalstaatlichen Souveränität über die Grenzen durch mehr ordnungspolitische Handlungen garantierten.

Das geplante Rückführungsverbesserungsgesetz geht der anstehenden GEAS Reform in der EU voraus und es ist im Kontext von Wahlergebnissen zu sehen. Die SPD hat bei den jüngsten Landtagswahlen in Hessen und Bayern schlecht abgeschnitten, während Parteien mit Forderungen, irreguläre Migration mit allen Mitteln zu verhindern, an Stimmen zugelegt haben. Mit dem geplanten Gesetz, mehr noch mit der Beschlusslage mit den Ländern (siehe oben) will der SPD-Teil der Bundesregierung versuchen, wieder Vertrauen in der Bevölkerung zu bekommen. Und gleichzeitig den föderalen und kommunalen Druck abbauen und der parlamentarischen Opposition nicht die Diskurshoheit über Problemlösungen im Feld der Migration und des Asyls überlassen.

Die diskursive und administrative Stärkung des Abschieberegimes hat aber auch handfeste Konsequenzen für die Migrationspolitik. Die repressiven Forderungen von rechter/rechtsextremer Seite gehen unvermindert weiter, Argumente der Humanität werden im politischen Raum leiser. Die „neue“ Fluchtpolitik trägt so zur rechtspopulistischen/rechtsextremen Diskurshoheit und damit zur Stärkung von migrationsablehnenden Stimmungen und Meinungen bei. Die politische Kritik von Seiten von NGOs und den Grünen, der Entwurf sei ein Weg in die rechte Sackgasse, ist insofern zutreffend als damit die Rhetorik des politischen rechten Randes gestärkt und in die politische Mitte verlagert wird – und zwar ohne dass durch diese Maßnahme, wie von der Bundesinnenministerin Faeser gerahmt, direkt eine Entlastung der Ausländerbehörden, der Kommunen und der Infrastrukturen erfolgen würde, ohne dass dadurch mehr Platz für weitere Schutzsuchende vor Krieg und Terror zur Verfügung stehen würde.

Die sozialdemokratische Abschiebungsrhetorik kann sich als Türöffner für eine grundsätzlich restriktivere Asyl- und Migrationspolitik erweisen. Das Instrument der Abschiebung bedient zwar die Vorstellungen der staatlichen Handlungsfähigkeit generell als auch jene zu Migrationssteuerung. Das geplante Gesetz läuft aber auf eine Erwartung hinaus, die ihrerseits wiederum Erwartungen an rasche Handlungserfolge nährt. In dieser gesteigerten Erwartungshaltung, trotz existierender Faktoren der Nicht-Abschiebbarkeit, könnte für die Regierungspolitik eine doppelte Falle liegen: Versagen in den Augen der Bevölkerung einerseits und Aushöhlung einer humanitären Politik für Migrant*innen andererseits.

Teilen Sie den Beitrag

Facebook
Twitter
LinkedIn
XING
Email
Print