Vor rund siebzig Jahren lebten tausende Europäerinnen und Europäer in afrikanischen Flüchtlingslagern. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über diese Fluchtbewegungen und erzähle vor allem die Geschichte von zwanzigtausend polnischen Flüchtlingen, die ein wenig komplizierter ist als erwartet. Dabei zeigt sich nicht nur, dass sich Fluchtrichtungen ändern, sondern auch, dass unterschiedliche Flüchtlinge schon immer unterschiedlich behandelt wurden.
Eine kleine Bahnstation mitten im südlichen Uganda, nahe dem Viktoria-See. Eine Gruppe Flüchtlinge ist angekommen und wartet auf Lastwagen, die sie zu ihrem Flüchtlingslager bringen sollen. Sie haben eine lange Reise voller Entbehrungen hinter sich, Jahre der Not und Verzweiflung, seit sie aus ihren Heimatorten verschleppt wurden. Unterwegs sahen sie Freunde und Angehörige an Krankheiten und Hunger sterben. Sie fuhren in überfüllten Zügen und Booten, schliefen in Wäldern und an Bahnstationen. Jetzt sind sie endlich in Sicherheit, werden medizinisch versorgt und erhalten ausreichend Nahrung. Unter den Menschen in der Gegend hat sich schon herumgesprochen, dass Flüchtlinge ankommen. Vor allem die Kinder sind neugierig und trauen sich an die Fremden heran. Eines der Kinder wird sich noch Jahrzehnte später an diese Begegnung erinnern, vor allem an das süße Brot, welches die polnischen Flüchtlinge ihm schenkten.
Bei einem Forschungsaufenthalt in Uganda 2015, erzählte mir ein Freund von Professor Lwanga-Lunyiigo diese Anekdote, als ich ihn nach den polnischen Flüchtlingen fragte. Sie lebten hier von 1942 bis 1951. Wie aber kamen polnische Flüchtlinge nach Uganda? Und wieso beschenkten die Flüchtlinge die ansässige Bevölkerung und nicht anders herum?
“But we might recall, that it was not always so; Europe, not Africa or Asia, was once the continent of most of the world’s homeless.” (Marrus: The Unwanted, 4)
Europäische Flüchtlinge in Afrika
Wenn heute von der historischen Herausforderung durch die „Flüchtlingskrise“ in Europa die Rede ist, stehen der Zweite Weltkrieg und seine Folgejahre häufig als Referenzpunkt Pate (z.B. UNHCR, AI). Vergleiche beziehen sich zumeist auf die weitreichenden innereuropäischen Fluchtbewegungen, Vertreibungen und Deportationen. Doch Menschen aus Europa flohen auch nach Afrika.
Stefanie Zweigs Aufenthalt in Kenia ist durch ihren Bestseller Nirgendwo in Afrika wahrscheinlich der Bekannteste. Neben ihr flohen Tausende europäische Jüdinnen und Juden vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach Südafrika, Algerien oder Marokko. Viele andere standen jedoch nicht nur in westlichen Ländern vor verschlossenen Türen, sondern auch in deren afrikanischen Kolonien. In Nord-Rhodesien sprachen sich antisemitische weiße Siedler 1938 energisch gegen Pläne zur Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus.
Darüber hinaus lebten einige tausend griechische Flüchtlinge in Lagern in Belgisch-Kongo und Ägypten (und übrigens auch in Syrien). Und während mehr als eine Million koloniale Soldaten aus Afrika gegen die Achsenmächte kämpften, befanden sich hunderttausende Italiener und Deutsche in Afrika – als zivile Internierte oder Kriegsgefangene. Doch waren sie nicht die einzigen, die zur Zeit des Krieges auf dem friedlicheren Kontinent im Süden waren.
Deportation
Die eingangs erwähnten Flüchtlinge waren Teil einer viel größeren Gruppe, deren Weg 1940 in Polen begann. Sie flohen jedoch nicht vor den Deutschen, sondern wurden von der sowjetischen Geheimpolizei, eingesperrt in Viehwaggons, in die Arbeitslager und „Spezial-Siedlungen“ des Gulag verschleppt. Die Deportationen betrafen hunderttausende Menschen aus Polen und dienten dem sowjetischen Machterhalt und der Zerstörung möglichen polnischen Widerstands im östlichen Landesteil (s. hierzu Sword). In den Lagern kämpften sie gegen Hunger, Krankheit und Kälte, bis 1941 der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion eine unerwartete Wende brachte.
Die polnische Exilregierung in London und die sowjetische Regierung schlossen – unter britischer Vermittlung – das Sikorski-Maiski-Abkommen. Dieses beinhaltete die Freilassung aller Polen aus sowjetischer Gefangenschaft, damit sie eine Armee auf Seiten der bedrängten Alliierten bilden konnten. Diese Armee wurde schließlich im Iran aufgestellt und sie kämpfte unter britischem Kommando in Nordafrika und Italien gegen die Deutschen.
Doch mit den Soldaten kamen auch Frauen, Kinder und Alte und diese saßen nach ihrer überstürzten Flucht aus der Sowjetunion in iranischen Transitlagern fest. Um die Motivation der polnischen Soldaten aufrechtzuerhalten, musste die britische Regierung deren Angehörige versorgen und in Sicherheit bringen. Da der Iran jedoch zu nah am Kriegsgeschehen war und einen wichtigen Transportkorridor der Alliierten darstellte, wurden andere Orte für die polnischen Zivilisten gesucht.
Polnische Flüchtlingslager in Afrika
Schließlich fanden rund 19 000 von ihnen Unterkunft in den britischen Kolonien im östlichen und südlichen Afrika (Bildergalerien hier und hier). Die meisten kamen 1942 nach Tanganyika (heute Tansania) und Uganda, weitere wurden in Nord-Rhodesien (heute Sambia), Süd-Rhodesien (heute Simbabwe) und Kenia untergebracht. Südafrika nahm lediglich 500 Kinder auf (andere fanden im Nahen Osten, Indien, Mexiko oder Neuseeland Zuflucht).
Die polnischen Flüchtlinge lebten für die nächsten Jahre in über zwanzig weit verstreuten Flüchtlingslagern, deren Größe von wenigen hundert bis zu viertausend Bewohnern reichten. Das Leben in den Lagern war größtenteils isoliert von der restlichen Gesellschaft und die interne Verwaltung lag in der Hand von in Nairobi ansässigen Vertretern der polnischen Exilregierung. Die Kolonialregierungen stellten jeweils den Kommandanten des Lagers und versuchten die Interaktion der polnischen Flüchtlinge, vor allem mit der afrikanischen Bevölkerung, zu kontrollieren. Eine Integration der Flüchtlinge lag weder im Interesse der polnischen noch der britischen Obrigkeit. Die Kolonialregierungen wollten die Flüchtlinge nur für die Dauer des Kriegs beherbergen und die polnischen Vertreter taten alles dafür, ihre polnische Nationalidentität zu stärken, etwa durch polnische Schulen, Kirchen, Feiertage, Volkstanz- und Pfadfindergruppen.
Doch wie bei anderen Flüchtlingslagern auch war die Isolation nie vollständig. Vor allem die polnischen Jugendlichen gingen ihre eigenen Wege, lernten von ihren afrikanischen Nachbarn Kiswahili, gingen zum Hahnenkampf und schlossen Freundschaften. Neben den afrikanischen Arbeiter und Wächtern kamen viele Bäuerinnen und Bauern in die Lager und verkauften Obst, Gemüse oder Eier. Ein polnischer Flüchtling betrieb eine ertragreiche illegale Schnapsbrennerei. Einige der alleinstehenden Frauen begannen Beziehungen mit britischen, italienischen, indischen oder ostafrikanischen Männern. Die polnischen und britischen Beamten beobachteten diese Interaktionen mit Argwohn und versuchten sie möglichst zu verhindern.
Rückkehr wohin?
Wie so häufig bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen wollten die Regierungen sie nur für die Dauer des Krieges aufnehmen. Doch die Flüchtlinge steckten nach dem Krieg in einem Dilemma: Die neue polnische Regierung war nicht mit der Exilregierung in London verbunden, sondern mit der sowjetischen Führung in Moskau. Die meisten der polnischen Flüchtlinge in Afrika weigerten sich nachdrücklich in ein Land zurückzukehren, das kommunistisch regiert wurde. Darüber hinaus kamen fast alle aus dem östlichen Polen. Ihre Heimatorte waren nun aufgrund der Westverschiebung Polens Teil der Sowjetunion, was eine Rückkehr unmöglich machte.
Eine polnische Repatriierungsmission der UNRRA kam 1946 in die Flüchtlingslager, um für die freiwillige Rückkehr zu werben. Ihr Empfang war allerdings alles andere als herzlich: Einige der Flüchtlinge machten sehr energisch darauf aufmerksam, dass sie nicht in den sowjetischen Einflussbereich zurückwollten. In einem Lager verkleideten sie sich als Häftlinge in Arbeitslagern, um deutlich zu machen, was sie mit der Sowjetunion assoziierten. Andere bewarfen die Delegation mit Tomaten und die britische Verwaltung sorgte sich ernsthaft um ihre Sicherheit. Insgesamt kehrten nur rund 3000 Flüchtlinge freiwillige nach Polen zurück.
Warum polnische Flüchtlinge nicht in Afrika bleiben durften
Die polnischen Flüchtlinge befanden sich in einer ähnlichen Situation wie heutige Flüchtlinge in protracted refugee situations: Sie hatten keinen Ort, an den sie zurückkehren konnten. Aussicht auf dauerhafte lokale Ansiedlung und Integration gab es ebenfalls nicht.
Mitte 1946 schlug Major Bagshawe, ein Polen-freundlicher Kolonialbeamter in Süd-Rhodesien, vor, eine Agrarsiedlung für 400 polnische Familien zu gründen. Sie sollten kleine Landparzellen, einen Pflug und einen Ochsen erhalten. Bagshawe räumte ein, dass sie wahrscheinlich nicht nach „europäischen Standards“ leben könnten, doch sei es allemal besser als in den Lagern. Die politischen Vertreter der polnischen Flüchtlinge begrüßten die Vorschläge als den Anfang größerer Ansiedlungspläne. Allerdings machten die kolonialen Regierungen umgehend deutlich, dass dies nicht in ihrem Interesse war. Auch gegenüber der Londoner Zentralregierung unterstrichen sie, dass sie keinesfalls größere Gruppen von Polinnen und Polen dauerhaft aufnehmen würden.
Der Grund für diese Ablehnung war neben der generellen Diskriminierung aller nicht-britischen Immigranten, vermutlich die Angst vor der Entstehung einer weißen Unterschicht. Arme Weiße gefährdeten das sorgsam konstruierte Bild einer überlegenen weißen „Rasse“ und damit eine der Säulen kolonialer Herrschaft. Gerade im Angesicht der erstarkenden afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen kam dieses Gesellschaftsmodell immer stärker unter Beschuss. Doch die sogenannten „poor whites“ waren schon in früheren Zeiten ein Grund zur Sorge kolonialer Regierungen. Sie begegneten dieser weißen Unterschicht mit einer Mischung aus Fürsorge, Isolation und möglichst schneller Entfernung. Ganz ähnlich war der Umgang mit den polnischen Flüchtlingen: Sie erhielten recht großzügig Unterstützung, wurden in abgelegenen Lagern untergebracht und sollten so schnell wie möglich wieder ausreisen.
Dies führt uns auch zurück zur anfänglichen Szene an der ugandischen Bahnstation. Die Flüchtlinge waren unterwegs in ihr Lager, das abgeschirmt auf einer Halbinsel lag. Und sie gaben den Kindern süßes Brot – Brot, welches sie durch die Kolonialregierungen erhalten hatten. Auch wenn sie weit entfernt vom Luxus der britischen Siedlerschicht lebten, so waren sie doch aufgrund ihrer augenscheinlichen Zugehörigkeit zur weißen „Rasse“ privilegiert. Sie mussten die afrikanischen Nachbaren nicht anbetteln, sondern im Gegenteil bauten afrikanische Arbeiter ihre Häuser, hackten ihr Holz und reinigten ihre Toiletten. Ihre kumulative Kaufkraft führte zu inflationären Preissteigerungen im Norden Tanganyikas. Den direkten Vergleich zu ihren Leidensgenossen in Europa zog ein kanadischer Vertreter der International Refugee Organisation (IRO). Er war überrascht, wie viel besser es die polnischen Flüchtlinge in Afrika im Vergleich zu Displaced Persons in deutschen Lagern hatten.
Das Schicksal der Flüchtlinge war eng mit der polnischen Armee verknüpft. Als die polnischen ex-Soldaten 1947 schließlich in Großbritannien akzeptiert wurden, durften ihre Angehörigen aus den afrikanischen Lagern nachreisen. Doch nicht alle Flüchtlinge waren direkt mit Armeeangehörigen verwandt und so kamen schließlich knapp zwei Drittel von ihnen nach Großbritannien. Der Rest bemühte sich um Aufnahme in eins der Umsiedlungsprogramme der IRO und gelangte so nach Kanada oder Australien. Andere nutzten Kontakte in der weltweiten polnischen Diaspora um individuell an Visa zu gelangen. Rund tausend durften sich in den afrikanischen Kolonien niederlassen.
Nicht so lange her…
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass sich Fluchtrichtungen ändern. Die sicheren Zufluchtsorte von heute sind die Kriegsgebiete von gestern. Und so kann sich dies zukünftig auch wieder ändern. Die Genfer Flüchtlingskonvention entstand aus den Erfahrungen der europäischen Fluchtbewegungen und wurde erst mit dem Protokoll 1967 universell gültig. Ihre selektive Durchsetzung zeigt, dass der Anspruch der Flüchtlingskonvention leider nie uneingeschränkt umgesetzt wurde. Unterschiedliche Flüchtlinge wurden schon immer unterschiedlich behandelt und „Rasse“ war dabei häufig eine wichtige soziale Kategorie der Unterscheidung. Hoffentlich nicht mehr lange.
Nicht näher belegte Aussagen in diesem Beitrag beruhen auf Archivrecherchen in London, Dar es Salaam und Nairobi sowie Interviews in Uganda und Tansania im Rahmen meines Dissertationsprojekts. Einen guten Überblick zu den polnischen Deportationen gibt Piotrowski in seiner Sammlung von Zeitzeugen-Erzählungen.
Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe Flucht und Vertreibung in Afrika des Arbeitskreises Afrika des Netzwerks Flüchtlingsforschung.