Derzeit gibt es an vielen Hochschulen Initiativen, um Flüchtlingen die Aufnahme oder Fortführung eines Studiums zu ermöglichen. Was aber, wenn die für einen Hochschulzugang notwendigen Bescheinigungen fehlen? Unsere Autoren der Norwegian Agency for Quality Assurance in Education (NOKUT) plädieren für ein europaweites Anerkennungsverfahren für die Qualifikation von Geflüchteten.
Wie in anderen Ländern Europas wird auch in deutschen Medien das Bildungsniveau der ankommenden Flüchtlinge diskutiert, unter anderem im Hinblick auf Fachkräftemangel am deutschen Arbeitsmarkt (FAZ, Die Zeit, FOCUS, Die Welt, Deutschlandfunk). Der Bildungsökonom Ludger Wößmann, Co-Autor des OECD Bildungsreports 2015, weist darauf hin, dass es nur wenig Information zur Schulbildung der Flüchtlinge gibt und viele ein niedrigeres Bildungsniveau haben als Gleichaltrige aus anderen Ländern. Er nimmt zudem an, dass etwa 10 Prozent der Flüchtlinge einen Hochschulabschluss haben, verglichen mit 18 Prozent der Personen ohne Migrationshintergrund in Deutschland. Die neusten Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die durch Selbstauskünfte gesammelt wurden und nicht repräsentativ sind, verweisen darauf, dass durchschnittlich 18 Prozent der Asylantragssteller 2015 einen Hochschulbesuch oder Studienabschluss hatten. Allerdings kann von diesen Zahlen nicht unmittelbar auf die formelle Anerkennung dieser Hochschulabschlüsse geschlossen werden.
Nach Europa kommen also Flüchtlinge, die ein Hochschulstudium in ihrem Herkunftsland zwar angefangen oder abgeschlossen haben, dies aber nur schwer belegen können. Für Arbeitgeber, Hochschulen und öffentliche Behörden ist es oft schwer herauszufinden, welche Qualifikationen Flüchtlinge mitbringen, die ihr Studium weiterführen oder Arbeit finden wollen. Wie kann man diese Qualifikationen feststellen, wenn Zeugnisse nicht ausreichend geprüft werden können, Hochschulen im Herkunftsland eingestellt wurden oder Dokumente auf der Flucht verloren gegangen sind? Für Aufnahme- und Asylländer ist dies besonders relevant, wenn es darum geht, wie Flüchtlingen bei der Integration geholfen werden kann. Flüchtlinge befinden sich in einer extraordinären Phase ihres Lebens, in der sie ihrer Qualifikationen aufgrund der Situation in ihrem Herkunftsland oft nicht mehr nachweisen können. Für die Integration und Weiterbildung sind eben diese Qualifikationen und ihre Anerkennung in Aufnahme- und Asylländern jedoch wichtig.
Gemäß dem Übereinkommen über die Anerkennung von Qualifikationen im Hochschulbereich (Lissabon-Konvention) ist die Ermittlung der Qualifikationen von Flüchtlingen Aufgabe staatlicher Institutionen. Artikel VII der Konvention besagt dass die Vertragsstaaten Anerkennungsverfahren einleiten sollen, um den Bildungsabschluss von „Flüchtlingen, Vertriebenen und Flüchtlingen gleich gestellten Personen“ zu ermitteln, mit denen des Asyllandes zu vergleichen und gegebenenfalls gleichzusetzen. Das Abkommen wurde 1997 auf Initiative des Europarats und der UNESCO geschlossen und wurde mittlerweile von 55 Staaten in Europa unterzeichnet und von 53 ratifiziert. Seitdem die Konvention 2007 in Deutschland in Kraft getreten ist, nehmen sich die einzelnen Hochschulen der Anerkennung von Hochschulbildung von Flüchtlingen an. In den meisten Ländern jedoch hat sich seit der Unterzeichnung vor 20 Jahren wenig getan.
Im Folgenden gehen wir am Beispiel Norwegens auf Entwicklungen und Herausforderungen bei der Umsetzung des Abkommens ein und plädieren aufgrund dieser Erfahrungen für eine gemeinsame europäische Herangehensweise.
Spezielles Anerkennungsverfahren für Personen ohne verifizierbare Dokumentation
Um den Verpflichtungen der Lissabon-Konvention nachzukommen, wurde in Norwegen ein Anerkennungsverfahren für Migranten und Flüchtlinge entwickelt, deren Urkunden und Zeugnisse nicht mehr verifizierbar sind. Seit zehn Jahren wird dieses Verfahren von Norwegian Agency for Quality Assurance in Education (NOKUT) in die Praxis umgesetzt, sodass es mittlerweile zu einem festetablierten Werkzeug im Integrationsprozess geworden ist. Antragsteller werden gebeten ausführliche Angaben zu ihrem Studieninhalt und -ablauf sowie eventuellen anderen erworbenen Fähigkeiten vorzulegen, die durch anschließende Interviews mit Fachkräften überprüft werden. Es wird daraufhin ein Qualifikationsnachweis ausgestellt, der die mangelnden Hochschulzeugnisse ergänzt oder die mittlerweile ungültigen Dokumente der betroffenen ausländischen Hochschulen ersetzt. Die Antragsteller müssen allerdings Norwegisch oder Englisch beherrschen sowie eine Aufenthaltsgenehmigung vorlegen, um am Verfahren teilnehmen zu können.
Dieses Verfahren für Personen ohne verifizierbare Dokumentation (kurz: UVD-Verfahren) war zunächst für Flüchtlinge vorgesehen, die langfristig in Norwegen leben und studieren oder arbeiten wollten. Mit dem Anstieg von Asylanträgen wurde jedoch eine andere Vorgehensweise erforderlich, um denen, die keine feste Aufenthaltsgenehmigung haben, Zugang zum Anerkennungsverfahren zu ermöglichen. Zudem sollten auch Flüchtlinge ohne ausreichende Sprachkenntnisse das Verfahren durchlaufen können und Informationen über ihr Bildungsniveau und Weiterbildungsmöglichkeiten erhalten. Im Februar 2016 hat NOKUT dementsprechend ein Pilotprojekt initiiert, um einen neuen Weg für die kosteneffektive Bestimmung der Qualifikationen von Flüchtlingen auszuprobieren: Der Qualifikationspass für Flüchtlinge bescheinigt betroffenen Personen durch ein Schnellverfahren ihren höchsten erreichten Bildungsabschluss, Sprachkenntnisse und eventuelle Arbeitserfahrung und gibt Auskunft über die nächsten möglichen Schritte in ihrer Weiterbildung.
Ein europaweites Vorhaben: Der Qualifikationspass für Flüchtlinge
Die Entwicklung eines Anerkennungssystems für Qualifikationen von Flüchtlingen ist aufgrund mangelnder Information über das Bildungsniveau des Antragstellers oft kostspielig und zeitintensiv für die einzelnen Behörden und Universitäten. Hinzu kommt, dass manche Flüchtlinge gegebenenfalls in ein anderes Land umziehen möchten oder werden, aber nicht wie andere Migranten einen Qualifikationsnachweis mit sich führen. In manchen europäischen Ländern haben nationale Behörden oder Hochschulen außerdem kaum Spielraum, das nationale Anerkennungsverfahren für ausländische Abschlüsse und Qualifikationen flexibel anzuwenden, um den Bestimmungen der Lissabon-Konvention nachkommen zu können. Ein europäisches Verfahren birgt das Potential nationale Verfahren zu komplementieren. Der hierbei notwendige Blick über die eigenen Landesgrenzen hinaus verspricht zudem neue Anregungen für eine effektive Integrationsförderung von Flüchtlingen im eigenen Land.
Um Flüchtlingen eine qualifizierte Vorbereitung auf und die Teilnahme am Arbeitsleben zu ermöglichen, schlägt NOKUT zusammen mit der britischen Schwesterorganisation (UK NARIC) vor, einen Europäischen Qualifikationspass für Flüchtlinge einzuführen. In Anlehnung an den Nansen-Pass für staatenlose Flüchtlinge und Emigranten von 1922 würde dieser neue Pass ein europäisches Rahmenwerk etablieren, das nicht nur die Qualifikationen von Flüchtlingen bewertet, sondern auch deren eventuelle Mobilität in Betracht zieht. Letztendlich dient die europaweite Zusammenarbeit in der Qualifikationsanerkennung der Integration von Flüchtlingen, die dadurch mobiler auf dem europäischen Arbeitsmarkt werden und Zugang zur Weiterbildung bekommen.
Im Zuge dessen wären folgende Maßnahmen zentral:
- Die Ernennung einer Koordinierungs- und Informationsstelle zuständig für das internationale Anerkennungsverfahren für Flüchtlinge, Vertriebene und Flüchtlingen gleich gestellte Personen;
- Die Einrichtung eines Schnellverfahrens für ein zentralisiertes Anerkennungsmodell, das die Auswertung von Qualifikationen beschleunigt, unabhängig davon in welchem europäischen Land Flüchtlinge als erstes aufgenommen werden. Es sollte eine Methode für Flüchtlinge mit einem vollständigen Bildungsportfolio und eine andere für Flüchtlinge ohne oder mit unzureichend verifizierbaren Dokumenten umfassen;
- Der Europäische Qualifikationspass für Flüchtlinge würde die notwendigen Informationen zum Bildungshintergrund enthalten und dadurch Universitäten, staatliche Behörden und Arbeitsgebern über die formalen und informalen Qualifikationen der Person unterrichten. Das Anerkennungsverfahren würde auf nationaler Ebene geschehen, von zuständigen Stellen durchgeführt werden und könnte den nationalen Kontaktpunkten für Anerkennung von ausländischer Bildung (z.B. ENIC-NARIC) oder Universitäten übertragen werden;
- Der Europäische Qualifikationspass für Flüchtlinge sollte nur für eine begrenzte Zeit gültig sein. NOKUT schlägt einen Zeitraum von drei Jahren vor, in dem Flüchtlinge das Anerkennungsverfahren in ihrem Aufenthaltsland nutzen können, um die regulären Verfahren für Anerkennung von ausländischen Hochschulabschlüssen in den Aufnahmeländern nicht zu belasten.
Eine der größten Herausforderungen ist ein Verfahren für den Qualifikationspass zu entwickeln, das kosteneffektiv ist und an die verschiedenen Situationen der Asylländer angepasst werden kann. Der Europäische Qualifikationspass für Flüchtlinge sollte daher flexibel gestaltet werden und zudem so wenig wie möglich die regulären Anerkennungsverfahren belasten, die sich ausreichend dokumentierten Bildungsabschlüssen und Qualifikationen annehmen. Informationen, die der Qualifikationspass umfasst, sollten außerdem in anderen europäischen Ländern gut verständlich sein, sodass weder Flüchtlinge noch nationale Anerkennungsstellen zusätzliche Bewertungsverfahren durchlaufen müssen.
Die Anerkennung von Qualifikationen von Flüchtlingen, Vertriebenen und Flüchtlingen gleich gestellten Personen, eingeschlossen derer ohne ausreichende Dokumentation, wird weiterhin eine wichtige Rolle in der täglichen Arbeit an Universitäten und Anerkennungsbehörden in Europa spielen. In dieser Weise wäre der Europäische Qualifikationspass ein europaweit koordiniertes Werkzeug, das den Integrationsprozess für Flüchtlinge, den Hochschulsektor und den Arbeitsmarkt dadurch erleichtert, dass er Informationen über den Bildungshintergrund, Sprachfähigkeiten und eventuell Arbeitserfahrung von Flüchtlingen gut verständlich vermittelt.
Aus dem Norwegischen übersetzt von Leonie Hertel.