Zahlen, Daten – Fakten?

Teil 1: Was uns Statistiken über Asyl in Deutschland sagen, und was nicht.

Flüchtlingspolitik ist stark umstritten, doch wenigstens die Zahlen lügen nicht, oder? Staatliche Stellen beziehen sich ebenso wie NGOs auf Daten, um flüchtlingspolitische Forderungen zu untermauern. Dabei ist das Problem keinesfalls, dass Statistiken gefälscht sind, sondern wie sie interpretiert und für Argumente genutzt werden. Nicht immer ist es klar, wer eigentlich gezählt wird, was dargestellt wird und was die Bedeutung der Zahlen ist. Dabei spielen Daten, Zahlen und Statistiken eine zentrale Rolle in der Flüchtlingspolitik, für unser Verständnis der Situation und für die Formulierung von Gesetzen und Policies.

 

Im diesem ersten von drei Teilen stelle ich einigen Problemen im Umgang mit Asylzahlen in Deutschland dar. Sind die Zahlen tatsächlich so hoch, wie uns manche Statistiken glauben machen? Was sagen uns Trends? Und wer steckt eigentlich hinter den Zahlen? In späteren Beiträgen gehe ich auf europäische sowie globale Statistiken ein.

 

Zahlen über Asylanträge, Asylbewerber und Asylverfahren in Deutschland

Anfang diesen Jahres teilte das Bundesministerium des Innern (BMI) mit, dass 2014 202.834 Asylanträge gestellt worden seien. “Mit über 202.000 Asylanträgen haben wir im vergangenen Jahr die bislang vierthöchste Zahl von Asylbewerberzugängen erreicht, die je in Deutschland verzeichnet worden ist“, wird Innenminister Thomas de Maizière in der Mitteilung zitiert. Dies schien seine Prognose vom Mai 2014 zu bestätigen, in der er mit „rund 200.000 Asylbewerbern“ für das Kalenderjahr rechnete. Das BMI spricht von einem Anstieg von rund 60 Prozent im Vergleich zu 2013. Doch lag die Zahl an Asylbewerbern für 2013 nicht bei 109.580? Hätten sich die Zahlen zum Jahr 2013 somit nicht fast verdoppelt? Die Zeit mag insofern entschuldigt sein, wenn sie kürzlich etwas verwirrt berichtete (Hervorhebung eingefügt):

„Im vergangenen Jahr haben mehr als doppelt so viele Einwanderer in der Bundesrepublik einen Asylantrag eingereicht wie noch im Jahr zuvor. 2014 stellten insgesamt 202.834 Bewerber ihren Antrag auf Asyl, das sind etwa 60 Prozent mehr als im Vorjahr.“

Dass Missverständnis entsteht dadurch, dass sich das BMI auf die Gesamtzahl aller Asylanträge bezieht, die der Innenminister dann mit der Zahl an Asylbewerberzugängen bzw. an Asylbewerbern geleichsetzt. Doch entsprechen Antragszahlen nicht den Asylbewerberzahlen, und schon gar nicht Flüchtlingszahlen. Denn:

  • Zahlen der Asylanträge beziehen sich auf alle Anträge auf Asyl, einschließlich Folgeanträge von Asylbewerbern die bereits einen erfolglosen Antrag gestellt haben.
  • Zahlen zu Flüchtlinge beziehen sich auf jene, die bereits einen Asyl- oder Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen haben und damit keine Asylbewerber mehr sind.

Tatsächlich waren unter den 202.834 Asylanträgen 29.762 Folgeanträge, zum Beispiel aufgrund neuer Verfolgungsumstände der Antragsteller. Die Asylsuchenden, die solche Folgeanträge stellten, sind somit bereits mit ihren Erstanträgen in einem früheren oder vielleicht sogar im gleichen Jahr gezählt worden. Die Entwicklung von Folgeantragszahlen, die 2014 größer war (+70,6 %) als die der Erstanträge (+57,9 %), ist damit auch von der Bearbeitungszeit  der Erstanträge abhängig. Will man aber wissen, wie viele neue Asylbewerber einen Antrag gestellt haben, darf man nur die Erstanträge zählen.

 

Was sagen uns Trends und Vergleiche?

Tatsächlich trifft das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das dem BMI untersteht, seit 1995 genau diese Unterscheidung zwischen Erst- und Folgeanträgen. Die Einführung der Differenzierung fiel allerdings genau in eine Zeit, kurz nach dem Asylkompromiss von 1992/93, als ein Trend fallender Antragszahlen die Asylrechtsänderung im Grundgesetz retrospektiv rechtfertigte und ein Herausrechnen von Folgeanträgen opportun war. Interessanter Weise führte das BAMF dieses Jahr in seiner Graphik der Entwicklung der Asylantragszahlen erstmals wieder die Folgeanträge für die Jahre seit 1995 mit auf (die statistisch in den vergangenen Jahren berichtet aber graphisch nicht dargestellt wurden). So erscheint der jüngste Anstieg an Antragszahlen dramatischer. Die Einbeziehung der Folgeanträge ermöglicht aber auch den Vergleich mit den Zahlen vor 1995, was es de Mazière erlauben würde, 2014 als das Jahr mit der vierthöchsten Zahl an Asylanträgen (aber nicht an Asylbewerberzugängen) zu sprechen. Die Relevanz der Gesamtantragszahlen bleibt allerdings fraglich.

Wollen wir von historischen Trends und Vergleichen sprechen, stoßen wir zudem auf das Problem des Vergleichsrahmens: Welchen Zeitpunkt wählen wir aus, um die momentane Situation besser zu verstehen? Will man einen Anstieg an Asylbewerberzahlen betonen, setzt man am besten bei 2007 an, als Antragszahlen besonders niedrig waren (1). Möchte man argumentieren, dass die Zahlen schon mal viel höher waren, so zeigt man die Entwicklung der Zahlen seit 1994, dem Jahr mit dem Höchststand an Antragszahlen (2). Sieht man allerdings die Entwicklung an Antragszahlen seit 1953, so wird deutlich, dass die Anzahl an Asylsuchenden immer wieder zu- und auch wieder abnahm (3). Die nachstehende Grafik verdeutlicht dies.

(c) BAMF
(c) BAMF

Ein Anstieg ist dabei generell mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Beginn der Jugoslawienkriege zu konstatieren. Im Vergleich mit den Trends internationaler Flüchtlings- und Asylzahlen, die in der folgenden Graphik des UNHCRs dargestellt werden, wird jedoch eine Parallele in der Entwicklung deutlich: internationale Flüchtlingskrisen zogen zumeist auch einen Anstieg an Asylbewerberzahlen in Deutschland nach sich.

 

Zahlen und Daten: Aber über wen?

Interessant ist in dem Zusammenhang, wer in der Statistik des BAMF mitgezählt wird, und wer nicht. In den frühen Jahren stiegen Asylzahlen beispielsweise aufgrund des ungarischen Aufstands 1956, während des Prager Frühlings Ende der 1960er sowie um 1980 bei der Aufnahme vietnamesischer Flüchtlinge (wobei um 1980 auch andere Flüchtlingsgruppen zu dem Anstieg beitrugen). Tatsächlich stellten diese Gruppen von Kontingentflüchtlingen jedoch keinen Asylantrag sondern wurden als Flüchtlinge aus Drittstaaten aufgenommen. Aufgrund des Einwanderungsgesetzes von 2005  kommen vergleichbare Gruppen, die im Rahmen von Umsiedlungsprogrammen aufgenommen werden, nicht in der Asylstatistik vor. Dazu gehören beispielsweise irakische Flüchtlinge die 2009 nach Deutschland gebracht wurden, die syrischen Flüchtlinge des momentanen Humanitären Aufnahmeprogramms sowie Resettlementflüchtlinge.

(c) UNHCR
(c) UNHCR

 

Das Verständnis von Asyl und Flüchtlingen hat sich mit der Zeit verändert, insbesondere mit der Einführung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems, so dass die Interpretation der Asylzahlen heute eine ganz andere ist als noch vor einigen Jahrzehnten oder auch Jahren. Eine immer stärkere Differenzierung von Schutzprogrammen macht  auch eine stärkere Differenzierung bei den Asylzahlen nötig.

 

Vom Anfang und Ende der Asylverfahren – welcher Moment wird gezählt?

Statistiken über Asylbewerber sind also durchaus selektiv und mit Vorsicht zu genießen. Nichtsdestotrotz sind sie wichtig, um Entwicklungen in der Asylpolitik und im Schutzbedarf beurteilen zu können. Will man statistisch erfassen, wie viele Menschen im Jahr in Deutschland Asyl ersuchen, so macht dies aber nur Sinn, wenn die Erstantragszahlen betrachtet werden. Dies waren 2014 laut BAMF 173.072. Diese Erhebung kann beispielsweise für die Verteilung der Asylbewerber auf die Bundesländer und auf Gemeinden notwendig sein, wofür die Folgeanträge irrelevant sind. Vor Ort, wo Asylbewerber leben und gegebenenfalls versorgt werden müssen, ist es entscheidend, ob sich der gezählte Antrag auf eine tatsächlich neue Person bezieht oder auf eine schon dort lebende. Für das BAMF hingegen, das die Asylanträge bearbeitet, ist die Gesamtzahl der Anträge relevant, die den zusätzlichen Arbeitsaufwand für das Amt bestimmt.

Will man aber wissen, wie viele Asylbewerber zu einem bestimmten Zeitpunkt in Deutschland leben, so sind die Antragszahlen alleine nicht unbedingt hilfreich. Nicht nur der Beginn der Asylverfahren, die durch die gezählten Anträge eingeleitet werden, sondern auch deren Ende ist bedeutsam. Mit Abschluss des jeweiligen Asylverfahrens hört die Asylbewerberin auf Asylbewerberin zu sein. Somit ändert sich der Status der Antragstellerin und sie ist keine Asylbewerberin mehr sondern Flüchtling, Drittstaatsangehörige mit Abschiebeschutz (z.B. subsidärer Schutz) oder sogenannte Geduldete, oder sie wird unter Androhung von Abschiebung zur Ausreise angehalten. Ebenso wie die Zugangszahlen beeinflussen somit die Bearbeitungszeiten die Anzahl an in Deutschland lebenden Asylbewerbern. Im Durchschnitt dauerte 2014 ein behördliches Asylverfahren 7,1 Monate (7,5 bei Erstanträgen, 5,3 bei Folgeanträgen) und schwankte je nach Herkunftsland zwischen 3,6  (Albanien) und 15,7 Monaten (Pakistan). Die Asylantragszahlen sind also kumulative Zahlen für das gesamte Jahr, also die Summe aller Anträge, und nicht ein momentaner Stand an Asylanträgen. Die bessere Zahl, um die Anzahl der Asylbewerber in Deutschland festzustellen, mag daher die der anhängigen Verfahren sein, welche Ende 2014 bei 169.166 lag, wobei die Zahl auch Widerrufs- und Wiederaufnahmeverfahren umfasst (zusammen 17.454), in denen es nicht um Asylbewerber sondern zuvor entschiedene Fälle geht. In anderen Worten: Ende 2014 lebten 151.712 Asylbewerber in Deutschland.

Hier muss allerdings eine weitere Relativierung eingeschoben werden: Asylantrag und –verfahren führen nicht unbedingt zu einer Entscheidung über Flüchtlingsstatus und Verbleib in Deutschland. Aufgrund der Dublin-Verordnung, die die Zuständigkeit europäischer Staaten für Asylverfahren regelt, wurde in  21,1 % aller Entscheidungen ein anderes europäisches Land – durch Deutschland und das Aufnahmeland – als zuständig anerkannt. In einigen Fällen führte das BAMF das Asylverfahren dennoch durch, weil es das Verfahren an sich zog oder weil sich die Asylsuchenden durch Kirchenasyl oder anderweitig der Abschiebung entzogen. Doch etwa 3,7 % aller Antragsteller deren Verfahren entschieden wurde wurden im erwähnten Zeitraum für ihr Asylverfahren in ein anderes Land abgeschoben, und eine unbestimmte Zahl an von Dublin betroffenen Asylsuchenden entzieht sich den Verfahren gänzlich, womit deren Aufenthaltsstatus verloren geht. Der Einfluss des Dublin-Verfahrens auf die realen Asylzahlen in Deutschland, also auf die Zahl jener Verfahren, die zu einer Entscheidung führen, ist damit zwar nicht hoch aber doch relevant. Auf europäischer Ebene hingegen hat das Dublin-System eine stark verfälschende Wirkung auf die offiziellen Statistiken, die – wie wir im nächsten Teil sehen werden –  dadurch in ihrer Gesamtheit beachtlich verzerrt sind. Letztlich ist es aber nicht nur das Dublin-System, das zu einem vorzeitigen Ende des Verfahrens führen kann, sondern eine Reihe von Faktoren, wie der Rückzug des Antrags durch die Antragstellerin. 2014 endeten 35,2% aller Anträge mit einer solch formellen Entscheidung. Das heißt, bei über einem Drittel aller Asylanträge wurde ein Schutzbedarf gar nicht überprüft und über einen möglichen Asyl- oder Flüchtlingsstatus nicht entschieden.

 

Was bleibt von den Zahlen für die Flüchtlingspolitik?

Die Fragen, wie viele Menschen in Deutschland Asyl beantragen und wie viele Asylbewerber in Deutschland leben, sind nicht so einfach zu beantworten, wie uns Statistiken glauben machen. Mithin stellt sich aber auch die Frage der Relevanz dieser Zahlen überhaupt.  In 48,5% der durch das BAMF inhaltlich geprüften Fälle wurde 2014 ein Schutzstatus zuerkannt, darunter 39,8 % mit Asyl- oder Flüchtlingsstatus, und rund 10% der vom BAMF abgelehnten Asylbewerber, die gerichtlich Einspruch gegen die Entscheidung einlegten, erhielten einen Schutzstatus durch die Gerichte. Die Zuflucht, die Deutschland bieten kann, wird offensichtlich benötigt. Auch in den abgelehnten Fällen kann davon ausgegangen werden, dass die Antragsteller triftige Gründe hatten, ihr Herkunftsland, Freunde und Familie, ihr soziales und kulturelles Umfeld zu verlassen. Migration ist nie gänzlich freiwillig und lässt sich auch nicht auf so klar umrissene Gründe zurückführen, wie es Asylverfahren verlangen. Verfolgung und Armut liegen oft eng beieinander. Die Gründe, aufgrund derer Asylbewerber Schutz und Aufenthaltsstatus erhalten sollen, mögen politisch diskutabel sein und sie ändern sich auch mit der Zeit. Nur die Zahl der Asylbewerber sollte solch politische Entscheidungen nicht beeinflussen. Der Flüchtlingsschutz, den wir als demokratische Gemeinschaft gewähren, basiert auf politischen Prinzipien, wie Solidarität, Menschenrechten, Humanitarismus, Liberalismus – je nach Präferenz -, nach denen wir zusammenleben wollen und die wir utilitaristischen Berechnungen und Zahlenspielen nicht opfern dürfen. Steigende Asylantragszahlen sind letztlich ein Resultat weltweiter Krisen und Leids und eines wachsenden Bedarfs an unserer Hilfe. Anstatt zu hoffen, in Statistiken und Zahlen Klarheit über Asylpolitik zu finden, sollten wir die konkreten Erfahrungen von Vertreibung zu einer Grundlage unserer Flüchtlingspolitik machen, und die Situation von Asylbewerbern in Deutschland anstatt deren Anzahl in den Vordergrund stellen.

 

Links:

Offizielle Statistiken zu Asyl vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): http://www.bamf.de/DE/Infothek/Statistiken/Asylzahlen/asylzahlen-node.html

Ergänzende Informationen zur Asylstatistik werden quartalsmäßig durch Kleine Anfragen der Bundestagsfraktion Die Linke angefordert. Aktuelle Fragen und Antworten der Bundesregierung finden sich hier: http://www.linksfraktion.de/kleine-anfragen/ergaenzende-informationen-asylstatistik-jahr-2014/?rss

 

Photo and Image Credits:

(c) BAMF, Graphik basierend auf einem Diagramm des BAMF, Link

(c) UNHCR, Link

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