Migration, Solidarität und die Corona-Krise – Ein Spannungsverhältnis

 

Von Christin Younso und Franziska Ziegler

 

Die Covid-19-Pandemie lässt aktuell den Ruf nach Solidarität wieder einmal besonders laut erklingen; in zahlreichen Aktionen der Zivilgesellschaft und Maßnahmen der Politik wird er zudem sichtbar in die Tat umgesetzt. Gleichzeitig lassen sich jedoch im Regelungsbereich von Migrationspolitik Auswirkungen der Corona-Krise beobachten, die nur schwerlich mit Solidarität vereinbar sind. In diesem Beitrag setzen wir uns zunächst grundsätzlich mit dem Begriff der Solidarität auseinander, bevor wir anhand von Unterbringung, Seenotrettung und Aufnahme von Geflüchteten exemplarisch die Anwendungsunterschiede von Solidarität auf unterschiedliche Personen (-gruppen) aufzeigen. Angesichts der aktuell allgegenwärtigen Solidaritätsbekundungen führt die Krise in aller Deutlichkeit vor, dass Solidarität in der unmittelbaren Nachbarschaft anders gelebt wird als mit Geflüchteten.

 

Die Bundeskanzlerin tat es; der Bundespräsident auch. Und auch der Papst vergaß es bei seiner diesjährigen Osterbotschaft im leeren Petersdom nicht: sie alle appellierten an die Solidarität mit den Mitmenschen. Derweil sind zahlreiche Aktionen in ganz Deutschland und der Welt aus dem Boden geschossen: schnell gab es Spendenzäune für Bedürftige und Nachbarschaftshilfen für Risikogruppen und Menschen in Quarantäne. Für Bars, Cafés und andere „Lieblingsorte“ wurden Gutscheinaktionen gestartet, für medizinisches Personal kostenlose Fahrdienste, und für Kinder im Home-Schooling digitale Gratissportstunden, um nur einige wenige der zahlreichen Initiativen zu nennen. Diese Aktionen beschwören häufig den gesellschaftlichen Zusammenhalt, ein „Wir-Gefühl“ in Zeiten, in denen Ausgangsbeschränkungen und Quarantänemaßnahmen physischen Abstand gebieten. Und sie verstehen sich als Zeichen der Solidarität.

Die Aufforderung zur Solidarität ist an sich nicht neu. Im vergangenen Jahrzehnt war in regelmäßigen Abständen in der öffentlichen Debatte von Solidarität – oder vielmehr von ihrer Abwesenheit – die Rede, insbesondere dann, wenn sich die politische Öffentlichkeit auf eine Krise zusteuern sah oder sich bereits in einer wähnte. Man erinnere sich nur an die viel diskutierte Eurokrise oder die als „Flüchtlingskrise“ geführte Debatte um die Aufnahme von Schutzsuchenden. Und so bringt auch die aktuelle „Krise“ ein zentrales Spannungsfeld hervor: Sie zeigt in aller Deutlichkeit, dass Chancengleichheit und gleichwertige Lebensverhältnisse auch in Deutschland lediglich eine Vision sind und das „Zurücklassen“ von Einzelnen aber auch von ganzen „Gruppen“ zur Realität gehört. Dies gilt für zahlreiche vulnerable Menschen, unter anderem für geflüchtete Menschen. Solidarität, das ist in der Krise nicht mehr zu übersehen, wird in der unmittelbaren Nachbarschaft anders gelebt als mit Geflüchteten.

 

Was bedeutet eigentlich Solidarität?

Trotz der geläufigen Verwendung bleibt dies auch in der Corona-Debatte weitgehend offen. Vielleicht auch aus diesem Grund hat sowohl die Süddeutsche Zeitung als auch die taz kürzlich ihre Leser*innen befragt, was für sie Solidarität in Zeiten von Corona bedeutet. Und auch DIE ZEIT scheint noch auf der Suche und titelt in ihrer Ausgabe vom 23. April fragend: Was heißt das: Solidarität? Semantisch hat Solidarität ihren Ursprung bereits im römischen Recht. Nach dem Prinzip obligatio in solidum konnte jedes Mitglied einer Gemeinschaft für die Schulden einzelner Gruppenmitglieder mit verantwortlich gemacht werden. Trotz der altrömischen Wurzeln ist sich die Literatur aber recht einig darüber, dass Solidarität – wenn es um die Beschreibung sozialer Zusammenhänge geht – ein modernes Anliegen kennzeichnet, das erst nach der Französischen Revolution an Form und Inhalt gewann. Drei europäische Denkschulen prägten dabei laut Andrea Sangiovanni (2015) die Entwicklung des Solidaritätsbegriffs im 19. Jahrhundert: der Sozialismus, die christliche Soziallehre und der liberale Nationalismus. Sie präsentieren allesamt Gründe dafür, warum Menschen sich solidarisch mit ihren Mitmenschen verhalten (sollen). In gegenwärtigen Gesellschaften sind die Ursachen für Solidarität jedoch vielfältig und lassen sich nur schwer auf einzelne Denkschulen zurückführen. Vielmehr lässt sich Solidarität auf einer Vielzahl von geteilten Zielen, Interessen, Werten oder Identitäten begründen.

In der Literatur wird zwischen Subjekten und Objekten von Solidarität, zwischen Geber*innen und Nehmer*innen, unterschieden. Das Verhältnis der beiden zueinander wird regelmäßig durch eine Unterscheidung zwischen „solidarity among“ und „solidarity with“ beschrieben, die so als erstes von Onora O’Neill (1996) verwendet wurde. Ersteres bezeichnet Solidaritätsbeziehungen zwischen Mitgliedern der gleichen Gruppe, die zur gegenseitigen Hilfe verpflichten. Zwischen den Geber*innen und Nehmer*innen von Solidarität liegt eine gewisse Abhängigkeit vor; die Beziehung könnte sich jederzeit umdrehen. Ein Beispiel für eine solche Solidaritätsbeziehung liegt etwa in der Begründung des Wohlfahrtsstaates. Letzteres, „solidarity with“, bezeichnet lockerere Solidaritätsbeziehungen, die einen Ansporn, jedoch keine Verpflichtung zur Hilfe erzeugen. Hier wird Solidarität mit einer „entfernten“ Person oder Gruppe geübt. Die Erwartung, dass Solidarität zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Zukunft erwidert wird, ist bei dieser zweiten Kategorie viel geringer. Unterstützung wird stattdessen aufgrund von Idealen oder kurzfristigen Zielen angeboten.

In Anlehnung an diese Überlegungen machen wir in Zeiten von Corona in besonderem Maße die Beobachtung, dass Solidaritätsbeziehungen der zweiten Kategorie („solidarity with“), Solidaritätsbeziehungen der ersten Kategorie („solidarity among“) zum Opfer fallen. Im Regelungsbereich von Migrationspolitik fordern zwar insbesondere zivilgesellschaftliche Akteur*innen Solidarität von politischen Entscheidungsträger*innen mit Geflüchteten ein, die politische Ebene tritt derzeit jedoch nur sehr begrenzt als Geberin von Solidarität auf. Anhand von drei Beispielen – der Unterbringungssituation, der Seenotrettung und der Aufnahme von Geflüchteten – lässt sich sowohl auf nationalstaatlicher Ebene als auch auf der europäischen Ebene sehr gut beobachten, dass Solidarität in der Corona-Krise auf politischer Ebene umso schwerer zu fallen scheint, wenn die adressierte Nehmer*in von Solidarität offensichtlich nicht als Teil der eigenen „Bezugsgruppe“ wahrgenommen wird.

 

Die Unterbringungssituation von Geflüchteten

Unter dem Slogan „Wer sich schützt, schützt alle“ schwört die Bundesregierung die Bevölkerung auf gegenseitige Rücksichtnahme und Unterstützung im Kampf gegen das Virus ein. In diesem Zusammenhang wurden Schutzstandards für zahlreiche Bereiche des öffentlichen Lebens entwickelt. So veröffentlichte beispielsweise das Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu Beginn der Pandemie einen „SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard“, der unter anderem spezifische Regelungen für Sammelunterkünfte für  Arbeiter*innen vorsieht: so soll eine Einzelzimmerbelegung gewährleistet und weitere Hygienemaßnahmen in Sanitär-, Küchen- und Gemeinschaftsbereichen durchgeführt werden. Mittlerweile weiß man, dass diese Standards nicht überall umgesetzt wurden, wie die Lebensumstände der Mitarbeiter*innen in der Fleischindustrie zeigen. Blickt man auf den Unterbringungskontext und die Sammelunterkünfte in denen Geflüchtete leben müssen, zeigt sich, dass Gesundheitsschutz für diese Unterkünfte von Beginn an nicht in gleicher Weise geplant wurde.  Nun haben sich im Zuge der Corona-Krise die sowieso schon problematischen Lebensumstände dort noch einmal verschärft, dies zeigen die zahlreichen Corona-Fälle in Sammelunterkünften. Der niedersächsische Flüchtlingsrat fordert die Anpassung der Lebensverhältnisse in den Unterkünften an den Gesundheitsschutz, das heißt unter anderem die Entzerrung der Belegungsdichte, der besondere Schutz von Risikogruppen und Familien, sowie der vereinfachte Zugang zu Gesundheitsleitungen. Die politischen Verantwortlichen verfolgen hingegen mitunter eine weniger konsequente Umsetzung: Der Flüchtlingsrat Bremen stellte aufgrund der Missachtung von Corona-Verfügungen Strafanzeige gegen das Land Bremen. Die zuständige Staatsanwaltschaft wies dies zurück mit der Begründung, dass es sich bei der Unterkunft mit mehr als 300 Personen um einen Haushalt handeln würde. Und so kommt es, dass bundesweit Quarantänemaßnahmen über ganze Unterkünfte mit hunderten von Menschen verhängt werden.  In Sachsen und Nordrhein-Westfalen konnten sich immerhin einige geflüchtete Menschen durch ein Gerichtsurteil (Verwaltungsgericht Leipzig, Verwaltungsgericht Dresden, Verwaltungsgericht Münster) von der Pflicht zur Wohnsitznahme in einer Sammelunterkunft, zum Schutz ihrer Gesundheit, befreien lassen.

 

Seenotrettung und Aufnahme von Geflüchteten

Ähnlich kontrovers verhält es sich auch mit Blick auf die europäische Ebene. Das Solidaritätsprinzip ist zwar in den Verträgen der Europäischen Union verankert (insbes. Art. 2 EUV), bezieht sich aber vornehmlich auf das Verhältnis zwischen den Mitgliedsstaaten. Auch sind primärrechtliche Regelungen im Bereich der Migrationspolitik auf Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gemünzt (siehe Art. 67(2) AEUV; Art. 80 AEUV), nicht jedoch auf Solidarität zwischen oder mit Individuen.

Die EU scheint derzeit bemüht, gelebte Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu betonen: welche Mitgliedstaaten sind besonders aktiv bei der Behandlung von Patient*innen aus dem europäischen Ausland, welche haben Bürger*innen anderer EU-Staaten aus dem außereuropäischen Ausland zurück geholt. Der ursprünglich für Hilfen bei Naturkatastrophen ausgelegte Europäische Solidaritätsfonds, wurde zum 1. April 2020 auch für Maßnahmen gegen das Corona-Virus geöffnet und hat mit Italien einen ersten Antragsteller. Ende April wurde dann nach einigem Hin und Her um eine mögliche Vergemeinschaftung von Schulden, als Ausdruck europäischer Solidarität zwar keine Corona-Bonds, jedoch ein Hilfspaket über eine halbe Billion Euro beschlossen.

Anders sieht es im Themenfeld von Migration und Flucht aus. Hier ringen nun bereits seit mehreren Jahren zwei wesentliche Brennpunkte um die Aufmerksamkeit von Zivilgesellschaft und europäischer Politik. Zum einen sind dies die Fluchtrouten über das Mittelmeer nach Europa, welche auch in diesem Frühjahr 2020 von geflüchteten Menschen genutzt werden [müssen]; zum anderen ist dies die Frage nach der Verteilung der Geflüchteten innerhalb der Europäischen Union. Besonders im direkten Vergleich zu der aktuell anderweitig geforderten bzw. gelebten Solidarität zwischen europäischen Mitgliedstaaten erscheint deren „Nichthandeln“ gegenüber Geflüchteten in beiden Fällen befremdlich. Es verdeutlicht einmal mehr, dass die Situation auf den Fluchtrouten die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten nicht dazu veranlasst, sich als Geberinnen von Solidarität zu zeigen.

Die Seenotrettung im Mittelmeer ist seit Jahren ein Streitthema in Europa. Die sowieso schon lebensbedrohliche Überfahrt wird für Migrant*innen aufgrund aktueller Entwicklungen noch unsicherer. Mit Begründung der Corona-Pandemie haben die europäischen Staaten Italien und Malta die Seenotrettungen in ihren Rettungszonen eingestellt. Zusätzlich erschweren die italienischen Behörden die zivile Seenotrettung: Das deutsche zivile Seenotrettungsschiff „Alan Kurdi“ suchte über Ostern zwölf Tage nach einem sicheren Hafen für die 146 aus Seenot geretteten Geflüchteten. Von politischer Ebene kam dazu jedoch in Gestalt des Bundesinnenministeriums ein Signal, welches privaten Seenotretter*innen de facto die Unterstützung entzog. In einem Schreiben vom 6. April 2020 wurden sie gebeten, aufgrund fehlender Ausschiffungshäfen, zivile Rettungsaktionen einzustellen. Die „Alan Kurdi“ liegt nun seit dem 6. Mai 2020 im Hafen von Palermo und wird von italienischen Behörden, offiziell aufgrund von Sicherheitsmängeln, am Auslaufen gehindert. Zukünftige Seenotrettungseinsätze bleiben nach Angaben des Vereins Sea-Eye auch aufgrund von finanziellen Engpässen weiterhin wage. Denn den zivilgesellschaftlichen Seenotretter*innen gehen in der Corona-Krise die Spenden aus.

Auch der zweite Brennpunkt, der seit Jahren andauernden Diskussion um die Verteilung der Geflüchteten in Europa, wiegt in der Krise besonders schwer. In den überfüllten Flüchtlingslagern an der europäischen Außengrenze, insbesondere auf den griechischen Inseln, wohnen zehntausende Menschen unter teils katastrophalen hygienischen Bedingungen. Ein großflächiger Ausbruch von Covid-19 hätte hier dramatische Folgen. Einzelne Personen konnten mit der Unterstützung von NGOs eine Überstellung aus den Lagern auf den griechischen Inseln aufs Festland unter Berufung auf die Europäische Menschenrechtskonvention erwirken. Doch nicht nur besonders vulnerable Personen sind gefährdet. Zivilgesellschaftliche Initiativen, wie etwa #LeaveNoOneBehind, forderten daher seit Wochen mittels verschiedenster Protestaktionen die Evakuierung Geflüchteter. Nach Verzögerungen erfolgte im April die Aufnahme von 47 geflüchteten Kindern und Jugendlichen aus dem Camp Moria nach Deutschland und zuvor von 12 weiteren nach Luxemburg. Ob in naher Zukunft auch besonders vulnerable Kinder, die zudem ohne Chance auf eine Familienzusammenführung sind oder mit ihren Familien in den Camps leben, von der Bundesregierung für eine Aufnahme nach Deutschland berücksichtigt werden, bleibt unklar.  Auch ist bisher offen, zu wann die temporär ausgesetzten Resettlement- und HAP-Aufnahmen wieder anlaufen. Zwei Rechtsgutachten (i.A. von MdEP Erik Marquardt und von Helene Heuser i.A. der Rosa-Luxemburg-Stiftung) im Rücken, versuchen die Befürworter*innen kommunaler Aufnahme von Geflüchteten, wie etwa in Berlin und Thüringen eine direkte Aufnahme Schutzsuchender zu erreichen.

 

Das Dilemma mit der Solidarität: Geben und Nehmen

Die hier angeführten Beispiele hinsichtlich der Unterbringungssituation, Seenotrettung und Aufnahme von Geflüchteten zeigen exemplarisch, dass das Feld von Migrations- und Flüchtlingspolitik zurzeit offensichtlich keines ist, in dem europäische Regierungen als Geberinnen von Solidarität auftreten, auch wenn sie sich in vielen anderen Kontexten auf Solidarität berufen. Darüber hinaus gibt es weitere zahlreiche Beispiele, die eine ähnliche Handlungslogik verdeutlichen. Für die politische Ebene eignet sich die Situation geflüchteter Menschen offensichtlich nicht auf die gleiche Weise wie die anderer Personen (-gruppen), um Solidarität zu stimulieren. Die Covid-19 Pandemie offenbart, dass sowohl auf nationalstaatlicher Ebene, als auch auf der europäischen Ebene Solidarität in der Migrationspolitik schwer zu fallen scheint. Im Zweifel entscheiden sich Regierungen für „solidarity among“; „solidarity with“ wird spätestens jetzt der Krise geopfert.

So bleibt als Geberin von Solidarität für Geflüchtete oftmals nur die Zivilgesellschaft übrig. Dass die Politik jedoch sehr wohl in der Lage ist, bspw. im Aufenthaltsrecht schnell zu agieren, wenn politisch erwünscht, zeigen die Beispiele der befristeten Lockerung des Arbeitsverbots für Asylbewerber*innen als Erntehelfer*innen. Die Bundesagentur für Arbeit ersteilte diese ab April 2020, als aufgrund der Reiseeinschränkungen unklar war, ob genügend Arbeitskräfte für die diesjährige Ernte in Deutschland zur Verfügung standen. Einen Akt der Solidarität stellt diese Entscheidung von Seiten der Bundesregierung jedoch wohl kaum dar. Wohl eher eine Einladung für Geflüchtete, selbst solidarisch zu handeln, d.h. als Geber*innen von Solidarität in der Gesellschaft aufzutreten. Ein „solidarity among“, das nicht von der Regierung, sondern den Geflüchteten selbst ausgeht. Die Ironie von Corona.

 

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