(Im)Mobilität im Kontext von Gewalt – Stand der Forschung und wichtigste Forschungslücken

Es besteht ein erheblicher Wissensbedarf und ein großes Potential für innovative und praxisrelevante Forschung, welche Flucht und Vertreibung als Prozesse in den Mittelpunkt rückt und systematisch aus einer (Im)Mobilitätsperspektive untersucht. Dieser Beitrag, der auf einem Bericht im Projekt „Flucht. Forschung und Transfer“ beruht, fasst den Stand der internationalen Forschung zur (Im)Mobilität im Kontext von Gewalt kurz zusammen und benennt fünf bedeutende Forschungslücken.

Eine Flucht wird häufig als zielgerichtete und direkte Reise von einem Herkunftsland in ein Aufnahmeland beschrieben. Forschungserkenntnisse aus vielen Regionen der Welt zeigen allerdings, dass Flucht und Vertreibung keine linearen Prozesse sind. So werden viele Menschen im Kontext von Gewalt und Konflikten oft nicht nur einmal, sondern mehrmals vertrieben. So folgt eine grenzüberschreitende Flucht oftmals der Vertreibung innerhalb des eigenen Landes. Angesichts restriktiver Visabestimmungen und verstärkter Grenzsicherung sind Fluchtbewegungen in vielen Regionen zudem in zahlreiche Einzeletappen und Zwischenstationen unterteilt. Daher gehören lange Phasen des (erzwungenen) Stillstands an verschiedenen Orten unter prekären Lebensumständen oft auch zu den Fluchterfahrungen.

In einem im Kontext des Projektes Flucht: Forschung und Transfer verfassten Berichts stelle ich die Mobilität der Menschen auf der Flucht ins Zentrum. Der Bericht (Im)Mobilisierung und (Im)Mobilität von Schutzsuchenden fasst den Stand der internationalen Forschung zusammen und benennt bestehende Forschungslücken. Fünf Themenfelder stehen dabei im Mittelpunkt.

Flucht als Prozess

Die internationale Wissenschaft blickt mit gestiegenem Interesse auf den Prozess der Flucht – als räumliche Bewegung über Grenzen und als kollektive bzw. individuelle Erfahrung. Im englischsprachigen Raum haben sich für dieses sich herausbildende Forschungsfeld die Begriffe refugee journeys sowie migration journeys etabliert. Auch die Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland hat das Thema für sich eindeckt, wie eine wachsende Zahl an Projekten und Publikationen (unter Beteiligung) von WissenschaftlerInnen an deutschen Forschungseinrichtungen erkennen lässt. So sind den letzten Jahre umfassende und qualitativ hochwertige Publikationen zu Fluchterfahrungen und Fluchtwegen entstanden – u.a. zu Mobilität entlang der ‚turbulenten Ränder‘ Europas, zu Fluchtbewegungen zwischen Libyen, Malta und Italien, zum ‚langen Sommer der Migration‘, zu Lebens- und Fluchtverläufen im Globalen Süden oder zur Fluchtmobilität aus Eritrea. Auffallend ist jedoch, dass sich die Forschung in Deutschland den Debatten im englischsprachigen Raum zu refugee journeys nicht anschließt, sondern andere theoretische Bezüge herstellt, auch wenn sich kein bestimmter konzeptioneller Ansatz durchzusetzen scheint. Prinzipiell scheinen sich die meisten Studien eher im Bereich der Migrationsforschung zu verorten; dementsprechend nutzen sie auch das einschlägige Vokabular und Konzepte wie Migrationsentscheidungen, soziale Netzwerke und Transnationalismus oder Autonomie der Migration. Die konzeptionelle Auseinandersetzung zwischen letztgenannten Konzepten und der internationalen Forschung zu refugee journeys sollte intensiviert werden.

Mobilität im Kontext von Gewalt

Um der künstlichen Trennung der Debatten um Flucht und Migration und der politischen Figuren der ‚Flüchtlinge‘ und der ‚MigrantInnen‘ entgegenzuwirken, ist es ratsam, in Zukunft den Fokus verstärkt auf den allgemeineren Begriff der Mobilität im Kontext von Gewalt zu richten. Allerdings steht eine systematische Aufarbeitung des Zusammenhangs von Mobilität und Gewalt noch aus. Diese sollte sich auf aktuelle konzeptionelle Debatten in der Flucht- und Migrationsforschung sowie der Friedens- und Konfliktforschung stützen und ein komplexes Verständnis von Mobilitätsentscheidungen, -praktiken und -politiken sowie von den mit einer Flucht einhergehenden Praktiken, Erscheinungs- und Organisationsformen von organisierter Gewalt entwickeln. Erste Überlegungen zu diesem genuinen Kern von Flucht im Sinne von Gewaltmigration, unterschiedlichen Mobilitätsformen aus, durch und in Gewaltkonstellationen hinein und den Gewalterfahrungen von Flüchtlingen wurden zwar gemacht, dennoch besteht weiterhin ein großer Bedarf an und viel Potential für gezielte Forschung, übergeordnete Synthesen und Theoriebildung an dieser Schnittstelle.

Ökonomie der Flucht

Die Ökonomie der Flucht ist ein weiteres – in Deutschland – bislang zu stark vernachlässigtes Forschungsfeld. Sehr wenige WissenschaftlerInnen aus deutschen Forschungseinrichtungen beschäftigen sich mit den Logiken, Praktiken und Strukturen der sogenannten Migrationsindustrie und untersuchen, wie Schleuser, andere MobilitätsunternehmerInnen und auch SicherheitsunternehmerInnen mit Schutzsuchenden interagieren. Diese Erkenntnis ist insofern überraschend, als dass die Relevanz von Fluchtmobilität ermöglichenden Dienstleistungen (nicht nur für die Flucht nach Deutschland) empirisch unbestritten ist. Des Weiteren ist dieses Themenfeld angesichts der vielfältigen – oftmals nicht sehr effektiven – Versuche, Migration zu regulieren und Schleuser zu bekämpfen, von höchster politischer Bedeutung. Zudem entwickelt sich die internationale Forschung zu migrant smuggling derzeit höchst dynamisch, wie aktuelle Debatten (u.a. in ANNALs of the American Academy of Political and Social Science und Journal of Ethnic and Migration Studies) zeigen, allerdings ohne sichtbare deutsche Beteiligung. Eine tiefergehende konzeptionelle Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen der Migrationsindustrie und Flucht(im)mobilität wäre ebenso zu begrüßen wie die Initiierung von innovativen und interdisziplinären empirischen Forschungsprojekten – insbesondere auch außerhalb Europas.

Infrastrukturen der Flucht

Die Rolle von Informations- und Kommunikationstechnologien für Schutzsuchende für die Flucht und als Mittel der Aufrechterhaltung von Netzwerken und Pflege von Beziehungen in transnationalen sozialen Räumen findet in aktuellen Studien bereits eine breitere Aufmerksamkeit. Während die digitale Infrastruktur von Fluchtmobilität somit Beachtung findet, wird die grundlegende Bedeutung der physischen Infrastruktur wie Transportnetzwerke und deren Einfluss auf die Richtung, Geschwindigkeit, Kosten und Bedingungen der Mobilität von Schutzsuchenden in der deutschsprachigen Flucht- und Flüchtlingsforschung bislang so gut wie überhaupt nicht berücksichtigt – eine Untersuchung entlang der ‚Balkanroute‘ bildet hier eine Ausnahme. Es besteht nicht nur ein großer Erkenntnisbedarf, die Infrastrukturen von Flucht und weiter gefasst auch die grundlegende Materialität von Flucht in ihren unterschiedlichen Facetten zu untersuchen. Eine Forschung in diesem Themenfeld an der Schnittstelle von Flucht- und Flüchtlingsforschung, kritischer Migrationsforschung und mobility studies hat auch ein erhebliches Innovationspotential hinsichtlich Theorien und Methoden.

Immobilisierung und Immobilität

Das Interesse an der Immobilisierung und Immobilität von MigrantInnen und in jüngster Zeit explizit auch von Schutzsuchenden ist in der Forschung stark gestiegen. Dies geht zum einen mit der Erkenntnis einher, dass eine Flucht nur eine von mehreren Bewältigungs- und Anpassungsstrategien in Gewaltkonflikten darstellt, und dass nicht alle Verfolgten oder von Gewalt betroffenen Personen mobil sein und insbesondere nicht internationale Grenzen überwinden können. Zum anderen zeigt die Forschung zu fragmentierten Fluchtverläufen, dass Zeiten des Stillstandes, des Wartens und des unfreiwilligen Festgesetzt-Werdens ein wesentliches Element von Fluchterfahrungen sind, und dass diese Immobilität oftmals ebenso durch Gewalt geprägt ist wie die Mobilität. Nicht zuletzt zeigen aktuelle politische Entwicklungen, dass die Immobilisierung von Schutzsuchenden und ‚unerwünschten‘ MigrantInnen zu einem zentralen Ziel von Migrations(verhinderungs)politik geworden ist und der Flüchtlingsschutz dabei nur eine untergeordnete Rolle spielt. Und wenn Mobilität nicht ganz verhindert werden kann, so soll sie doch verlangsamt werden, z.B. durch ‚Hot Spots‘ an den EU-Außengrenzen, und immer stärker kontrolliert werden. Dennoch fehlt es an umfassenden Studien, welche über die empirische Beobachtung einzelner Immobilitätserfahrungen in Flüchtlingslagern und ‚Transit‘-Räumen und die Konzeptualisierung des Wartens oder Festgesetzt-Seins hinausgehen. Die Formen, Politiken und Auswirkungen von Immobilisierung und Immobilität sind im Kontext von Gewalt, Flucht und Vertreibung systematisch und vergleichend zu untersuchen.

Fazit

Sowohl Wissenschaft als auch Politik sprechen sich für eine Vertiefung der Forschung und Verbesserung der Datenlage zur räumlichen Mobilisierung in Gewaltkonflikten, zu den Bedingungen und Wegen von (Flucht)Mobilität und zu den Erfahrungen von Menschen auf der Flucht aus. Jüngst kam ein gestiegenes Interesse an den Mechanismen, Erfahrungen und Praktiken von Immobilisierung und Immobilität hinzu. Im Bericht lege ich ausführlich dar, dass wissenschaftliche Studien versuchen diesem Erkenntnisbedarf gerecht zu werden und bereits eine große Bandbreite an Themen und Regionen abdecken, unterschiedliche Untersuchungsgruppen in den Blick nehmen und ein diverses Set an Konzepten und empirischen Forschungsmethoden nutzen. Die internationale Forschung zur (Im)Mobilisierung und (Im)Mobilität von Schutzsuchenden ist weitestgehend gut aufgestellt. Die Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland hinkt den internationalen Trends in diesem Themenfeld allerdings hinterher und es verbleiben substantielle Forschungslücken.

Das bedeutet allerdings auch, dass – gerade in Deutschland – ein großes Potential für eine exzellente, innovative und praxisrelevante Forschung besteht, welche Flucht und Vertreibung als Prozesse in den Mittelpunkt rückt und systematisch aus einer (Im)Mobilitätsperspektive untersucht. Des Weiteren bin ich überzeugt, dass eine kritische, selbstreflexive und partizipative Forschung zu (Im)Mobilisierung und (Im)Mobilität auch dazu beitragen kann, den Alltagserfahrungen und Perspektiven von Schutzsuchenden im öffentlichen und politischen Diskurs mehr Gehör zu verschaffen.

Literaturhinweis:
Etzold, Benjamin (2019). Auf der Flucht – Auf der Flucht: (Im)Mobilisierung und (Im)Mobilität von Schutzsuchenden. Flucht: Forschung und Transfer (State-of-Research Papier No. 04). Osnabrück, Bonn. Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) / Bonn International Center for Conversion (BICC).

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