Informiert in die Debatten: Der „Report Globale Flucht“ bietet Hintergrundwissen zum weltweiten Fluchtgeschehen

Ist die Einigung auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ein Erfolg oder ein Desaster? Weshalb ist die Situation an der US-mexikanischen Grenze so alarmierend? Und was sind eigentlich Pushbacks? Pünktlich zum Weltflüchtlingstag nimmt der Report Globale Flucht Fragen aus den Debatten um Flucht und Geflüchtete auf, um mehr wissenschaftlich fundierte Substanz in die gesellschaftlichen und politischen Diskussionen um Flucht und Geflüchtete zu bringen. Dabei weitet der Report den Blick auch für in der öffentlichen Aufmerksamkeit vernachlässigten Fluchtsituationen in verschiedenen Teilen der Welt, ergänzt durch künstlerische Perspektiven. Im Folgenden soll die aktuelle Ausgabe der Reihe vorgestellt werden.

 

Ob Bezahlkarte, die Einrichtung von Grenzlagern, oder der Ruf nach mehr und schnelleren Abschiebungen: Die fluchtbezogenen gesellschaftlichen Debatten und politischen Entscheidungen der letzten Monate haben in Teilen der Flucht- und Migrationsforschung den frustrierenden Eindruck eigener Wirkungs- und Bedeutungslosigkeit hinterlassen. Wozu, so die nicht unberechtigte Frage, wurde seit 2016 eine große Zahl von kleineren Projekten und größeren Verbünden mit staatlichen Mitteln gefördert, um mehr über die Ursachen, Mechanismen und Auswirkungen von Flucht auf Geflüchtete und die sie aufnehmenden Gesellschaften zu erfahren, wenn das dort generierte Wissen letztlich offenbar kaum Einfluss auf politische Entscheidungen hat? Wozu weiter dazu forschen, welche Rolle etwa reale Lebensbedingungen im Zielland für Migrationsentscheidungen spielen, wie sich die prekäre Situation in Grenzlagern auf Familien auswirkt, oder wie gelingender Unterricht in Schulklassen mit Kindern mit Fluchterfahrung gestaltet werden kann, wenn das fluchtpolitische Pendel in Richtung Externalisierung, Ausgrenzung und Abschiebung schwingt?

An mangelndem Wissenstransfer zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft, oft vermittelt über etablierte Medien, kann es allein nicht liegen. Flucht- und Migrationsforscher:innen publizieren in überregionalen Printmedien, treten in Talkshows auf und werden in den Hauptnachrichtensendungen interviewt. Und sie intervenieren vielfach in häufig überspitzte Debatten auf Twitter/X und Co. Sie sind im Gespräch mit Parteien, Verbänden, Initiativen, Bildungseinrichtungen und natürlich auch im privaten Alltag: Auf der Straße und im Familien- und Bekanntenkreis. Auch verweisen Politiker:innen zur Rechtfertigung ihrer Positionen häufig auf von Wissenschaftler:innen öffentlich vertretene Positionen – wenngleich diese nicht unbedingt immer mit eigener Forschungsexpertise hinterlegt oder in der Fluchtforschung mehrheitsfähig sind. Zugleich häufen sich auch bei Fluchtforscher:innen Medienanfragen zu aktuellen fluchtpolitischen Debatten.

Allerdings sind die Logiken und Mechanismen von Politik und medialen Debatten in der Regel andere als in der Wissenschaft und folgen nicht immer dem Zwang des besseren Arguments. Sie müssen unterschiedliche Interessen abwägen und orientieren sich an Aufmerksamkeitsmechanismen, die die abgewogene, rein sachliche Argumentation an den Rand drängen. Dabei ist das Interesse an Expertise ungebrochen hoch; insbesondere dann, wenn sie ebenso wissenschaftlich fundiert, wie allgemein verständlich vermittelt wird, über ad-hoc Reaktionen hinausgeht und Zusammenhänge aufzeigt, die in den tagesaktuellen Aufgeregtheiten untergehen. Der Fluchtforschungsblog legt hierzu regelmäßig die Reihe „Fluchtforschung gegen Mythen“ auf.

Der Report Globale Flucht, der seit vergangenem Jahr im Auftrag des BMBF-geförderten Projekts Flucht- und Flüchtlingsforschung: Vernetzung und Transfer (FFVT) jährlich erscheint, hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen Teil dieses nachgefragten Wissenstransfers zu leisten. Auf eine breite interessierte Leser:innenschaft aus Zivilgesellschaft, Behörden, Medien und Politik ausgerichtet, sollen über einen renommierten Publikumsverlag forschungsbasierte Einblicke in unterschiedliche Themen, Dimensionen und Zusammenhänge aus verschiedenen Perspektiven und Disziplinen ermöglicht werden.

Rechtzeitig zum Weltflüchtlingstag ist nun die neue Ausgabe des Reports Globale Flucht erschienen. In den insgesamt 25 Beiträgen tragen 37 Autor:innen aus Wissenschaft, Kunst, Literatur, Politik und Aktivismus Einsichten, Interpretationen und Hintergründe zu unterschiedlichen Aspekten des globalen Fluchtgeschehens zusammen – wobei ein Schwerpunkt, der primären Zielgruppe geschuldet, auf deutschen und europäischen Perspektiven liegt. Ähnlich wie der Fluchtforschungsblog, die Zeitschrift für Fluchtforschung oder zuletzt das Handbuch Flucht- und Flüchtlingsforschung versteht sich der Report Globale Flucht auch als Schaufenster in die Fluchtforschung: Er will Einblicke in die Vielfalt der wissenschaftlichen (und hier auch künstlerischen) Auseinandersetzungen mit dem Thema geben.

Schwerpunkt der 2024er-Ausgabe ist die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Dabei zeigt Petra Bendel weshalb die vor der Europawahl erzielte, als asylpolitischer Durchbruch gefeierte Einigung von Kommission, Rat und Parlament inhaltlich eher ein Desaster ist. Aus institutioneller Sicht ordnet die Europaabgeordnete Tineke Strik im Interview mit Franck Düvell die Reform ein.

In der Rubrik „Grenzen“ ordnet Ludger Pries die katastrophale Situation an der US-mexikanischen Grenze in die unterschiedlichen Konjunkturen US-amerikanischer Grenzpolitik ein und argumentiert dafür, diese Migrationsbewegungen als erzwungene Migration zu analysieren. Zudem wird das Thema Grenze in unterschiedlichen künstlerischen Bearbeitungen vorgestellt: Khaled Barakeh verarbeitet seine gesammelten Visastempel als „Self Portrait as a Power Structure“ und Hussein Mohammadi erinnert sich in Form von Tagebuchnotizen an seine Versuche, über die türkisch-griechische Grenze zu gelangen. In „Stand des Flüchtlingsschutzes“ analysiert Martin Lemberg-Pedersen die gegenwärtigen Externalisierungsbestrebungen europäischer Staaten, während Olaf Bernau auf die Auswirkungen der Externalisierung im regionalen Mobilitätsregime des Niger blickt. Benjamin Etzold und Anas Ansar fragen, wie die langanhaltende Vertreibungskrise der Rohingya gelöst werden kann, Franck Düvell befragt Yonous Mohammadi zur Situation von Geflüchteten in Griechenland und Bernd Kasparek erklärt, was genau unter Pushbacks verstanden wird.

Was beziehungsweise wer konkret gemeint ist, wenn von Flucht und Geflüchteten die Rede ist, erläutert Karin Scherschel im Gespräch mit Andreas Pott und Marcel Berlinghoff. Die gezielte Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten zeichnet Berlinghoff auch anhand eines folgenreichen Leitartikels in der Wochenzeitung Die Zeit vom Juli 1979 nach und ordnet die damaligen und heutigen Debatten ein. Ebenfalls aus historischer Perspektive schaut Jochen Oltmer auf die (Nicht-)Aufnahme von vor den jugoslawischen Bürgerkriegen Geflüchteten in den 1990er Jahren. Im Gespräch mit Laura Lotte Lemmer erläutert der bereits als Kind aus Bulgarien über Jugoslawien geflohene Ilja Trojanow, warum die meisten aktuellen Debatten nichts mit der Realität der Migration zu tun haben.

Weitere Perspektiven des globalen Fluchtgeschehens gewähren Carolien Jacobs anhand von Binnengeflüchteten in der Demokratischen Republik Kongo; Nader Talebi und Aryasp Delvarani zu den unterschiedlichen Bedeutungen von Flucht und Migration in, durch und aus dem Iran; Eray Canlar und Başak Kale blicken auf die Türkei, während Franck Düvell die Flucht in und aus der Ukraine behandelt. Über die dabei zu beobachtenden Pendelbewegungen sprechen Oxana Matiychuk und Bettina Bannasch.

Inwieweit die vermehrt seit letztem Sommer zu hörende Klage über die Überforderung der Kommunen bei der Aufnahme von Geflüchteten den realen Erfahrungen entspricht, untersuchen Hannes Schammann, Sybille Münch und Thorsten Schlee am Beispiel der deutschen Ausländerbehörden. Einen Abgleich von Anspruch und Wirklichkeit einer nachhaltigen Rückkehrförderung nehmen Tatjana Baraulina und Christian Kothe vor. Die Unterstützung ukrainischer Geflüchteter im Zeitverlauf ist ebenso Gegenstand einer Analyse des DeZIM-Panels von Jörg Dollmann, Jannes Jacobsen und Sabrina J. Mayers wie eines Gesprächs von Christine Lang mit Nataliya Pryhornytska. Eine Chronik zentraler Ereignisse aus dem Themenfeld Flucht von Februar 2023 bis Februar 2024 stellt Dominic Sauerbrey zusammen.

Im aktuellen Band des Reports werden, losgelöst von aufgeregten tagesaktuellen Debatten, wissenschaftlich basiert und reflektiert Hintergründe und Zusammenhänge des globalen Fluchtgeschehens vorgestellt, die der polarisierten und dabei stark vereinfachenden öffentlichen Debatte einen leicht zugänglichen Bestand an fundierten Informationen entgegensetzen. Durch die 2023 begonnene Reihe wird in den kommenden Jahren ein breiter Wissensfundus über Fluchtereignisse, Debatten und Auswirken entstehen, der eine Einordnung jeweils aktueller Kontroversen ermöglicht und Politiker:innen, Journalist:innen, und Zivilgesellschaft eine Argumentation mit wissenschaftlich abgesichertem Wissen ermöglicht. Das mag dazu beitragen, populistische Schnellschüsse in der Asylpolitik entgegenzutreten und die fluchtpolitischen Debatten eine sachlich fundierte Richtung zu geben.

 

Report Globale Flucht 2024, hg. von Jochen Oltmer, Marcel Berlinghoff, Franck Düvell, Christine Lang und Andreas Pott, Fischer: Frankfurt/Main, 289 S., ISBN: 978-3-596-71069-0.

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