Schutz von Afghan:innen auf verschiedenen politischen Ebenen

Eine Blogserie mit konkreten Handlungsempfehlungen

Von Petra Bendel, Johanna Günther, Raphaela Schweiger und Janina Stürner-Siovitz

 

Angesichts allgemeiner Betroffenheit, offener Ratlosigkeit und inkonsistenter Politikansätze zu den aktuellen Entwicklungen in Afghanistan unternimmt die Beitragsserie „Schutz von Afghan:innen auf verschiedenen politischen Ebenen” den Versuch, konkrete Handlungsempfehlungen für unterschiedliche politische Ebenen zusammenzufassen: die internationale, die europäische, die bundesrepublikanische Ebene und die der deutschen Länder und Kommunen. Dabei steht das Plädoyer im Vordergrund, kohärente, transparente und kooperative Ansätze in der Flüchtlings- und Migrationspolitik zu finden, die den Schutz von Menschenleben in den Fokus nehmen und ein schnelles Handeln ermöglichen. Deutschland kann – sowohl international als auch in Europa – eine Vorreiterrolle einnehmen, wenn die Bundesregierung sich jetzt entschließt, humanitäre Erwägungsgründe zu priorisieren und diese geschlossen zu vertreten. 

 

In den vergangenen Wochen verfolgte die Welt voller Entsetzen die rasante Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Die Einnahme Kabuls löste Betroffenheit seitens der internationalen Gemeinschaft aus – mehr noch: Ratlosigkeit.

Schnell zeichnete sich ab, dass schon das Ausfliegen europäischer und amerikanischer Einsatzkräfte zur Mammutaufgabe wurde. Die chaotische Evakuierung afghanischer Ortskräfte, die über Jahre unterschiedliche Armeen und insbesondere auch deutsche Ministerien sowie zivilgesellschaftliche Organisationen in ihrer Arbeit maßgeblich unterstützt hatten, wurde schließlich zum Sinnbild westlichen Versagens in Afghanistan.

Am 27. August endete die sogenannte „Luftbrücke” der deutschen Bundeswehr. Während ihrer Evakuierungsmission flog die Bundeswehr 5.347 Menschen aus 45 Ländern aus Afghanistan aus, darunter 4.400 Afghan:innen. Mehr als 10.000 Ausreisegesuche von Afghan:innen sind weiterhin beim Auswärtigen Amt registriert.

Für die kommenden Tage, Wochen und Monate stellt sich eine Vielzahl von Fragen für internationale, europäische und deutsche Entscheidungsträger:innen: Welchen Kurs wird die internationale Gemeinschaft, welchen die Europäische Union (EU) einschlagen? Hat der Globale Pakt für Flüchtlinge die in diesem Jahr 70 Jahre alte Genfer Flüchtlingskonvention zu neuem Leben erwecken können? Oder versagt die Staatengemeinschaft darin, Schutzsuchenden aus Afghanistan ihre völkerrechtlich verbrieften Rechte zu gewährleisten? Setzt die EU einseitig darauf, dass Flüchtlinge in den Ländern der Region aufgenommen und schlimmstenfalls zum politischen Spielball autoritärer Machthaber werden? Verlässt sie sich darauf, dass Fluchtrouten nach Europa immer gefährlicher und damit unattraktiver werden? Oder gelingt es den Mitgliedstaaten der EU endlich, eine effektive, ressourcengestützte, humanitäre Kooperation zwischen EU-Mitgliedstaaten und Aufnahmestaaten auf Basis von gruppenbezogenen Kriterien (Kontingenten) zu etablieren? Werden europäische Entscheidungsträger:innen die Ereignisse in Afghanistan und die Situation afghanischer Menschen zum Anlass nehmen, reguläre, sichere und gut organisierte Zugangswege auch nach Europa herzustellen – ein Weg, auf dem mittelfristig Geflüchtete Teil der Gesellschaften werden und zu sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung beitragen können?

Sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene wurden in den letzten Wochen Forderungen laut, die Situation der Jahre 2015 und 2016 dürfe sich nicht wiederholen: überlastete nationale Asylsysteme und mit der Aufnahme Geflüchteter überforderte Kommunen in diversen europäischen Ländern. Tatsächlich wird es angesichts der Situation in Afghanistan in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren für die internationale Gemeinschaft, für die Europäische Union und für Deutschland darum gehen, eine weitere politische Krise im Umgang mit Geflüchteten und Fluchtursachen zu vermeiden.

Es ist jedoch zu betonen, dass die Situation in Afghanistan und die nun fliehender Afghan:innen gänzlich anders gelagert ist als jene Situation, die in den Jahren 2015 und 2016 zur großen Fluchtzuwanderung nach Europa führte. Um nur einige Punkte zu nennen: Zum einen konnten Syrer:innen damals ihr Land verlassen. Afghan:innen gegenüber bleiben die eigenen Landesgrenzen weitestgehend verschlossen. Auch standen den damals Fliehenden die Fluchtrouten in Richtung Europa lange Zeit offen. Heute sind Grenzverstärkungen bereits vorgenommen, weitere in Planung. Laut Schätzungen des UNHCR sei mit bis zu 500.000 weiteren afghanischen Geflüchteten in den kommenden Monaten zu rechnen. Von den derzeit nahezu 2,5 Millionen registrierten afghanischen Geflüchteten befindet sich 2,2 Millionen in Pakistan und im Iran. Eine so umfangreiche Fluchtzuwanderung nach Europa wie vor sechs bzw. fünf Jahren ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten.

Dennoch werden der Umgang mit afghanischen Geflüchteten und die ihnen gegenüber gelebte Verantwortung entscheidend davon abhängen, welche Lehren die Akteur:innen auf internationaler Ebene, die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten aus der Fluchtzuwanderung der jüngsten Vergangenheit ziehen werden. Um eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik wird seit Jahren gerungen. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan könnte von europäischen Vorreiterstaaten, darunter Deutschland, zum dringenden Anlass genommen werden, einen neuen Vorstoß in Richtung einer gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik zu wagen.

In einer Serie von vier folgenden Blogbeiträgen formulieren wir politische Handlungsempfehlungen für Entscheidungsträger:innen auf verschiedenen Governance-Ebenen: (1) der internationalen Ebene, (2) der EU-Ebene, (3) der bundesrepublikanischen Ebene sowie (4) den Ebenen der Länder und Kommunen. Wir beleuchten jeweils kurz- und mittelfristige Perspektiven, wobei sich im Sinne kohärenter Ansätze auch Überschneidungsmöglichkeiten ergeben.

Ziel dieser Beitragsserie ist es, im Angesicht allgemeiner Betroffenheit, offener Ratlosigkeit und inkonsistenter Politikansätze erste Lösungswege aufzuzeigen und Vorschläge für den Umgang mit afghanischen Geflüchteten auf unterschiedlichen Ebenen zu unterbreiten.

 

Wir danken dem Team des Forschungsbereichs Migration, Flucht und Integration (MFI) der FAU Erlangen-Nürnberg für seine Unterstützung.

 

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