Fluchtforschung gegen Mythen 9

Die migrationspolitische Debatte in Deutschland befindet sich seit vielen Monaten in einer Eskalationsspirale. Gewalttaten und Attentate von Asylsuchenden, aber auch Umfrageergebnisse, die die Unzufriedenheit der Bevölkerung in diesem Politikfeld einzufangen versuchen, verleiten Politiker:innen aller Parteien zu immer drastischeren Vorschlägen, wie das geltende Asyl- und Migrationsrecht eingeschränkt werden könnte. Der vorläufige Höhepunkt war der sogenannte Fünf-Punkte-Plan der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der am 29. Januar 2025 nur mit Hilfe der AfD-Fraktion eine Mehrheit im Parlament fand. Er sieht unter anderem dauerhafte Grenzkontrollen, Zurückweisung von Asylsuchenden und die Inhaftierung von Ausreisepflichtigen vor. Befeuert durch den Wahlkampf verschärft sich auch die Rhetorik, und sie wird zunehmend ungenau.

Im neunten Teil unserer Serie ‘Fluchtforschung gegen Mythen’ (hier Teil 1Teil 2Teil 3Teil 4Teil 5, Teil 6, Teil 7 und Teil 8) kommentieren primär Mitglieder des Netzwerks Fluchtforschung diese politischen Entwicklungen, um mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse Begriffe einzuordnen und Mythen aufzuklären.

 


Kommentare

Pullfaktor – von Dr.in Judith Kohlenberger

Vollzugsdefizit – von Prof. Dr. Dr. Maximilian Pichl

Ausreisepflicht – von Prof.in Dr.in Birgit Glorius

Ist das Gemeinsame Europäische Asylsystem „dysfunktional“? – von Dr. Bernd Parusel

Legal? Illegal? Nicht egal – von Prof.in Dr.in Petra Bendel

Flucht und Migration stoppen? – von Prof.in Dr.in Ulrike Krause

Die Illusion des Erfolgs performativer Politik – von Dr. Marcus Engler

„Verschärfung“ und „Härte“ in der Migrations- und Flüchtlingspolitik – von Dr. J. Olaf Kleist

Dauerhafte Grenzkontrollen? – von Dr. Bernd Kasparek

 

Im Bundestagswahlkampf haben der „Pullfaktor“ und damit verbundene Rufe nach „abschreckenden“ Maßnahmen zur Reduzierung der Ankunftszahlen wieder Hochkonjunktur. Dabei wird erstens übersehen, dass das Push-Pull-Modell des Demographen Everett S. Lee aus den 1960ern, auf welches aktuelle Debatten referenzieren, im Kontrast dazu auch Pushfaktoren identifizierte, wie etwa Krieg, Verfolgung, Armut und Arbeitslosigkeit im Herkunftsland. Nur im gegenseitigen Wechselspiel machen Push und Pull Sinn. Zweitens zeigen neuere Migrationsmodelle, dass eine rein statische und kontextunabhängige Bewertung von „anziehenden“ und „abstoßenden“ Faktoren der Komplexität von Migrationsentscheidungen nicht gerecht wird. Drittens blieb der empirische Nachweis, dass Lees ökonomisch motiviertes Modell zur Arbeitsmigration auf Formen der Zwangsmigration im Kontext von Krieg und Vertreibung umgelegt werden kann, bisher aus.

Die nichtsdestotrotz ungebrochene Popularität des Begriffs ist wohl seiner Simplizität und Suggestivität zuzuschreiben. Es erlaubt etwa, als „schuldige“ Pullfaktoren für hohe Asylzahlen die Sozialleistungen in Deutschland auszumachen, welchen man mit „Lösungsvorschlägen“ wie Bezahlkarte oder Senkung des Bürgergelds begegnen kann. Der auf europäischer Ebene voranschreitende Unterbietungswettbewerb in der Asylpolitik erfährt dadurch Legimitation, stellt er doch auf die Reduzierung der vermeintlichen „Sogwirkung“ menschenrechtskonformer Aufnahmebedingungen in Zielländern ab.

Der „Pullfaktor“ bietet somit eine willkommene Komplexitätsreduktion in Zeiten des wahrgenommenen und tatsächlichen Kontrollverlusts: An die Stelle der Multikausalität von Migrationsentscheidungen tritt die Annahme, dass das An- bzw. Ausknipsen eines einzigen Faktors (Sozialleistungen, Seenotrettung) zu Migrationsminimierung oder gar einem Migrationsstopp führe. Dahinter steht die Überzeugung, Migration sei zum größten Teil politisch steuerbar – eine These, die die Forschung widerlegt hat. Durch die Verengung auf einen einzigen Hebel wird nicht nur der Blick auf die Vielschichtigkeit von Migrationsgründen, sondern auch auf mögliche Handlungsansätze gegen Fluchtursachen im Herkunftsland, das Sterben an Europas Grenzen und politische Verantwortungsdiffusion verstellt.

 


Vollzugsdefizit

Prof. Dr. Dr. Maximilian Pichl

 

Nach der tödlichen Zweifachtat von Aschaffenburg beklagte Bundeskanzler Olaf Scholz ein „Vollzugsdefizit“ der bayerischen Behörden, weil der Täter nicht schnell genug in Haft gebracht und nicht abgeschoben wurde. Vollzugsdefizit meint die fehlende Umsetzung von Gesetzen in der Praxis. In der Asyl- und Migrationspolitik legen viele Politiker:innen jedoch einen einseitigen repressiven Fokus darauf, abgelehnte Asylsuchende konsequenter abzuschieben oder zu inhaftieren. Der Vollzug anderer Rechte wird hingegen nicht thematisiert. Im Falle von Aschaffenburg haben Psycholog:innen beispielsweise auf die unzureichende psychologische Versorgung von traumatisierten Geflüchteten hingewiesen; die Psychosozialen Zentren sprechen von einer großen Versorgungslücke. Dabei sehen Art. 19 und 22 der EU-Aufnahmerichtlinie vor, dass die besonderen Bedürfnisse von Asylsuchenden durch die Staaten festzustellen sind und ihnen eine angemessene medizinische Versorgung, auch in psychologischer Hinsicht, gewährt wird. Ein solches Aufnahmehilfesystem hat Deutschland nicht flächendeckend umgesetzt; dieses Unterlassen wird aber in der größeren Öffentlichkeit nicht als Vollzugsdefizit gerahmt.

Die Rede von einem „Vollzugsdefizit“ ist in einer längeren diskursiven Kontinuität zu verorten und wird auch als politischer Kampfbegriff in Abschiebedebatten verwendet. Schon Anfang der 2010er nutzte die Bund-Länder Arbeitsgruppe Rückführung diesen Begriff und kritisierte angeblich zu hohe Abschiebehindernisse. Die Debatte um Vollzugsdefizite ist zugleich ein Kampf um Zahlen. Gestritten wird über den Anteil derjenigen, die angeblich abgeschoben werden können. Das BSW spricht in seinem Wahlprogramm von 572.000 Menschen, die „schnell Deutschland verlassen sollen“ (S. 37). Mit dieser Zahl hantierte bereits 2016 der CDU-Politiker Thomas Strobl. Die Zahl bezieht sich jedoch auf alle einmal registrierten Asylsuchenden, deren Asylverfahren erfolglos war. Sie berücksichtigt nicht, dass ein Großteil dieser Personengruppe mittlerweile ein reguläres Aufenthaltsrecht in Deutschland hat und gar nicht abgeschoben werden kann. Oft wird auch die Zahl der vollziehbar Ausreisepflichtigen Personen angegeben; zum 31.12.2024 waren 220.808 Menschen ausreisepflichtig, aber 81 Prozent von ihnen hatte eine Duldung. Das heißt sie können z.B. aus medizinischen Gründen nicht abgeschoben werden.

Mit dem Schlagwort der „Vollzugsdefizite“ werden oft rechtsstaatliche Verfahrensweisen und menschenrechtliche Positionen infrage gestellt oder offensiv ausgehebelt. Dahinter steckt zugleich der Wunsch nach beschleunigten Verfahren, wie sie etwa Kanzlerkandidat Robert Habeck in seinem 10-Punkte-Plan fordert. Der Maßstab eines guten rechtsstaatlichen Verfahrens ist aber nicht die Schnelligkeit eines Verwaltungsvollzugs, sondern eine ordentliche Sachverhaltsaufklärung und eine verhältnismäßige Entscheidung im Einzelfall.

 


Ausreisepflicht

Prof.in Dr.in Birgit Glorius

 

Im 5-Punkte-Plan der CDU/CSU-Fraktion ist die Rede davon, dass „Personen, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, (…) nicht mehr auf freiem Fuß sein“ dürfen. Der Plan schlägt vor, diese Menschen „unmittelbar in Haft“ zu nehmen. Diese Formulierungen suggerieren einen Straftatbestand, der so gravierend ist, dass ein Haftgrund daraus konstruiert werden kann.

Doch sehen wir uns den Begriff der Ausreisepflicht einmal genauer an. Laut § 50 Aufenthaltsgesetz müssen Ausländer:innen das Staatsgebiet verlassen, wenn sie keine gültigen Aufenthaltspapiere besitzen. Ende 2024 waren rund 220.000 Menschen in Deutschland ausreisepflichtig. Darunter waren vor allem abgelehnte Asylsuchende, aber auch internationale Studierende, Arbeitsmigrant:innen oder Tourist:innen aus Drittstaaten, deren Aufenthaltstitel abgelaufen war. Ihnen wird eine Frist von bis zu 30 Tagen gesetzt, um das Land freiwillig zu verlassen. Tun sie dies nicht, sind sie „vollziehbar ausreisepflichtig“ und können damit theoretisch jederzeit abgeschoben werden. Da ein Großteil der vollziehbar ausreisepflichtigen Asylsuchenden jedoch aus persönlichen oder rechtlichen Gründen nicht abgeschoben werden kann, besitzen rund 80% von ihnen eine Duldung. Diese kann auch erteilt werden, wenn Asylsuchende einer Ausbildung oder Beschäftigung nachgehen. Die Zahl der vollziehbar Ausreisepflichtigen ging im vergangenen Jahr stark zurück, vor allem wegen dem neuen Chancenaufenthaltsrecht, das den Erwerb eines Aufenthaltstitels bei herausragenden Integrationsleistungen ermöglicht. Damit ist die Bereinigung der großen Zahl Ausreisepflichtiger durch konstruktive Regelungen effektiver und ressourcenschonender als die Abschiebung. Die Debatte um die Inhaftierung von Ausreisepflichtigen ist damit vor allem als eine diskursive Verschärfung mit wenig praktischer Konsequenz, aber unter Inkaufnahme zunehmender gesellschaftlicher Spannungen.

 


Ist das Gemeinsame Europäische Asylsystem „dysfunktional“?

Dr. Bernd Parusel

 

In der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz am 27. Januar 2025 mit den Worten zitiert, das europäische Asylrecht sei „dysfunktional“. Auch der Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion, der am 29. Januar im Deutschen Bundestag mit Stimmen der AfD eine Mehrheit fand, bezeichnet europäische Regelungen als „erkennbar dysfunktional“.

Die Wissenschaft hat sich ausführlich mit der Entwicklung des gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) befasst und in der Tat gravierende Defizite benannt (etwa hier oder hier). Häufig angesprochene Probleme sind, dass es für Schutzsuchende kaum sichere und legale Zugangswege in die EU gibt, was zu irregulären, oft lebensgefährlichen Einreiseversuchen führt. Trotz einheitlicher Regeln variieren die Asylentscheidungspraxis, aber auch Asylverfahren und Aufnahmebedingungen stark zwischen den Mitgliedstaaten, was „sekundäre“ Weiterwanderungen Asylsuchender innerhalb der EU begünstigt. Zudem hat sich die EU nicht auf ein System einigen können, das für eine ausgewogenere Verteilung Schutzsuchender innerhalb der EU sorgen würde und gleichzeitig aus Sicht der betroffenen Personen fair wäre.

Statt dieser Grundprobleme spricht die Politik jedoch häufiger an, dass die Außengrenzen der EU nicht hinreichend abgeriegelt seien, was Binnengrenzkontrollen notwendig mache, oder beklagt, dass Asylsuchende nicht in den Ersteinreiseländern blieben. Eine im vergangenen Jahr beschlossene Reform des GEAS enthält daher neue Vorschriften unter anderem zum „Screening“ irregulär einreisender Personen, beschleunigten Grenz-Asylverfahren sowie Sanktionen gegen Asylsuchende, die sich nicht an die Zuweisung an einen Mitgliedstaat halten. Bis Sommer 2026 sollen diese Regelungen umgesetzt sein. Sie ändern jedoch nichts am Grundproblem der fehlenden legalen Zugangswege, und hinsichtlich einheitlicherer Asylentscheidungen und einer besseren Verteilung dürfte es, wenn überhaupt, nur zaghafte Fortschritte geben.

Wer die „Dysfunktionalität“ des GEAS beheben will, sollte sich auf EU-Ebene für eine bestmögliche, menschenrechtskonforme Umsetzung der Reform von 2024 einsetzen. Unilateral Binnengrenzkontrollen wieder einzuführen und Personen dort widerrechtlich und ohne Zuständigkeitsprüfung zurückzuweisen, bevor die jüngste Reform überhaupt erst umgesetzt ist, höhlt das GEAS dagegen weiter aus, befeuert den Wettlauf der Mitgliedstaaten um die schlechtesten Asylstandards und unterwandert EU- und internationales Recht. Das GEAS krankt schon heute daran, dass Mitgliedstaaten Recht brechen (z.B. durch Pushbacks oder Behinderung der Seenotrettung). Wer Rechtsbruch normalisiert und eskaliert, Grundprobleme aber ignoriert, trägt nicht dazu bei, ein „dysfunktionales“ System funktionaler zu machen.

 


Legal? Illegal? Nicht egal

Prof.in Dr.in Petra Bendel

 

Im Wahlkampf ist vielfach die Rede von einer vorwiegend „irregulären“ oder „illegalen“ Migration nach Deutschland. Das ist aus verschiedenen Gründen zumindest eine Verkürzung der Tatsachen. Drei Fakten:

Erstens: Die Mehrheit der Zuwandernden kommt auf legalem Weg nach Deutschland, nämlich mit Visa oder schlicht, weil es in der EU Personenfreizügigkeit gibt. Die Wanderungsstatistik zeigt: 51% aller Zuzüge jährlich sind in der Regel EU-Bürgerinnen und -bürger; allein 2022 waren mit 1,1 Mio. die ukrainischen Kriegsflüchtlinge anteilig in der Mehrheit. Sie reisten vollkommen legal ein. 2023 kamen nur noch 276.000.

Zweitens: Ein weiterer Grund für den Zuzug nach Deutschland liegt in Asylgesuchen mit 2023 329.120 Personen. Hier liegt seit Jahren ungebrochen die Zuwanderung aus Syrien und Afghanistan vorn (neuerdings mit der Türkei auf Platz 2). Die Rede von der irregulären oder illegalen Zuwanderung ignoriert also, dass die große Mehrheit der zu uns gekommenen Schutzsuchenden aktuell und schon seit Jahren aus Verfolgerstaaten kommt, für die es fast keine „legale“ Möglichkeit der Zuwanderung gibt – von sehr geringen Zugangsmöglichkeiten für besonders verletzliche Personen einmal abgesehen (z.B. Resettlement-Programme).

Drittens: Tatsächlich unerlaubt waren 2022 91.986 Personen und 2023 127.549 Personen aufgegriffen worden; selbstverständlich wird ein Teil nicht entdeckt, so dass die tatsächliche Zahl höher liegen dürfte. Der Anstieg lässt sich auch durch die erhöhten Grenzkontrollen und entsprechend höhere Aufgriffszahlen erklären. Jedoch ist die Mehrheit von Migrantinnen und Migranten ohne eine gültige Aufenthaltserlaubnis nicht etwa illegal eingereist, sondern nach Ablauf ihrer Visa nicht ausgereist – sogenannte overstayers. Untersuchungen zeigen, dass solche Zahlen nicht zunehmen, sondern relativ stabil sind oder auch wieder abnehmen. „Die Medien berichten zwar gern über Schübe der illegalen Zuwanderung, doch über den Rückgang nach einem solchen Schub berichten sie nicht mehr – ein weiterer Grund, warum wir den Eindruck gewinnen, dass die illegale Migration außer Kontrolle gerät“ (siehe S. 53f).

 


Flucht und Migration stoppen?

Prof.in Dr.in Ulrike Krause

 

Im Wahlkampf zur Bundestagswahl dominiert das Thema Flucht und Migration. Anstatt über Schutz- und Integrationskonzepte zu sprechen, steht aktuell die Idee der Begrenzung und sogar Verhinderung von Migration und Zuflucht im Mittelpunkt. Dafür greifen einige Politiker:innen auf Gefahrennarrative zurück, stellen Geflüchtete pauschal als Bedrohung und Belastung dar und fordern restriktive Maßnahmen, die angeblich zur Wahrung nationaler Sicherheit, wirtschaftlicher Stärke und kultureller Identität dienen sollen. Rechtsnormen, Menschenwürde und humanitäre Verantwortungen rücken in den Hintergrund.

Doch lassen sich Flucht und Migration einfach stoppen? In Kürze: Nein, das geht nicht. Menschliche Bewegungen gehören zur Menschheitsgeschichte – es gab sie immer und wird sie immer geben. Staaten können zwar Migration in gewissem Umfang durch Einwanderungsregelungen (z.B. Visa) einschränken, allerdings gestaltet sich die Situation bei Asylsuchenden anders. Ihr Schutz ist völkerrechtlich, EU-rechtlich und auch bundesrechtlich geregelt. In der EU schreibt etwa die Dublin-III-Verordnung vor, dass jedes Asylgesuch geprüft werden muss. Auch bei Einreise aus einem anderen EU-Mitgliedstaat muss geprüft werden, ob Deutschland zuständig ist und falls nicht, welches Land Verantwortung trägt.

Eine Zurückweisung ohne Prüfung widerspricht zudem internationalem Recht. Maßgeblich ist hier die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 in der Fassung des Protokolls von 1967. Artikel 33 zum Verbot der Ausweisung und Zurückweisung (Non-Refoulement) untersagt es, eine Person in ein Land zurückzuschicken, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht ist. Diese Bestimmung gilt als „Mindeststandard und das Herzstück des völkerrechtlichen Flüchtlingsschutzes“ (S. 764).

Auch faktisch lassen sich Flucht und Migration nicht einfach stoppen. Besonders wenn Menschen aufgrund gewaltsamer Konflikte, Verfolgung oder existenzieller Not ihre Herkunftsregionen verlassen, suchen sie anderenorts nach Schutz und Sicherheit, um zu überleben. Verschärfte Kontroll-, Abschottungs- und Externalisierungspolitiken können ihre Bewegungen nicht verhindern, sondern drängen sie auf noch gefährlichere Routen und setzen sie zusätzlichen Risiken aus.

Neben den rechtlichen und humanitären Verpflichtungen muss auch gefragt werden, ob die Idee, Flucht und Migration stoppen zu wollen, überhaupt sinnvoll ist. Aus wirtschaftlicher Sicht nein. Laut Analysen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) benötigt Deutschland nicht weniger, sondern mehr Zuwanderung. Jährlich sind etwa 400.000 zugewanderte Fach- und Arbeitskräfte erforderlich, um den zunehmenden Mangel auszugleichen.

Statt durch populistische Rhetorik und rechtswidrige Vorschläge Sachverhalte zu verzerren, Ängste zu schüren und gesellschaftliche Spannungen zu produzieren, bedarf es einer Rückkehr zu konstruktiven und evidenzbasierten Debatten über eine menschenrechtskonforme Politik, die die komplexen Zusammenhänge erfasst.

 


Die Illusion des Erfolgs performativer Politik

Dr. Marcus Engler

 

Parteien der politischen Mitte wollen den Einfluss rechtsextremer Parteien dadurch reduzieren, dass sie das Thema Migration „lösen“. Mit restriktiven Steuerungsmaßnahmen sollen irreguläre Migration verhindert und Probleme, die in den Zusammenhang mit Migration gebracht werden (Gewalttaten, Überlastung der Aufnahmestruktur und der sozialen Sicherungssysteme), beendet werden. Wenn Migrationsbewegungen einmal „unter Kontrolle“ sind, würde das Thema bei Wahlen keine zentrale Rolle mehr spielen, lautet die Annahme. Zudem würden Wähler:innen auch durch die Übernahme von Kontroll- und Sicherheitsnarrativen davon abgehalten, rechte Parteien zu wählen. Mit Blick auf die jüngere Vergangenheit in Deutschland lässt sich der Erfolg einer solchen Strategie nicht belegen. Unter der Ampel-Regierung wurden erhebliche Restriktionen beschlossen (Kürzung von Sozialleistungen, Grenzkontrollen, Bezahlkarte, Verschärfung von Abschiebegesetzen, GEAS-Reform). Die größte Oppositionspartei hat ihre asylpolitische Programmatik unter Parteichef Merz (CDU) so weit nach rechts verschoben, dass eine inhaltliche Unterscheidung von der AfD kaum noch möglich ist (Zurückweisungen, Abschaffung des individuellen Asylrechts etc.). Dennoch zeigen Wahlumfragen Rekordwerte für die AfD. Studien kommen für andere Länder zu ähnlichen Befunden. Bei vielen der beschlossenen Maßnahmen handelt es sich um performative Politik mit der v.a. Handlungsfähigkeit demonstriert werden soll. Eine evidenzbasierte Wirkungsanalyse findet weder im Gesetzgebungsverfahren noch nach Implementierung statt. Die Einhegungsstrategie der Mitte-Parteien trägt unter dem Strich dazu bei, dass das Thema dauerhaft weit oben auf der politischen Agenda bleibt und stärkt Narrative, die Flucht und Migration einseitig problematisieren. Zugleich wird suggeriert, dass Flucht- und Migrationsbewegungen vollständig kontrollierbar sind. In der Folge erscheinen immer weitere Restriktionen notwendig.

 


„Verschärfung“ und „Härte“ in der Migrations- und Flüchtlingspolitik

Dr. J. Olaf Kleist

 

Als „Härte“ oder „Verschärfung“ der Asyl- oder Migrationspolitik werden Einschränkungen der Rechte von Migrant:innen zur Reduzierung von Asylanträgen und zur Erhöhung von Abschiebezahlen bezeichnet. So leitete Der Spiegel ein Interview mit dem Bundeskanzler so ein: „Die neue Härte des Kanzlers: Olaf Scholz macht die irreguläre Migration zur Chefsache und erklärt, wie er die Zahl der Flüchtlinge reduzieren will.“ Von der Sinnhaftigkeit der Zielsetzung abgesehen, impliziert dieses politische Narrativ eine unrealistische Polarisierung: Migrationspolitik läge auf einem Spektrum zwischen weich und hart, zwischen stumpf und scharf.

Migration aber ist ein komplexer sozialer Zusammenhang, geprägt durch mannigfaltige Ziel- und Interessenskonflikte, die in einem linearen Spektrum nicht abgebildet werden. Jedes Eingreifen hat viele nicht-intendierte Konsequenzen und Reaktionen zur Folge – nicht nur in Bezug auf Migration, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Will man etwa Sicherheitspolitik durch Migrationspolitik gestalten, so kann dies Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Gesundheitspolitik haben und birgt unter Umständen selbst neue Herausforderungen für Sicherheitsfragen. Migrationspolitische Maßnahmen sind also nicht „hart“ oder „weich“, sondern das Eingreifen in ein komplexes System, das verstanden werden muss.

Die Beschreibung von Migrationspolitik als „hart“ oder „Verschärfung“ ist zudem nicht nur unterkomplex, sondern auch tendenziös. Denn Alternativen zur Einschränkung von Migrations- und Flüchtlingsrechten müssen in logischer Umkehr als „stumpfe“ oder „weiche“ Politik erscheinen. Allein Zweifel an selbst radikalen Forderungen und Vorgehen scheinen  damit den postulierten Grund der Verschärfung nicht ernst zu nehmen. Hinweise auf die Komplexität und Implikationen von Maßnahmen – ob aus Wissenschaftler, Politik oder Zivilgesellschaft – gelten als Verhinderung einer handlungsfähigen Politik.

Um dem Vorwurf zu entgehen, (vermeintliche) Probleme der Migrationspolitik zu ignorieren, unterstützen selbst skeptische Politiker:innen, Expert:innen und Medienvertreter:innen auch radikale Migrationspolitik, die als Verschärfung und als hart erscheint – selbst wenn es Grundrechte, den Rechtsstaat und Demokratie unterminiert. Dieser Irrtum einer Polarität der Migrationspolitik führt letztlich zu dem, was Judith Kohlenberger unlängst als zwischenmenschliche und gesamtgesellschaftliche Verhärtung beschrieben hat.

Wer hingegen Migrationspolitik gestalten oder darüber berichten möchte, zumal auch um Missstände zu adressieren, muss die Komplexität des Themas anerkennen und verstehen, um Raum für Sachpolitik zu öffnen. Am Maßstab von Härte und Verschärfung lässt sich Migrationspolitik nicht sinnvoll messen oder demokratisch verhandeln, vielmehr wird Politik so in eine dysfunktionale und autoritäre Richtung gelenkt.

 


Dauerhafte Grenzkontrollen?

Dr. Bernd Kasparek

 

Am 29. Januar 2025 wurde der Entschließungsantrag der Fraktion CDU/CSU mit Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, FDP und AfD verabschiedet. In diesem 5-Punkte-Plan ist die Forderung enthalten: „1. Dauerhafte Grenzkontrollen: Die deutschen Staatsgrenzen zu allen Nachbarstaaten müssen dauerhaft kontrolliert werden.“ Eine solche Wiedereinführung von Kontrollen an den deutschen Grenzen auf Dauer widerspricht dem Geiste Schengens, verstößt gegen EU-Recht und hätte erhebliche Konsequenzen für die Reisefreiheit aller und das Zusammenleben in Europa.

Die Schengener Abkommen zwischen Frankreich, Deutschland und den Benelux-Staaten von 1985 und 1990 führten zur Abschaffung von systematischen Kontrollen an Binnengrenzen in Europa und verlagerten die Kontrollen an die Außengrenzen. Mit dem Inkrafttreten 1995 wurde so eine lang angestrebte Freiheit in Europa hergestellt: Die Bewegungsfreiheit unabhängig von Herkunft.

Die Umsetzung innerhalb von zehn Jahren überzeugte die Europäische Union (EU), sich 1997 dem Schengener Prozess anzuschließen. Mit dem Vertrag von Amsterdam von 1997 wurden die Schengener Abkommen in EU-Recht überführt. Im weiteren Verlauf entwickelte die EU daraus gemeinsame Grenz-, Migrations- und Asylpolitiken wie etwa das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Eine koordinierte Politik sollte die nationalen Alleingänge der Vergangenheit beenden und internationalem Recht zur Geltung verhelfen.

Dauerhafte Grenzkontrollen stehen somit nicht nur im Widerspruch zum Geiste Schengens, sondern auch zum EU-Recht. Zentral ist hier der Schengener Grenzkodex, der 2006 erstmals verabschiedet  und 2016 überarbeitet wurde. Artikel 1 hält fest, “dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Union überschreiten.” Der Schengener Grenzkodex erlaubt zwar, dass unter bestimmen Umständen vorübergehende Binnengrenzkontrollen durchgeführt werden. Diese sind jedoch auf insgesamt 18 Monate befristet und müssen durch eine konkrete Gefahrenlage begründet werden. Dauerhafte Grenzkontrollen sind folglich nicht möglich.

Die Forderung nach dauerhaften Grenzkontrollen ist gleichbedeutend mit dem Ende Schengens. Ihre Umsetzung würde einen schweren Rückschritt im Prozess der europäischen Einigung bedeuten und den Verlust einer konkreten Freiheit nach sich ziehen. Der Wegfall des Schengener Grundkonsenses einer vertrauensvolle Koordinierung von Grenz- und Migrationspolitiken in Europa läuft zudem Gefahr, eine erneute Ära eines migrationspolitischen Chaos’ einzuläuten.

 


Redaktion: Prof.in Dr.in Birgit Glorius und Prof.in Dr.in Ulrike Krause

 

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